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Demokratiebewegung zwischen Maidan und Tahrirplatz

Demonstration in Kairo. Bild: RamyRaoof/flickr.com. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

18. Februar 2011
Von Joscha Schmierer
Manche philosophieren, wenn sie sich über die demokratischen Bewegungen in Nordafrika und ihre Möglichkeiten Gedanken machen, gerne über die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den dortigen Staaten und Europa, so auch die Kanzlerin. Vielleicht wäre es aber fürs Erste besser, die aktuellen Bewegungen dort mit entsprechenden Bewegungen in europäischen Ländern zu vergleichen.


Die Entfernung zwischen Kiew und Kairo ist nicht sehr groß

Dieser Vergleich hat in den diversen Berichten über Tunesien und Ägypten keine Rolle gespielt, dabei springen doch Ähnlichkeiten zwischen dem Aufstand in Ägypten und der orangenen Revolution in der Ukraine schon über Äußerlichkeiten ins Auge. Alles dreht sich um die Besetzung und Verteidigung eines zentralen Platzes in der Hauptstadt. Man geht nicht für einzelne Demonstrationen hin, sondern bleibt dort, auch über Nacht und dann über Wochen. Die Unnachgiebigkeit der Bewegung findet ihren Ausdruck in der Hartnäckigkeit, mit dem sie sich in einen schon von seiner zentralen Lage und seinem Namen her strategisch und symbolisch herausragenden Ort verkrallt und dort ununterbrochen sichtbar bleibt. Da ist die Entfernung zwischen dem Maidan in Kiew und dem Tahrirplatz nicht sehr groß.

Beide Plätze trugen die Freiheit schon im Namen, ehe auf ihnen ernsthaft um die Freiheit gekämpft wurde. Die Demonstranten nahmen sie sich, indem sie sich auf dem Platz versammelten und blieben. Nimmt man diesen Gesichtspunkt, die Besetzung eines symbolgeladenen öffentlichen Platzes ernst, dann liegt auch ein Vergleich mit der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht völlig fern, auch wenn ihr dort ein blutiges Ende bereitet wurde. Vergleichbarkeit zu bemerken und ihr nachzugehen besteht nicht in einer Gleichsetzung der Bewegungen, ihrer Umstände und ihrer Feinde, ihres Erfolges oder Misserfolges. Aber gewisse Gemeinsamkeiten bei allen Unterschieden werden vorausgesetzt, wenn ein Vergleich sinnvoll sein soll.

Der Dreh- und Angelpunkt all der vergleichbaren Bewegungen in jüngerer Zeit ist 1989, das Ende des Kalten Krieges und des Blockmechanismus als alles überragendem Ordnungsprinzip. Sie sind Ausdruck eines Endes und eines Neuanfangs. So gesehen liefern dann zwar die verschiedenen samtenen Revolutionen von 1989 das entscheidende Paradigma eines gewaltlosen, massenhaften demonstrativen Freiheitswillens. Aber auch der Pariser Mai oder der Prager Frühling und dann erst recht die Solidarnosc durchbrachen bereits früh den Blockmechanismus und lassen sich als Vorläufer erkennen. Auch De Gaulle musste sich gegenüber einem immer weiter um sich greifenden Massenprotest im Mai 1968 erst einmal der Treue der Armeeführung versichern, bevor es ihm gelang eine Gegenoffensive zu starten. Mubarak hat das auch versucht, vergeblich.

So wie die Regime in Nordafrika in ihrer Entstehung und Prägung versteinerte Produkte aus der Zeit des Kalten Krieges sind, signalisieren die revolutionären Bewegungen in Tunesien, Ägypten und anderswo, dass jetzt mit einiger Verspätung auch hier eine neue Zeit beginnt. Sie ist schon in Gang. Zumindest bei den Rebellen ist die Globalisierung längst angekommen – als Gewinn an Möglichkeiten.


