Bild: Stephan Röhl. Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0. Original: Flickr.
Prypjat’ ist die einzige Stadt der Welt, deren Alter so leicht zu berechnen ist: 1970 (Gründung) bis 1986 (Untergang). Außerdem existierte es von allen untergegangenen Städten am kürzesten, nur sechzehn Jahre. Kein Kind mehr, aber auch noch kein junger Mann, vielmehr ein noch nicht volljähriger Teenager mit dem Recht auf einen Personalausweis. Statt des Ausweises aber stellte man ihm die Todesurkunde aus. Todesursache: Strahlenkrankheit.
So blitzartig kurz hat kein anderer Ort gelebt. Und seine Zerstörung setzt sich fort – vor allem durch Menschenhand. Nicht nur der Wald frisst Prypjat’ auf.
Eine Randbemerkung: wie viele Jahre wohl Sodom und Gomorra existiert haben? Bei aller Fantasie, aber weniger als Prypjat’ bestimmt nicht. Um den lieben Gott so in Zorn zu versetzen, konnten sechzehn Jahre nicht genügen. Sodom und Gomorra sind Prypjat’ also weit unterlegen, was das kurze Aufflackern ihrer Existenz betrifft.
Im Falle von Prypjat’ kennen wir sogar das exakte Enddatum: der 27. April 1986. Nein, nicht der 26., sondern der 27. – Tag der Evakuierung, nicht des Unfalls. Der Umstand, dass es ein fixiertes Enddatum gibt, hebt Prypjat’ auf eine Stufe mit Pompej. Auch dessen Untergang lässt sich ja exakt datieren, und zwar auf den 24. August des Jahres 79.
Das Gespenst von Pompej tauchte ganz plötzlich auf, als wir, durch Glasscherben und verfaulte Holzstücke staksend, das Café „Prypjat’“ betraten – einmal das angesagteste Etablissement des Ortes. Das Café lag auf einem Hügel über den Anlegestellen am Fluss. Von hier aus konnte man den städtischen Strand beobachten und die Ankunft der blenden weißen Kiewer Tragflügelboote. Die dem Fluss abgewandte Wand nahm ein buntes Glasfenster ein. UNSER FÜHRER erzählte, dass der Künstler der Überlieferung gemäß auch ein anderes Fenster geschaffen habe, mit dem er das Unheil erst herauf beschwor, und zwar ein Werk mit dem Titel „Der letzte Tag von Pompej“. Er also hat die Stadt verwünscht. Einen solchen Menschen hätte man niemals beauftragen dürfen, ein Fenster in Prypjat’ zu gestalten. UNSER FÜHRER lachte, als er diese Legende erzählte.
„Der letzte Tag von Pompej“ hätte in jener Zeit des Sozrealismus aber wohl kaum als monumental-dekoratives Sujet getaugt, nicht einmal als Replik auf Brjullow. Welcher Klub, welcher Kulturpalast, welches Sanatorium hätte denn Bedarf an so einem Katastrophismus gehabt? Welches Exekutivkomitee hätte wohl ein derartig un-optimistisches Bild bestellt, den Auswurf vulkanischer Lava und den Zorn des Himmels?
Man kann sich allenfalls vorstellen, dass infolge eines schwachen Moments des Künstlers ein uneheliches Werk das Licht der Welt erblickte. Ein Glasfenster nur für sich selbst? Um flüchtige apokalyptische Visionen einzufangen? Kunst, die nicht dem Volk gehört? Kunst um der Kunst willen? Jedenfalls war es ein schwerer Fehler, jenen latenten Decadent nach Prypjat’ einzuladen. Solche wie er ziehen ihr schreckliches Karma überall hin nach und beeinflussen so den bisher glücklichen Verlauf der Dinge.
Wie ihn heute finden, wie ihn zur Verantwortung ziehen für alles, was danach geschah?
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Was zeigt das Glasfenster?
Zuerst muss ich anmerken, dass es fast zur Hälfte zerstört ist. Dass es heute also kein Fenster mehr ist, sondern nur noch ein halbes, das ganz aus Bruchstücken besteht. Die andere Hälfte knirscht unter den Füßen, wenn man unvorsichtigerweise hinein tritt. Übrigens: Der Geigerzähler, den UNSER FÜHRER über der Schulter trug, begann wie wild zu ticken, als wir das Café betraten und zeigte damit eine ernsthafte Verseuchung an. Wir gingen vorsichtig um den Scherbenhaufen herum. Bloß nicht barfuß gehen – sonst wirst du erleuchtet.
