Sozialer Aufstieg ist praktische Chancengerechtigkeit. Welchen Sinn soll Chancengerechtigkeit sonst haben, wenn nicht diesen: die Zufälle der sozialen Herkunft nicht zum ausschlaggebenden Faktor für die Biographie eines Menschen werden zu lassen, sondern allen die Möglichkeit zu geben, aus eigener Kraft vorwärts zu kommen? -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Bildung und Wissenschaft.
Sozialer Aufstieg ist praktische Chancengerechtigkeit. Welchen Sinn soll Chancengerechtigkeit sonst haben, wenn nicht diesen: die Zufälle der sozialen Herkunft nicht zum ausschlaggebenden Faktor für die Biographie eines Menschen werden zu lassen, sondern allen die Möglichkeit zu geben, aus eigener Kraft vorwärts zu kommen? Nirgendwo ist diese Idee so in die Aspirationen der Gesellschaft eingedrungen wie in den USA. Tatsächlich hat die amerikanische Einwanderungsgesellschaft über viele Jahrzehnte als sozialer Fahrstuhl funktioniert, der es Abermillionen Menschen ermöglichte, durch Bildung und harte Arbeit in die Mittel- und Oberschicht aufzusteigen. Allerdings hat die soziale Aufwärtsmobilität in den USA seit den 90er Jahren stark abgenommen; die amerikanische Gesellschaft ist heute eine sozial segmentierte Gesellschaft mit schwer durchdringlichen Barrieren, auch wenn sie noch immer märchenhafte Erfolgsgeschichten von Einwanderern und Pionierunternehmern produziert. Symptome dieser Entwicklung sind die Verfestigung generationsübergreifender Armut, die wachsende Polarisierung der Einkommen und der Niedergang der öffentlichen Einrichtungen, insbesondere des allgemeinen Schulwesens.

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Der „amerikanische Traum“ von Freiheit und sozialem Aufstieg hat Millionen europäischer Auswanderer angezogen, aber sein Einfluss auf die europäischen Gesellschaften blieb begrenzt – zu unterschiedlich waren soziale Strukturen, politische Kultur und Mentalitäten der alten und der neuen Welt. Soziale Gerechtigkeit definiert sich in Kontinentaleuropa vor allem durch den Sozialstaat mit seinen garantierten Rechten, der staatlichen Umverteilung von Einkommen sowie die kollektive Gestaltung der Arbeitsbeziehungen durch starke Gewerkschaften. In der deutschen Debatte der letzten zwei Jahrzehnte ging es mehr um die Absicherung vor sozialem Abstieg denn um die Chancen für sozialen Aufstieg. Zwar schillerte der Begriff „Teilhabegerechtigkeit“ durch die Programmdebatten der Grünen wie der SPD, aber der egalitäre Zugang zu Bildung, Arbeit und Kultur wurde nur selten als Hebel sozialen Aufstiegs formuliert.
Allerdings gab es auch in der Geschichte der Bundesrepublik Phasen massenhaften sozialen Aufstiegs, die durch die entsprechende Ideenwelt einer offenen Leistungsgesellschaft begleitet wurden. Das gilt insbesondere für die Zeiten des „Wirtschaftswunders“ in den 50ern und frühen 60er Jahren. Der Lebensstandard der gesamten Gesellschaft stieg rasant, und zugleich wuchs die Mittel – und Oberschicht überproportional. Auch wenn die alten Eliten in Wirtschaft, Justiz und Verwaltung weiter den Ton angaben, stießen neue Führungskräfte „von unten“ dazu. Die größte Leistung dieser frühen Jahre bestand in der sozialen Integration von 12 Millionen Flüchtlingen, flankiert von einem 150 Milliarden DM schweren „Lastenausgleich“. Einen zweiten Schub sozialer Aufwärtsmobilität sahen die 70er und 80er Jahre, getragen von der sozialliberalen Bildungsreform, die Millionen von Arbeiterkindern erstmals die Türen zu Abitur und Studium öffnete. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Angestellten und Beamten stark an; dementsprechend erweiterten sich auch die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten aus den unteren Etagen der Gesellschaft. Bildung wurde zu einem effektiven Hebel sozialen Aufstiegs.
Seit den 90er Jahren ist diese Aufwärtsdynamik auch in Deutschland ins Stocken geraten. Die Barrieren zwischen Unter- und Mittelschichten haben sich verfestigt, die quasi naturwüchsige Tendenz zur Selbst-Reproduktion der Eliten hat sich verstärkt. Heute hat es etwas Antizyklisches, über Deutschland als „Aufsteigerrepublik“ zu reden, wie es der ehemalige nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet mit Fleiß tut. Der Begriff schwimmt gegen den Strom des Zeitgeists, der stärker von Abstiegsängsten als Aufstiegshoffnungen geprägt ist. Die öffentliche Debatte dreht sich um die gefühlte Erosion der Mittelschichten und die wachsende Armut inmitten einer wohlhabenden Gesellschaft. „Hartz IV“ ist zum Synonym für soziale Deklassierung geworden, die auch Facharbeiter und Angestellte bedroht.
