Helmut Schmidt ist selbst für einen Staatsmann a. D. außergewöhnlich meinungsstark. So hat er Mitte April bei einer Veranstaltung in Hamburg nur wenig gute Haare an der Regierungspolitik gelassen und insbesondere ihre Europapolitik kritisiert. Dann setzte er noch eins drauf und meinte, Außenminister Westerwelle mache alles falsch. So jedenfalls wird er in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Sollte er sich wirklich so geäußert haben, muss man ihn berichtigen. Westerwelle kann gar nicht alles falsch machen, weil er alles nur halb macht. So tritt er etwa als FDP-Parteivorsitzender zurück, bleibt aber Außenminister. So verzichtet er auf die Funktion des Vizekanzlers, bleibt aber als Außenminister der Mann mit dem wichtigsten Amt in der Koalitionsrunde, an der er auch in Zukunft teilnehmen wird. Indem Westerwelle das halbwegs Richtige tut und nolens volens den Parteivorsitz quittiert, konterkariert er diesen Schritt und verkehrt ihn ins Unernste. Er setzt darauf, das letzte Wort zu behalten, indem er formell auf das erste verzichtet.
Ernst zu nehmende Politiker üben sich in der Opposition, um sich auf die Regierung vorzubereiten. Beides zu können, macht den ganzen Politiker in einer Demokratie aus. Westerwelle hat nur die Rolle des oppositionellen Rhetorikers gelernt und musste in der Rolle des Regierungspolitikers passen. Er ist halt nur ein halber Politiker. Aber er ist und bleibt der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Verzicht auf den Parteivorsitz ist er nur noch das und das ganz. An dieser Rolle muss man ihn also messen. Aber auch als ganzer Außenminister wird er wie bisher nur halbe Sachen machen. Das ist geradezu sein Handlungsprinzip und es kommt bis zu einem gewissen Grad der außenpolitischen Disposition der Deutschen leider entgegen. Das eine nicht zu tun und das andere auch zu lassen und doch zu versuchen, immer dabei zu sein, ist die heimliche Maxime dieser Sorte von Außenpolitik.
Was alles sich von China gefallen lassen?
Man muss gar nicht sofort auf die Politik und das Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat zu Libyen zu sprechen kommen und die Folgen diskutieren, die das für die EU und die NATO hat. Zu reden wäre zum Beispiel von der Politik gegenüber China, mit dem zusammen sich Deutschland in den UN bei der Abstimmung über die Libyenresolution enthalten hat.
China reitet bei jeder Kritik an der Unterdrückung von Freiheiten und Menschenrechten auf seiner Souveränität herum. Es ist schwierig, gegen eine große Macht wie China, die zudem für die deutsche Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist, frontal anzugehen. Es ist auch selten klug. Zugleich ist es nicht sicher, dass kleinere Nadelstiche wie der Empfang des Dalai Lama durch die Bundeskanzlerin außer Verärgerung größere Wirkung erzielen. Immer können die chinesischen Machthaber so etwas als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückweisen und dabei im Inneren sogar Punkte machen.
Eine völlig andere Situation schuf die chinesische Regierung als sie aus der Besuchsdelegation des Außenministers zur Eröffnung der Ausstellung „Kunst der Aufklärung“ im neu eröffneten chinesischen Nationalmuseum den Sinologen und Schriftsteller Tilman Spengler herausschoss und ihm die Einreise verwehrte, weil er in Deutschland eine Laudatio auf den Friedensnobelpreisträger Liu Xiao Bo gehalten hatte. Das war ein ganz und gar inakzeptabler Eingriff in den zwischenstaatlichen diplomatischen Verkehr zwischen Deutschland und China. Es war ein chinesischer Versuchsballon, was man sich gegenüber Deutschland leisten kann – und eigentlich ein schwerer Fehler. Es wäre ja ein Leichtes und nur angemessen gewesen, wenn Außenminister Westerwelle der chinesischen Regierung mitgeteilt hätte, seine Reise leider absagen zu müssen, wenn dieser Eingriff in die Zusammensetzung seiner Delegation nicht zurückgenommen wird. Das hätte die chinesische Regierung vor die Konsequenz ihres diplomatischen Abenteuers und die Frage gestellt, ob sie den Konflikt weiter eskalieren oder ob sie zurückstecken will. Für die Bundesrepublik war das Risiko gering, da es sich eng im diplomatischen Feld hielt. Wahrscheinlich stand noch nicht mal die Eröffnung, geschweige denn die Ausstellung selbst auf dem Spiel. Es ist natürlich Spekulation, ob eine entschlossene Reaktion auf eine gezielte diplomatische Provokation auch auf das Verhalten der chinesischen Behörden gegenüber Ai Wei Wei Einfluss gehabt hätte. Zunächst geht es einfach darum, wie viel sich die deutsche Diplomatie von der VR China gefallen lässt, um eine strategische Partnerschaft zu pflegen, von der erst die Rede sein könnte, wenn sich die VR China wenigstens an die Minimalbedingungen diplomatischer Beziehungen hält.
Die chinesische Regierung hat mit der Einreiseverweigerung für Tilman Spengler den deutschen Außenminister und die Regierung getestet. Beide haben sich schon auf dem Feld der diplomatischen Gepflogenheiten als schwach erwiesen. Warum sollte die VR China ihre Vorhaltungen ernst nehmen, wenn es nicht um Fragen des Umgangs miteinander geht, sondern um den Umgang der chinesischen Behörden mit chinesischen Bürgern? Der chinesische Test ist schlecht ausgegangen für die deutsche Außenpolitik. Dabei hätte sie in diesem Fall mit begrenztem Risiko deutlich Nein sagen müssen.