Die Forderung nach Freiheit: Stärke und Schwäche der Protestbewegung

In den Bewegungen geht es nicht mehr um einen Systemgegensatz von Kapitalismus und Sozialismus, in dem noch die Friedensbewegungen der Nachkriegszeit und der 80er-Jahre von den Blöcken instrumentalisiert wurden. Inhalt und Ziel der Bewegungen ist es, nachdem die alte Spaltung der Welt beendet ist, das eigene Geschick als Individuen, aber auch als Gesellschaft und Nation in die eigenen Hände zu nehmen. Bedingung dafür ist Freiheit und Freiheit ist auch die grundlegende Forderung, um die sich alles dreht. Das gibt diesen Bewegungen ihren elementaren Charakter, macht ihre Stärke aus, kann aber auch zur Schwäche werden, wenn über dem Sturz der Spitze eines Regimes versäumt wird, dessen institutionelles Gefüge und den kompakten Apparat, mit dessen Hilfe es herrscht, auseinander zu nehmen oder wenigstens personell gründlich neu zu besetzen. Auf diesem Feld könnten die tunesische und die ägyptische Demokratiebewegung von den negativen Erfahrungen im Gefolge der orangenen Revolution lernen. Und hier zeigen sich auch schon Unterschiede.

Die ukrainische Protestbewegung gegen die gefälschten Wahlen, hatte Juschtschenko und Julia Timoschenko als Führungsfiguren. Beide kamen aus der herrschenden Elite und vertraten deren oppositionellen Flügel. Unmittelbares Ziel der Bewegung waren Wahlergebnisse, die nicht gefälscht werden und die Wahl Juschtschenkos als Präsident und die Berufung Timoschenkos als Regierungschefin.

Natürlich veränderte der Erfolg der orangenen Revolution das gesellschaftliche Klima und sicherte den Medien größere Freiheiten. Aber das weitere Schicksal der Bewegung blieb in den Händen einer Schicht von Politikern, die ihrem ganzen Stil nach die personalistisch-autokratischen Züge des Regimes nicht abgelegt hatte, und einer Verwaltung, die wenig Grund hatte, ihre alten Sitten zu ändern. Die Justiz blieb wie eh und je bürokratisch und abhängig.

Rivalitäten im orangenen Regierungslager mündeten in politischem Durcheinander. Im Ergebnis befindet sich Janukowitsch, der seiner Zeit ins Amt gefälschte Chef der Blauen, auf dem Präsidentenstuhl und kann sich auf eine gewählte und teilweise gekaufte Mehrheit im Parlament stützen. Natürlich ist nicht alles wieder so wie früher unter Kutschma, aber das Regime funktioniert schon wieder ziemlich ähnlich wie damals.


Eine Gesellschaft unter Hochspannung

Im Unterschied dazu besteht der entscheidende Teil der Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten aus neuen Kräften und hat auch eine eigene Führung hervorgebracht. In beiden Staaten wird von Basisbewegungen auf die Erneuerung der Staatsapparate gedrungen. Zugleich aber ist jetzt erst einmal die Armeeführung an der Macht, das heißt die bisherige Hauptstütze des Regimes. Bedeuteten die Neuwahlen in der Ukraine seinerzeit, dass nun wieder alles seinen bisherigen, nun aber orangenen Gang ging und sich die Bewegung selbst zerlief, stehen sich in Tunesien und Ägypten eine Bewegung, die nach wie vor einen Regimewechsel will, und eine intakte Armee gegenüber, die aber wohl gelernt hat, dass es in der bisherigen Weise nicht weitergehen kann. Das aber heißt, die Gesellschaft steht nach wie vor unter Hochspannung.

Mit dieser Spannung transparent umgehen kann allenfalls ein repräsentatives und starkes Parlament. Aber die großen Zeiten der parlamentarischen Demokratie scheinen ja selbst in Europa eher vorbei zu sein. Eine patriarchal-autokratische, auf einen Präsidenten zugeschnittene Führung, hinter der die Armee steht und die Macht sichert, würde die Spannung nur verschärfen. Und wie sollte dann eine Wirtschaft wieder in Gang kommen, die in großen Teilen von der herrschenden Elite und durch Bürokratie heruntergewirtschaftet wurde und in den bisherigen Strukturen auch nicht wieder auf die Beine kommen kann?