Gleichzeitig haben zahlreiche empirische Studien gezeigt, dass unser Bildungssystem sozial hoch selektiv ist: Bildungserfolg in Deutschland hängt stark von der sozialen Herkunft ab. Besonders beunruhigend wird es, wenn soziale Randlage, Bildungsarmut und ethnische Herkunft zusammenfallen. Die Tendenz zur Verfestigung eines migrantischen Prekariats birgt jede Menge sozialen und politischen Sprengstoff. Zwar haben wir Zehntausende Erfolgsgeschichten von Menschen mit dem berühmten Migrationshintergrund, aber sie erscheinen immer noch eher als Ausnahme denn als Regel, und oft genug mussten sie sich gegen vielfältige Widerstände, offene und verdeckte Diskriminierung durchbeißen. Es ist unübersehbar, dass der soziale Fahrstuhl bei uns nicht gut funktioniert. Für eine Einwanderungsgesellschaft ist das fatal. Denn Integration kann nur gelingen, wenn sie mit der Chance zum sozialen Aufstieg verbunden ist. Nur wenn es eine realistische Aussicht gibt, aus eigener Kraft voranzukommen, entwickelt sich die Motivation, sich in der Schule anzustrengen, eine qualifizierte Ausbildung zu absolvieren und sich mit der aufnehmenden Gesellschaft zu identifizieren.
In vielen Großstädten kommt bereits die Hälfte der Kinder aus Migrantenfamilien. Der künftige Wohlstand der Bundesrepublik hängt auch davon ab, wie viele Erfinder, Unternehmer, Fachkräfte aus ihren Reihen hervorgehen. Soziale Aufstiegschancen entscheiden auch über die Innovationskraft und ökonomische Dynamik einer Gesellschaft. Wir sollten uns nicht einbilden, den Bedarf an Hochqualifizierten in hinreichender Zahl aus anderen Ländern anwerben zu können. Qualifizierte Zuwanderung muss sein, aber die größte und wichtigste Talentreserve haben wir im eigenen Land, bei den Kindern und Jugendlichen, die hier geboren wurden und werden. Um ihnen eine reelle Aufstiegsperspektive zu bieten, muss das gesamte Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität auf den Prüfstand; ebenso die Einstiegs- und Aufstiegschancen von Migrantinnen und Migranten in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung. Der demographische Wandel der nächsten Jahrzehnte erzeugt Bedarf an Fachkräften aller Art in großem Maßstab. Damit bieten sich auch neue Aufstiegschancen für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus. Ob sie genutzt werden, wird sowohl individuell wie gesellschaftlich eine zentrale Frage.
Es wäre aber zu kurz gesprungen, die Verheißung sozialen Aufstiegs auf eine Migrationsfrage zu verkürzen. Es war und ist das große Versprechen der „sozialen Marktwirtschaft“, die Klassengesellschaft zu überwinden, indem sie soziale Aufstiegschancen für alle gewährleistet. Ludwig Erhards Parole vom „Wohlstand für alle“ war ja nicht in erster Linie ein staatliches Umverteilungsprogramm. Es ging darum, dass der Staat die Einzelnen dabei unterstützt, eine möglichst gute Bildung zu erwerben und beruflich erfolgreich zu sein, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Chancengleichheit ist eine republikanische Errungenschaft. Sie erweitert den rechtlichen und politischen Gleichheitsanspruch der Demokratie auf die soziale Sphäre. Zugleich geht es um eine dynamische Vorstellung von Gerechtigkeit, die individuelle Förderung mit Selbstverantwortung und Eigeninitiative kombiniert. Freiheitliche Politik zielt auf die bestmögliche Entfaltung jedes Einzelnen, nimmt den Bürgern aber ihre Verantwortung für ihr persönliches Fortkommen nicht ab.
Damit keine falschen Gegensätze aufgebaut werden: die Orientierung auf sozialen Aufstieg macht den Sozialstaat nicht überflüssig. Max Webers Einsicht, dass die Verfügung über Besitz und Einkommen ganz spezifische Lebenschancen schafft, gilt auch heute. Deshalb muss die ökonomisch begründete Ungleichheit angegangen werden, um die Ungleichheit der Lebenschancen möglichst auszugleichen. Interessanterweise sind es nicht die Gesellschaften mit der größten Spanne zwischen arm und reich, in denen heute der soziale Aufstieg am besten gelingt. Das ist jedenfalls eine der Erkenntnisse, die das britische Forscherduo Wilkinson & Pickett in seiner viel diskutierten Studie „Spirit Level“ gewonnen hat. Nirgendwo ist die Aufwärtsmobilität höher als in Skandinavien. Als Regel gilt: Je besser die soziale Infrastruktur ausgebildet ist, desto durchlässiger wird eine Gesellschaft. Die primäre Verteilung von Lebenschancen beginnt bekanntlich in den Familien. Deshalb sind die soziale Stabilisierung von Familien und die möglichst frühe Förderung benachteiligter Kinder entscheidend. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Bildungssystem zu, vom Kindergarten bis zur Universität.
Nicht alle werden ihren Weg nach oben machen und für sich selbst sorgen können. Deshalb braucht es ein zuverlässiges soziales Auffangnetz, das Schutz vor den Wechselfällen des Lebens bietet. Aber als bloßer Versorgungsstaat ist der Sozialstaat nicht zukunftsfähig. Er muss auf die Befähigung jedes einzelnen zielen, sein Leben in die Hand zu nehmen und aus eigener Kraft erfolgreich zu sein. Das Leitbild einer aufstiegsoffenen Gesellschaft kombiniert Solidarität und Leistungsorientierung, statt sie gegeneinander auszuspielen.
Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Der Artikel "Für eine aufstiegsoffene Gesellschaft" ist Böll.Thema 3/2010 "Sozialer Aufstieg - Strategien gegen die blockierte Gesellschaft" entnommen.