Aber zurück zum Fenster. Was übrig geblieben ist, vermittelt den Eindruck übertriebener Farbigkeit. Wenn man die Fensterfarben in physikalischen Kategorien wiedergeben will, dann so oft wie möglich mit den Vorsilben „infra-“ und „ultra-“. Das Fenster ist ungewöhnlich aktiv, es strahlt aus. Üblicherweise verwenden wir das Verb „ausstrahlen“ mit Akkusativobjekt. Man kann „etwas“ ausstrahlen, zum Beispiel Glück. Oder Radioaktivität. Das Glasfenster im Café „Prypjat’“ am Ufer des Flusses Prypjat’ in der Stadt Prypjat’ aber strahlt einfach nur aus.
Seine Sonne ist vielfarbig. Wie die übrige Welt ist sie gestreift. Die Streifen sind dunkelrot, hellgelb, dunkelblau, hellblau, grün. Der Sommer in seiner ganzen Pracht, in vollster Blüte, im Überfluss – die Gesänge der Wälder, die Stille der Seen, Schilf, Kiefern, summende Bienen in den Himbeersträuchern, Einswerden mit der Natur, das süße Schwellen des Bios.
Später, im Bus, legte UNSER FÜHRER einen Agitationsfilm über das AKW ein, der im vorangegangenen, also dem letzten Sommer vor der Katastrophe aufgenommen worden war. „Und vor allem“, der cholerische Typ im Ingenieursrang, in weißem Kittel und Brille, überschlug sich fast vor Begeisterung, „und vor allem: wir befinden uns hier in völliger Harmonie mit der Natur, sind Frucht von ihrer Frucht! Hast du Lust – dann bade im Fluss, geh’ in den Wald, wandere zwischen den Kiefern umher, sammle eine Pfanne Pilze zum Abendessen, bitteschön, alles da, wir sind mittendrin in der Natur.“
Nur zehn Monate später werden diese lebensfrohe, geschmeidige Person und ihr Wortschwall wie Hohn erscheinen. Im Moment aber – Erfolgspropaganda, der bekannte siegreiche Kontext, in dem die Worte „Mensch“ und „Natur“ ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben werden. M und P, MENSCH UND NATUR, MENSCHENNATUR, ein Fest der Harmonie, Baden im Fluss, Pilzesammeln, das friedliche Atom , Kiefernduft, dialektischer Materialismus.
Die Bewohner von Prypjat’ stellten den Sieg des wissenschaftlichen Kommunismus dar, seine Verkörperung – sauber, naiv und frech.
Und Sie glauben wirklich, ich hätte „kühn“ statt „frech“ schreiben sollen?
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Das Unvergesslichste an jenem Tag waren natürlich die Welse im Kanal beim AKW. So groß wie Delphine oder Haie, und darin liegt die unwiderruflich grausame Antwort der Natur an den Menschen (jetzt in einem anderen Kontext, in dem beide Wörter normal geschrieben sind).
Fische im Wasser beobachten ist schon immer eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Dabei hatte ich in meinem Leben nur wenig Gelegenheit dazu. Eine davon in Nürnberg, eine in Regensburg. In Nürnberg, glaube ich, gelangte ich zu der Erkenntnis, dass Europa ein Land ist, in dem Fische gut leben. Diese wäre mir verwehrt geblieben, wäre ich nicht gerade im Sommer1995 nach Nürnberg geraten. Hätte ich mich dort nicht immer wieder auf die Brücken gestellt und hinunter geschaut, auf den Grund, über den langsam die Fische glitten. Und nach Nürnberg kam ich damals nur, weil Walter Mossmann uns eingeladen hatte.
Er kommt mir jetzt nicht einfach nur so in den Sinn, nicht bloß aus Dankbarkeit, sondern weil er einige Monate früher ebenfalls die Welse im Kanal beim AKW beobachtet hatte. In seinem Bericht schreibt er von „…meterlangen Tieren mit riesigem flachen Schädel und breitem Maul, rechts und links lange, bewegliche Barteln, die aussehen wie die gedrehten Schnurrbartschnüre der Zaporozher Kosaken “.
Wer es nicht verstanden hat: Es handelt sich hier um einen ziemlich ätzenden Witz – Welse mit Kosakenschnurrbärten in einem radioaktiven Kanal, unbeweglich im Schlamm vergraben, das kalte Blut der Ukraine, ihr verfettetes fischiges Herz.
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Europa? Ein Land, in dem Fische gut leben?
Was diese Welse angeht, so habe ich da doch erhebliche Zweifel.
Erstens weiß ich nicht, ob sie wirklich so gut leben. Lange, das schon: Niemand angelt und erschlägt sie, alle fürchten sich vor der eindeutigen Überdosis. Wie lange lebt der Silurus glanis, der gemeine (nicht radioaktive) Wels? Offenbar fast hundert Jahre. Es ist der langlebigste Fisch unserer Flüsse und Seen. Länger als der Wels lebt nur der moosbewachsene Karpfen, und auch das nur in den Romanen von Aldous Huxley.