Christian Gleinitz hat in einem Kommentar in der FAZ bezogen auf den Opportunismus deutscher Unternehmen in China geschrieben: „Da das System auf das Ausland nicht verzichten kann, ist Peking viel kompromissbereiter, als der vorauseilende Gehorsam vieler Schmeichler nahelegt.“ Kriecherei in Fernost ist der Kommentar überschrieben. Zurück zum Außenminister: Wer sich selber folgenlos demütigen und vorführen lässt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er generell nicht ernst genommen wird. Da bleibt der Protest gegen die Festnahme von Ai Wei Wei leere Pflichtübung. Wie gesagt: Der Außenminister ist ein Meister der halben Sachen. Halbe Sache, ganzer Fehler.
Sich treiben lassen in UN und NATO
Indem China und Russland als Ständige Mitglieder des Sicherheitsrates sich bei der Libyenresolution vom 17. März enthielten und auf ein Veto verzichteten, berechtigten sie ein Eingreifen, um „Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete, die von einem Angriff bedroht sind“ zu schützen und zu diesem Zweck, eine Flugverbotszone einzurichten. Die Maßnahmen wurden letzten Endes damit begründet, dass die laufenden ausgedehnten und systematischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Libyen sich zu Verbrechen gegen die Menschheit häuften. Die Resolution rechtfertigt eine humanitäre Intervention, die ohne militärische Mittel gegen Gaddafis losgelassene Soldateska bloßes Wortgeplänkel bleiben müsste.
Im Unterschied zu Russland und China wäre Deutschlands Ablehnung völkerrechtlich belanglos geblieben, hätte aber immerhin Sinn gehabt: Sie hätte zum Ausdruck gebracht, dass die Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzungen für eine Intervention gemäß der „Verantwortung zu schützen“ nicht erfüllt sieht. So argumentierte zum Beispiel Reinhard Merkel in der FAZ (1) und in der ZEIT (2). Oder sie hätte zwar die grundsätzliche Berechtigung zu einer Intervention einräumen, aber den Einsatz von militärischen Mitteln als unverhältnismäßig ablehnen können. Beide Ansichten hätten eine Ablehnung begründet. Das wäre logisch gewesen. Soweit aber wollte die Bundesregierung nicht gehen. Sie wollte nur herausstellen, dass sich die Bundesrepublik von der Rechtfertigung der Maßnahmen durch den Sicherheitsrat nicht in die Pflicht nehmen lassen würde, sich an ihnen zu beteiligen.
So enthielt sich die Bundesrepublik in der Frage der Berechtigung einer Intervention, um sich nicht gegenüber den Bündnispartnern, die im Sicherheitsrat zustimmten, zu verpflichten. Damit zog sie pragmatische Bedenken gegen eine eigene Beteiligung als Begründung heran, um sich der Zustimmung zu einer prinzipiell berechtigten Aktion zu entziehen. Hätte die Bundesregierung an der Berechtigung prinzipielle Zweifel gehabt, hätte sie sich nicht enthalten dürfen, sondern hätte gegen die Resolution stimmen müssen. Inwiefern die zur höheren Weisheit erklärte Inkonsequenz das Ergebnis eines sorgfältigen Abwägungsprozesses sein soll, wie der Außenminister immer wieder erklärt, bleibt sein Geheimnis. Es wurde eine Nichtentscheidung aus dem Bauch heraus getroffen. Um in der NATO nicht unter den Druck von Bündnisverpflichtungen zu geraten, wurde vorab die Berechtigung durch die UN in Zweifel gezogen, auf die sich die NATO hätte berufen können. So macht man sich im Sicherheitsrat und im NATO-Rat unmöglich.
Unter Berufung auf Konsequenzen, die eine Zustimmung angeblich nach sich ziehen könnte, nämlich deutsche Soldaten auf libyschem Boden, wurde der Berechtigung von Maßnahmen die Zustimmung verweigert, die in einer Notlage ein drohendes Blutbad mit der Eroberung von Bengasi durch Gaddafis Truppen verhindern sollten. Sie haben es bisher verhindert.
Das argumentative Durcheinander des Außenministers führte in der Folge ins politische Durcheinander der deutschen Außenpolitik. Da wurden deutsche Schiffe erst abgezogen aus den Einheiten, die im Mittelmeer das Waffenembargo sichern, und dann wieder zurückgeschickt. Dann wurde auf einmal vom Einsatz deutscher Soldaten selbst auf libyschem Boden gesprochen, um Nahrungsmittelhilfe zu sichern, falls die UN die EU dazu auffordere. Der Außenminister betonte den grundsätzlichen Unterschied eines solchen humanitären Einsatzes gegenüber der Durchsetzung einer Flugverbotszone über Libyen. Damit wurden mit einem Schlag alle Ergebnisse der bisherigen Diskussion um „responsibility to protect“ beiseite geschoben und humanitär begründeten und durch den Sicherheitsrat berechtigten Aktionen implizit der humanitäre Charakter abgesprochen, wenn sie denn auf militärische Mittel bei der Durchsetzung angewiesen sind. Doch wahrscheinlich handelte es sich, in der Hoffnung nie beim Wort genommen zu werden, nur um einen verbalen Befreiungsversuch aus dem Durcheinander, in das Westerwelle die deutsche Außenpolitik hineingeritten hatte.
So hatte sich der Außenminister auch in seinen Äußerungen über die Verbrechen des Gaddafi-Regimes und die Notwendigkeit seiner Beseitigung von niemandem übertreffen lassen, weder vor der Enthaltung noch danach. Außenpolitik besteht zu einem guten Teil aus politischer Rede, aber kein Gerede kann klare Argumentation und entsprechendes Handeln ersetzen.
Endnoten:
(1) Vom 22.03.2011
(2) Nr. 14/2011
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.