Die Rolle des Staats in den USA: Nicht schlank, aber essentiell

Sollten ökonomische Eigeninteressen die Zwischenwahl am 2. November entscheiden, dürfte die polemische Debatte über einen schlanken Staat in den USA angesichts realer Notwendigkeiten ein für allemal beendet sein. ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu EU & Nordamerika.

Für konservative Amerikaner gibt es kein größeres Schreckgespenst – und keinen wirksameren Wahlkampfschlachtruf gegen US Präsident Barack Obama und eine demokratische Mehrheit im US-Kongress – als die Einführung „sozialistischer Sozialsysteme“ europäischer Manier in den USA. Dies würde nämlich eine Stärkung der Macht Washingtons gegenüber den Bundesstaaten und US-Bürgern bedeuten. Seit Jahrzehnten gilt ein „schlanker Staat“ als reine Lehre der Republikaner, die sich bewusst gegen die traditionelle Forderung progressiver Demokraten nach mehr Staatsausgaben positioniert. Auch außerhalb der Hauptstadt hält sich das Misstrauen des amerikanischen Normalbürgers gegenüber dem Staat hartnäckig. Schuld daran sind unter anderem Überbleibsel einer nostalgischen, aber unrealistischen Pioniermentalität in der amerikanischen Psyche. Diese setzt die individuelle Eigenleistung über gesellschaftliche Solidarität. Auch  die aktive Desinformation eines weiten Spektrums libertärer Kräfte durch eine politisch polarisierte und extrem zerklüftete US-Medienlandschaft trägt dazu bei.

Das republikanische Establishment ließ unter der Bush-Administration staatliche Ausgaben unkontrolliert in die Höhe schießen. Der Aufstand der Tea-Party-Bewegung unzufriedener Erzkonservativer gegen dieses republikanische Establishment ist begründet in der dogmentreuen Forderung, die Rolle der Bundesregierung in Washington auf ein absolutes Minimum zurückzuschneiden.  Rund 20 Prozent der US-Wähler teilen diese Auffassung. Präsident Obamas umfassende Gesundheitsreform in 2009 war die willkommene Gelegenheit, die Republikaner im US Kongress – auch mit Blick auf die Zwischenwahlen – zumindest rhetorisch wieder auf urkonservative Linientreue einzuschwören.  Die Dogmatisierung und Denunzierung des Staats mag republikanischen Wahlkampfslogans zu Biss und Erfolg verhelfen, sie verschleiert aber die Realität einer US-Gesellschaft, für die kann es längst nicht mehr ideologisch um weniger oder mehr Staat gehen kann, sondern um den richtigen Zuschnitt eines „klugen Staats“ gehen muß. Nicht ob der Staat ausgibt, sondern für was ist entscheidend, idealerweise, um die Weichen für die Zukunft zu stellen, ob in Erziehung und Wissenschaft oder Energiepolitik. Die gute Nachricht: die US-Wähler der politischen Mitte, Gemäßigte beider Parteien und parteipolitisch Ungebundene, teilen diese pragmatische Sichtweise. Unklar ist, ob diese Minderheit Anfang November wahlentscheidend sein kann.

Eine Umfrage von USA Today/Gallup Mitte Oktober zeigt, dass es bei den amerikanischen Wählern keine einheitliche Antwort auf die Frage gibt, wie viel Regierung die amerikanische Gesellschaft wirklich braucht und wie ihre Rolle definiert werden soll.  Die Umfrage diagnostiziert eine umfassende Vertrauenskrise der US-Bürger in ihre Regierung. Immerhin 60 Prozent der Bürger sagen, dass Washington ihre fundamentalen Bürgerrechte und -freiheiten bedrohe. Der massive Umfang der Konjunktur- und Rettungsprogramme für die US-Banken- und Autosektoren angesichts des drohenden Finanzsystemkollapses in den letzten beiden Jahren hat dieses Unwohlsein bestärkt. Die Effektivität dieser Rettungsprogramm scheint zudem begrenzt zu sein: die offizielle Arbeitslosenquote ist mit 9.7 Prozent weiterhin ungewöhnlich hoch; angesichts ihrer strukturellen Natur ist Abhilfe mittelfristig nicht in Sicht. Die hochverschuldeten amerikanischen Privathaushalte müssen den Gürtel weiterhin enger schnallen; Löhne stagnieren, der Privatkonsum als Motor der amerikanischen Wirtschaft stottert bestenfalls. Der US-Immobilienmarkt ist weiterhin überschwemmt mit nahezu unverkäuflichen Privathäusern aus einer Flut von teilweise vorschnellen Zwangsversteigerungen. Nur der US-Aktienmarkt und die Bankenbilanzen scheinen die schlimmste Finanzkrise seit der großen Depression der 30er Jahre ohne nachhaltigen Schaden überstanden zu haben.

