Sage mal keiner, dass dieses Unternehmen keinen Humor hätte: Just an den Tag, als deutsche Zeitungen mit einer großen Portion Häme auf das Urteil zu Google Books reagierten, konterte die Startseite von Google mit einem Gedenkemblem zu Harry Houdinis 137. Geburtstag. „What would Google do?“, fragte einst Jeff Jarvis. Jetzt wissen wir es: weiterhin auf die Entfesselungskünste seiner Marktmacht vertrauen.
Zur Erinnerung: Seit 2005 hat das kalifornische Unternehmen ca. 15 Millionen Bücher gescannt: darunter solche, deren urheberrechtlicher Schutz abgelaufen ist (gemeinfreie Werke), noch lieferbare Titel (mit entsprechenden Urheberrechten von Autoren und Verwertungsrechten durch Verlage) sowie „verwaiste Werke“, also Bücher, die entweder nicht mehr lieferbar sind oder deren Rechteinhaber nicht mehr ermittelt werden können. Letztere bildeten den Löwenanteil der entstandenen Digitalisate, sodass vermutet werden konnte, dass Google es mit seinem riesigen Investment letztlich auf ein Verwertungsmonopol für „unclaimed works“ abgesehen hatte. Nicht nur der Internet-Buchhändler Amazon witterte unliebsame Konkurrenz.
Nach einer „Class-Action“-Klage (die nach US-Recht auch bindende Wirkung für betroffene Rechteinhaber im Ausland haben würde) schloss Google 2008 einen Vergleich mit der amerikanischen Authors Guild und der Association of American Publishers, der eine Aufteilung der erzielten Einnahmen für kommerzielle Verwertungen vorsah: 37 Prozent für Google, 63 Prozent für die Autoren. Dabei hatten die Kalifornier die Rechnung allerdings ohne die Verlegerverbände und Verwertungsgesellschaften in Europa gemacht. Als diese Sturm liefen und massenhaft Einsprüche gegen das Settlement machten, war der hochkomplizierte Vergleichstext plötzlich nicht mehr die Sache von Urheberrechtsexperten, sondern Tagesgespräch in den Feuilletons.
Als die Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit iRights.info im Oktober 2009 sämtliche Stakeholder des Settlements (Autoren, Verbände, Verlage, Gewerkschaften, Wissenschaftsorganisationen, Bibliothekare) zu einem öffentlichen Gedankenaustausch mit Google nach Berlin lud, überwog noch allenthalben die Befürchtung, ein nicht kontrollierter Monopolist könne sich zum Hüter des geistigen Welterbes aufschwingen. Mit einigem Schauder erinnerte man an das Mission Statement des Unternehmens, wonach man nicht weniger als das Wissen der Welt organisieren wolle.
Viele Skeptiker von damals dürften nun aufatmen. Der New Yorker Bundesrichter Denny Chin hat den Vergleich kurz und bündig als nicht fair und unangemessen zurückgewiesen. Insbesondere die Konstruktion, dass Urheber über ein Widerspruchsverfahren aus Google Books allererst „herausoptieren“ müssen, erregte den Argwohn des Richters. Das genehmigungslose Scannen sei ein urheberrechtliches No-Go, das einen Dammbruch von Klagewellen geradezu heraufbeschwöre. Grundsätzlich, so befand Chin, sei aber nicht die Legislative der bevorzugte Ort, um über digitale Verwertung von Büchern und verwaisten Werken zu befinden. Stattdessen sei der amerikanische Kongress in der Pflicht, das Copyright in diesem Sinne zukunftstauglich zu machen. Man möchte hinzufügen, dass dies für das kontinentaleuropäische Urheberrecht und seine komplizierten Schrankenbestimmungen ebenso gilt.
So richtig die Bremswirkung des Urteils vom 22. März 2011 auch ist, so befremdlich sind manche Reaktionen hierzulande. Die FR raunt von „vollautomatischen Bücherfressern“, die FAZ geißelt die „unverfrorene Taktik des systematischen Rechtsbruchs“. Derlei Skandalisierungen können aber über eine Tatsache nicht hinwegtäuschen: Allein ein privates Unternehmen hatte die Vision und das technische Know-How, das zu tun, wovon Kulturpolitiker nur in Sonntagsreden handeln: den Traum des größten Archivs der Menschheitsgeschichte in die Tat umzusetzen. Nur weil Google hier einmal mehr First Mover war, heißt nicht, dass die Idee im Grundsatz falsch ist. Doch sollte man sich in der Umsetzung eher an offenen und gemeinnützigen Projekten wie WikiCommons oder dem Internet Archive orientieren.
Ganz in diesem Sinne regte der allseits geschätzte Robert Darnton, Direktor der Universitätsbibliothek von Harvard, ein alternatives Projekt zu Google Books an: ein Stiftungsverbund käme für die Finanzierung auf, renommierte Forschungsinstitutionen lieferten die Titel, eine zentrale Aufsichtsbehörde könnte die urheberrechtlichen Aspekte, etwa die nicht-kommerzielle Nutzung „verwaister Werke“, überwachen. Leider fehlt es bislang am politischen Willen, eine solche digitale öffentliche Bibliothek in die Tat umzusetzen. Nur ein neuer Houdini wird vermutlich diesen gordischen Knoten lösen können.
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Jan Engelmann ist Kulturreferent der Heinrich-Böll-Stiftung.
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