Ajschat Magomedova war schon zu Sowjetzeiten eine angesehene Gynäkologin. Mehrere Jahre leitete sie die gynäkologische Abteilung des wichtigsten Krankenhauses in Dagestan. Nach dem Ende der Sowjetunion, als die medizinische Versorgung fast zusammenbrach, begann sie sich um diejenigen zu kümmern, die von allen vergessen wurden, die, wie sie selbst immer sagte, «niemand braucht», um Frauen aus den hohen kaukasischen Bergen Dagestans, später auch um Flüchtlinge aus Tschetschenien und um Kinder. 1993 gründete Ajschat Magomedowa die «Liga zum Schutz von Müttern und Kindern», eine der ersten Nichtregierungsorganisationen Dagestans. Ein Jahr später schlug das republikanische Gesundheitsministerium ihr vor, das verfallene Gebäude einer Kinderklinik im Zentrum Machatschkalas zu übernehmen.
Der Staat hatte damals fast kein Geld. Ajschat Magomedova gründete zusammen mit Gleichgesinnten das «Wohltätige Krankenhaus für Frauen». Seiher haben sie und ihre Kolleginnen und Kollegen dort Frauen kostenlos behandelt. Das «Wohltätige Krankenhaus» war ein einzigartiger Ort, ein Platz, an dem Frauen Zuflucht finden konnte, medizinische Hilfe, ja auch ein wenig Erholung. Es waren vor allem Frauen aus den medizinisch kaum versorgten, unterentwickelten Bergregionen Dagestans, in denen es oft weder fließend Wasser noch sonstige sanitäre Einrichtungen gibt. Hier herrscht bis heute ein strenges patriarchales Regiment, in dem Frauen schwer arbeiten müssen.
Ab 1995 kamen Flüchtlinge des ersten Tschetschenienkriegs hinzu. Nach einen kleinen Pause dann ab Herbst 1999 die Flüchtlinge des zweiten Kriegs. Vor allem der zweite Krieg, der mit einem Angriff tschetschenischer Rebellen auf dagestanische Dörfer begann, hatte zu großen Spannungen zwischen Dagestanern und Tschetschenen geführt. Ajschat Magomedowa stellte eine Medizinerbrigade zusammen, ging in die Flüchtlingslager und behandelte die Menschen dort, überwiegend Frauen und Kinder. Das schuf Vertrauen. Kein Vertrauen in staatliche Institutionen, aber darin, dass es auf beidenSeiten gute und gutwillige Menschen gibt, dass es also Hoffnung gibt. Ihre selbstverständliche Humanität war das Herausragende an Ajschat.
Im kleinen Krankenhaus, mit seinen nur 20 Betten, wurden im Laufe der Jahre mehr als 6000 Frauen stationär und rund 40.000 Frauen ambulant behandelt. Immer wieder brach Ajschat mit ihren Helferinnen und Helfern auf und besuchte die an Krankheiten und anderer Not leidenden Menschen in den Bergregionen. Sie organisierte dort, mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung, kleine Seminare zu einfachen Themen. «Darf ein Mann seine Frau schlagen?» hieß der Titel so einer Diskussion. Aus zentraleuropäischer Sicht, ja gar aus Moskauer Sicht mag die Frage absurd klingen - auch wenn hier wie dort natürlich viel zu viele Frauen von ihren Ehemännern geschlagen werden. In den dagestanischen Bergen ist die ein Tabubruch.
Über viele Jahre gelang es Ajschat Magomedova aus Spenden und Fördergeldern das Krankenhaus erst wieder instand zu setzen, medizinische Geräte, Arzneimittel zu erwerben, die stationären Kranken zu ernähren, die Steuern und Kommunalausgaben zu zahlen – und auch kleine Löhne an Ärzte und Krankenschwestern. Sie sagte bescheiden: «…es ist nichts Besonderes. Uns hat der Allmächtige geholfen. Durch gute Menschen.»*
Sie freute sich über das Wunder eines jeden Neugeborenen, über jede am Leib und an manchmal auch an der Seele genesene Frau. Immer stärker wurde in Ajschat Magomedova der Wunsch, nicht nur zu helfen, sondern zu verhindern. Mit großer Sorge beobachtete sie die Zunahme von Gewalt und die Islamisierung in Dagestan und in den angrenzenden kaukasischen Republiken. Sie, selbst eine tief gläubige Muslima, sah in dieser Entwicklung eine Reaktion auf die ausweglose Situation vieler junger Menschen im Kaukasus. Ajschat Magomedova und andere Frauen aus der Liga setzten sich daher für die Einhaltung der Menschenrechte und für die gewaltfreie Konfliktlösung in Dagestan sowie für die Stärkung von Frauen, die Bildung und Erziehung zum Frieden von Jugendlichen ein. Mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung und anderer internationaler Organisationen organisierte sie juristische Beratung sowie Seminare und Diskussionen zu solchen – teilweise sehr heiklen – Themen, wie «häusliche Gewalt», «Frauenrechte und Koran», «Frauenselbsthilfegruppen», «Die Wurzeln des gegenwärtigen Terrorismus», «Moderner Islam». Woher die Kraft kam, all das zu tun, erklärte sie so: «Wenn du Gutes anderen tust, dann kommt das Gute auch zu Dir. Von dort her… (sie zeigt mit der Hand nach oben)»*.
Ihren letzten Kampf verlor Ajschat Magomedowa. Es ging, wie so oft heute in Russland, um Geld, um viel Geld. Das Grundstück im Zentrum Machatschkalas, knapp 1.500 qm groß, hatte seit dem Jahr 2000 mit dem russischen Wirtschaftsaufschwung immer mehr an Wert gewonnen. Schon bald versuchten Beamte der republikanischen Regierung und der Stadtverwaltung die Eigentumsübertragung an die «Liga» vom Beginn der 1990er Jahre rückgängig zu machen. Einmal behaupteten sie, das Gebäude werde illegal besetzt, ein anderes Mal, Ajschat versteckte tschetschenische Rebellen. Es gab Durchsuchungen, aber nichts wurde gefunden. Aus Moskau versuchten Freundinnen und Freunde zu helfen. Eine Zeit lang gelang das. Doch letztendlich entschied ein Gericht in Machatschkala, dass die «Liga» das Gebäude an die Stadt zurück geben muss. Es gab noch einmal einen kleinen Aufschub, dann mussten sie im vergangenen Jahr in ein anderes, für eine Klinik eigentlich nicht geeignetes Gebäude am Stadtrand umziehen.
Über diese Auseinandersetzung war Ajschat Magomedowa selbst krank geworden. Erst kümmerte sie sich nicht darum, aber dann ging es nicht mehr. Fast ein Jahr lang war sie in Behandlung (u.a. kurz in Berlin, wohin sie Ende 2008 auf Einladung des Freundeskreises der Heinrich-Böll-Stiftung gekommen war), ehe es ihr 2009 wieder soweit gut ging, dass sie ihre Arbeit fortsetzen konnte, wenn auch nicht mit voller Kraft. Trotz der Niederlage im Streit um das Gebäude gab sie nicht auf: Noch einige Tage vor ihrem Tod entwickelte sie neue Initiativen und plante neue Projekte.
Ajschat Magomedova bleibt in unseren Erinnerungen und in unseren Herzen. Sie bleibt eine Erinnerung an den Traum einer besseren Zukunft für ihr Land und für die Welt.
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Walter Kaufmann, Leiter Referat Südosteuropa, im Namen der Heinrich-Böll-Stiftung
* Die Zitate stammen aus dem Artikel von Lidia Grafowa «Izgnanie»