Entscheidend wird also sein, ob die erfolgreiche Aufstandsbewegung zur Initialzündung für einen breit angelegten und anhaltenden, von großen Teilen der Gesellschaft getragenen Prozess der wirtschaftlichen Neustrukturierung und des Wiederaufbaus wird. Die Selbstorganisation der Aufständischen auf dem Tahrirplatz bis hin zur autonomen Müllbeseitigung ist eigentlich kein schlechtes Zeichen.

Nach dem Erfolg der orangenen Revolution in der Ukraine bildete sich sofort eine starke Lobby unter den Politikern in der EU, die für einen möglichst schnellen Beitritt der Ukraine in die EU warb. Das EU-Parlament verabschiedete schnell eine entsprechende Resolution. Das war ein politischer Kurzschluss. Die „Europäische Identität“ bot das Medium. Schließlich ist die Ukraine ein europäisches Land und dann auch noch auf gutem demokratischem Weg, wo sollten da Hindernisse auf dem Weg zu einem raschen Beitritt liegen? Sie zeigten sich in der politischen Entwicklung der Ukraine selbst. Außerdem: Russland gehört auch zu Europa, wehrt sich aber mit Macht, mit Gas und Öl gegen die Aussicht, zur Restgröße auf einem Kontinent zu werden, der sich ansonsten in der EU zusammenschließt.

Die Wege nach Osten auf dem Kontinent sind beschwerlicher als die Verbindung über das Mittelmeer, wie auch die gegenwärtige Fluchtbewegung nach Europa zeigt.


Die Proteste haben viel mit Europa zu tun, weniger mit Islamismus

Der islamische Charakter der Staaten in Nordafrika hat die EU immer davor bewahrt, sich ernsthaft mit dem Charakter ihrer politischen Beziehungen zu diesen Ländern zu befassen, nachdem sie nicht mehr unter europäischer Kolonialherrschaft stehen. Nun haben die Demokratiebewegungen in Tunesien und Ägypten gezeigt, dass hier Bewegungen im Gang sind, die viel mit Europa, aber ziemlich wenig mit Islamismus zu tun haben. Wenn man in der Ukraine für die Nachbarschaftspolitik der EU warb – und das hat sich wahrscheinlich bis heute nicht geändert – bekam man sehr schnell zu hören, dass die ukrainischen Europäer, weiß also und Christen, nicht mit den Nordafrikanern in einen Topf der Nachbarschaftspolitik geworfen werden wollten, also zu den dortigen Gesellschaften, nicht ganz so weiß und auf jeden Fall nicht christlich, Abstand hielten.

Nun könnten die Erfahrungen im europäischen Osten mit der Ukraine, Weißrussland und auch Georgien und die neuen Entwicklungen in Nordafrika und im Mittelmeerraum die EU dazu veranlassen, sich den Umgang mit ihren Nachbarn im Süden und Osten noch mal neu durch den Kopf gehen zu lassen, um zu einer kohärenten Politik der Nachbarschaft im Süden und im Osten zu gelangen. Weder ist der Osten so nah, wie manche Enthusiasten der orangenen Revolution dachten, noch ist der Süden so fern, wie Islamkritiker oder Arabienskeptiker voraussetzen.

Vielleicht findet die EU hier wie dort Grenzen der Erweiterung, im Süden aber vielleicht bald wider Erwarten gute Bedingungen der politischen Kooperation. Mag sein, dass demokratischere Staaten in Nordafrika größere Solidarität mit den Palästinensern an den Tag legen werden als die bisherigen verknöcherten Regime. Dauerhaften Frieden wird Israel aber nur mit demokratischen Nachbarn erreichen können. Und mit der Politik gegenüber den Palästinensern hat sie den entscheidenden Hebel für gute Beziehungen selbst in der Hand.

Dossier

Die Bürgerrevolution in der arabischen Welt

Die Massenproteste in Tunis und Kairo haben die alten Regime in Tunesien und Ägypten hinweggefegt. Die Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten hat eine politische Wende herbei geführt, die das Tor zu einer demokratischen Entwicklung in der Region weit aufgestoßen hat. Aus dem Funken ist ein Lauffeuer geworden, in Algerien, Marokko, Jemen, Bahrain, Jordanien und Libyen gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und fordern die Machthaber heraus. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Analysen, Kommentaren und Interviews:

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.

 

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