Die nicht gemeinen Welse aber (radioactivus verstrahlus), die Prypjat’-Welse also, werden ewig leben. Und wie ihre Körpergröße im Jahr 25 nach der Katastrophe zeigt, werden sie auch ewig wachsen. Bis aus ihnen unsterbliche Monster-Leviathane geworden sind. Ob es ihnen aber so gut geht dabei?
Zweitens weiß ich nicht, ob es sich wirklich um Europa handelt. Europa taucht in unserem Land auf, nur, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Es ist schemenhaft wie der Kommunismus der frühen Marx-Engels-Poesie. Es ist nicht zu greifen, besteht ganz aus Nebel, Missverständnissen und Gerüchten.
Im April 1986 war Europa überhaupt kein Thema. Es gab die UdSSR und den Westen, außerdem natürlich China. Was für ein Europa denn? Mitteleuropa? Osteuropa? Wenn „Ost-“, konnte dann überhaupt von einem „Europa“ die Rede sein? Das echte Europa kann nicht Ost- sein. Aus dem Geographieunterricht wussten wir, dass objektiv nur die europäischen Gebiete Russlands und einiger angrenzender Republiken existierten. Die Stadt Prypjat’ lag irgendwo in diesen europäischen Gebieten. Aber ganz bestimmt nicht in Europa.
Was aber wäre passiert, hätte es nicht Schweden gegeben, das das Thema des Unfalls hartnäckig verfolgte? Wohl überhaupt nichts, außer dem üblichen Verschweigen des üblichen Megaverbrechens. Die Statistik der Krebserkrankungen haben sie sowieso als geheim eingestuft, Schweden hin oder her. War ja nichts Ungewöhnliches in der SU.
Trotzdem gut, dass es den Gegensatz der Systeme gab. Gut, dass Schweden Aufruhr verursachte und auf die Gefahr für Polen hinwies. Gut, dass Polen schon langsam aufhörte, Freund zu sein, und sich immer mehr nach Westen wandte. Diesmal wandte es sich von der radioaktiven Wolke ab – den Atem anhaltend und angeekelt die Nase rümpfend. Gut, dass Polen Angst bekam und das Geschrei Schwedens aufnahm.
Frankreich jedoch hörte nicht auf, Freund zu sein, und stritt alles ab. Keine Gefahr, sagte Frankreich, alles im grünen Bereich. Gut, dass es damals keine Europäische Union gab. Sonst hätte die wieder eine ihrer absolut beschämend-unentschiedenen Entscheidungen (verzeihen Sie das Oxymoron) getroffen – so wie während des Kriegs in Georgien, Hauptsache, die Russen nicht verärgern.
Gut, dass Deutschland die Erfahrung der 1970er Jahre hatte, als Hunderttausende, sogar Millionen sich zu Protestzügen gegen die Atomkraft versammelten, angeführt von einigen Dichtern mit Gitarre und Tröte. Gut, dass die deutschen Grünen schon am 17. Mai einen Sonderparteitag in Hannover abhielten. Der 17. Mai ist der Tag, an dem ich folgende Zeilen schrieb:
Das Blut verändert sich. Fort der Kastanien Weiß-Rot.
Beeilt euch zu leben, übrig nach großer Not.
Gerade hier liegt vielleicht die Rettung – diese Zeit zu sehen
als letztes Erblühen. Sie wird uns schnell vergehen.
Niemand hat verstanden, wovon sie handeln. Walter Mossmann aber, der es natürlich verstanden hätte, wusste noch nichts von ihrer Existenz. „…und ich habe damals versucht“, schrieb er, „mir eine derart verseuchte Landschaft vorzustellen, die hellen Wälder, die Gewässer, die Felder, die Dörfer – verstrahlt. Es ist mir nicht gelungen. Man kann sich kein Bild davon machen.“
Ein Dutzend Jahre später antwortete ich ihm: „Was waren unsere ersten Reaktionen? Sie verstehen heißt verstehen was es bedeutet, den Wind zu fürchten, den Regen, das grüne Gras, das Licht“. Und weiter schrieb ich von der „Anwesenheit eines anderen Todes – nicht spürbar, nicht sichtbar, eines ‚wachsenden Todes’ , eines Todes so bar jeder Form (und nach Hegel also auch jeden Inhalts), dass jeder Widerstand seinen Sinn verlor“.
Die Staatsmacht aber forderte, diesen Widerstand zu leisten. Unbarmherzig warf sie von Anfang an ganze Esquadronen irrer Retter in die Zone – so, wie sie im Krieg Massen von nicht uniformierten, unbewaffneten Männern aus den „soeben befreiten Gebieten“ zur Vorwärtsattacke zwang. Die Staatsmacht befehligte den Widerstand und beschleunigte ihr Ende. Obwohl niemand das vorausgeahnt hat. Es schien, eher würde das Ende der Welt eintreten als das Ende eines so wunderbaren, epochalen Imperiums.