In der gegenwärtigen anhaltenden Wirtschaftsmisere braucht der Durchschnittsamerikaner also den Staat mehr denn je. Ohne die Sozialsektorprogramme wie Arbeitslosenunterstützung, Essensmarken oder Sozialhilfe, von denen eine wachsende Zahl von US-Bürgern auf Dauer abhängig sind, sowie die temporären Steuerhilfen und Kaufanreize, z.B. für Neuwagen („cash for clunkers“) aus Präsident Obamas massiven Konjunkturprogramm, wäre das Einkommen der amerikanischen Haushalte im letzten Jahr statt um nur 167 Milliarden US-Dollar um mehr als  das Vierfache (723 Milliarden US-Dollar) gesunken, wie die Washington Times berichtete.  Mittlerweile machen die Ausgaben des Bundeshaushalts fast ein Viertel (genau 24.7 Prozent) des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts aus, dazu kommen noch Ausgaben der 50 Bundesstaaten.  Damit liegt die sogenannte Staatsquote (das Verhältnis staatlicher Ausgaben zur Wirtschaftsleistung eines Landes) in den USA fast gleich hoch wie in Deutschland. Tendenz steigend. Denn tatsächlich wäre eine Rückkehr zum „schlanken“ Staat in den USA, selbst wenn politisch beschlossen, inzwischen unmöglich, wie das Center on Budget and Policy Priorities argumentiert. Der allen OECD-Staaten drohende demographische Wandel – auch in Amerika leben Bürger immer länger und die Gesellschaft als Ganzes wird älter – drückt die damit verbundenen Regierungsausgaben für die wichtigsten Sozialsysteme, nämlich Medicare, Medicaid und Sozialversicherung, unerbittlich nach oben. Dazu kommen die Kosten für inländische Sicherheit (homeland security), Unterstützung für die Veteranen der unter Bush begonnenen Kriege in Afghanistan und Irak und aufgrund der Rekordverschuldung der öffentlichen Hand (derzeit 53 Prozent des BIP) ein wachsender Schuldendienst. 

Und die Hilfe des Staats wird ja auch gewollt – allerdings nur in ausgesuchten Bereichen, und dann am liebsten in Form der lokalen Regierung und des eigenen Bundesstaats, aber als Unterstützung durch das  ferne Washington. Bundesstaaten, die per Verfassung zu einem ausgeglichenen Haushalt verpflichtet sind, sehen sich aber immer weniger in der Lage, ihren Verpflichtungen in Infrastruktur, Ordnungs- oder Erziehungswesen nachzukommen. Bleibt also die Bundesregierung. Mehr als die Hälfte der USA Today/Gallup-Befragten möchten demnach beispielsweise, dass Washington eine angemessene Krankenversicherung für alle Amerikaner garantiert. Fernab der politischen Ideologisierung und Schwarz-Weiß-Polarisierung, die das amerikanische Zweiparteiensystem befördert, wollen Amerikaner pragmatisch vor allem eine funktionsfähige und effektive Regierung, die essentielle Aufgaben wahrnimmt – auch wenn sie dafür eigentlich mit nur 18 Prozent des BIP nicht genug in Form von Steuern und Abgaben zahlen. Das beweist das derzeitige amerikanische Haushaltsdefizit von 1.413 Billionen US-Dollar (knapp 10  Prozent des BIP).

Die Realität ist: ob eine Regierung zu „groß“ oder  zu „klein“ ist, bedeutet Unterschiedliches für unterschiedliche Teile der amerikanischen Gesellschaft.  Ethnische Minoritäten (Latinos und Afroamerikaner) mit niedrigen Einkommen sind die US-Bevölkerungsgruppe, die sich am meisten Staat wünscht. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Wohlhabenden, meist konservativen Weißen, hauptsächlich Männer, die staatliche Regulierung als Bedrohung des American Way of Life sehen. Viele Tea PartyAnhänger sind darunter. 

Dabei ist die Ironie, dass ausgerechnet die Bürger in Bundesstaaten, die republikanisch wählen, also einen starken Staat eher ablehnen, diejenigen sind, die am meisten von der Ausgabefreudigkeit der Washingtoner Regierung profitieren. Eine Datenanalyse der nichtparteilichen Tax Foundation durch die Washington Post hat ergeben, dass in US-Bundesstaaten mit einer starken republikanischen Mehrheit wie Alabama, Lousiana oder Mississippi der Bevölkerung für jeden Dollar an gezahlten Bundessteuern mehr als 1.50 US-Dollar an Ausgaben der Bundesregierung zugutekommen. In moderaten republikanisch wählenden Staaten war der Benefit immerhin noch 1.19 US-Dollar pro gezahltem Steuerdollar. Dagegen erhalten traditionell demokratisch wählende Staaten wie New York nur etwa 0.86 US-Dollar pro Steuerdollar in Regierungsausgaben aus Washington zurück.

Sollten also ökonomische Eigeninteressen die Zwischenwahl am 2. November entscheiden, dürfte die polemische Debatte über einen schlanken Staat in den USA angesichts realer Notwendigkeiten ein für allemal beendet sein.


Liane Schalatek ist stellvertretende Leiterin des Washingtoner Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, sie arbeitet seit 1999 an Globalisierungs-, Wirtschafts- und Entwicklungsthemen arbeitet. Ihr derzeitiger Arbeitsschwerpunkt liegt auf Klima- und Entwicklungsfragen, vor allem im Hinblick auf Klimafinanzierung.  Geschlechtergerechtigkeit ist ein wichtiges Thema all ihrer Arbeit für die Stiftung. Liane Schalatek ist gelernte Journalistin und hat Studienabschlüsse in Politik und Volkswirtschaftslehre von der Universität Erlangen sowie in International Affairs von der George Washington University in Washington, DC.