Der Widerstand hieß: Desaktivierung. In der Zone X den Schmutz abwaschen. Was sich nicht abwaschen lässt – in die Erde vergraben . Was sich nicht vergraben lässt – liegen lassen.
Da war aber auch noch ein anderer Widerstand, der im Marodieren bestand. Als hätten die Menschen beschlossen, der Verstrahlung der Materie zu begegnen, indem sie sie aufteilten, also sich fremde Dinge aneigneten. Als ob das, was man aus einem fremden Hause trüge, sofort die tödliche Strahlung verlöre.
Prypjat’ ist daher nicht nur eine verlassene, sondern auch eine geplünderte Stadt, eine Stadt zum Mitnehmen. Daher ihre besondere Anziehungskraft. Keine Stadt mehr, sondern ein von immer neuen Retter- und Liebhaberhorden vergewaltigter Körper.
* * *
In seinen Notizen nennt Walter Mossmann Prypjat’ eine „unvergleichliche Installation“. Auch ich konnte mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich eher um die Fragmente einer bewusst geschaffenen und weiter methodisch fortentwickelten Ausstellung in einer Contemporary Art-and-Ecology Zone handelte – nur dass die Kuratoren monatelang den Bogen überspannten, wovon, auch monatelang, die Dosimeter verrückt spielten. Aber nicht nur sie – etwas später bekennt Walter Mossmann: „Die ganze Stadt Prypjat’ ist eine Installation mit derart vielen Bedeutungsebenen, dass mir der Schädel brummt.“ Ich greife das Brummen seines Schädels auf und versuche, wenigstens die übergeordneten Bedeutungsebenen aufzuzählen – ich will die Frage formulieren, worin die Semiotik von Prypjat’ liegt. Selbst bei mir werden es mehr als zwei Ebenen. Hier die ersten fünf.
• Ökologisch.
• Politisch.
• Sozial.
• Lyrisch.
• Mythologisch
In Zusammenhang mit Letzterem erscheint er – der Freund der Menschen und Feind der Götter, Übermensch und Beinahegott, also der Titan.
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Prometheus, und nicht irgend ein Sabaoth oder Jehova, hat den Menschen aus Lehm erschaffen. Welches Wort dringt zuerst in unser assoziatives Bewusstsein, wenn wir seinen Namen hören? Richtig – „Feuer“. Dabei sollte es „Lehm“ sein, wenn auch roter. Die Bedeutung des von den Göttern um der Menschen willen gestohlenen Feuers kann man nur erfassen, wenn man den Faktor Lehm berücksichtigt – also den Umstand, dass Prometheus sich weiter um seine Geschöpfe aus Lehm sorgen musste. Sorge kann brennend sein. Nur beim Brennen wird Ton hart und stark. Wir können dem Feuer nicht entkommen. Um so weniger, wenn das Feuer in einem Kernreaktor wütet.
Prometheus ist der Liebling der Romantiker. Als hätten sie sich verschworen, besangen sie in ihm, einer nach dem anderen, die aufopfernde Revolte gegen die überkommene Ordnung der Dinge. Nicht verwunderlich, dass sich Schewtschenko in seinem vor allem konkret-politischen Poem „Der Kaukasus“, zuerst von dem lossagen musste, der für dreißigtausend Jahre (was für eine Freiheitsstrafe!) an die Felsoberfläche gekettet ist. Dazu passt auch der Adler – der zwar wohl kaum doppelköpfige, trotzdem aber absolute, imperiale Verzehrer der Leber.
Auch in der Epoche des Sozrealismus blieb Prometheus Liebling – vor allem der spätsowjetischen Elektroenergie. Eine Art Schutzpatron immer neuer Kraftwerke und der dazugehörigen Ansiedlungen. Als sei die Losung von der Elektrifizierung des ganzen Landes seine Erfindung gewesen.
Prypjat’ musste ein Zentrum seines Kultes werden. Der dadurch herauf beschworene nächste Schlag der neidischen und gierigen Götter traf den Reaktor.
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Zweitens natürlich der Stern, der Stern Wermut. Die Verse 10 und 11 aus dem 8. Kapitel der Offenbarung des Johannes wurden bei uns schon im Sommer 1986 breit zitiert, also kaum einen Monat nach der Katastrophe. Wermut ist ein seltsamer, irgendwie sinnloser Name, wenn es wirklich um einen Stern geht – selbst wenn damit ein Komet oder Meteorit gemeint ist. Warum sollte ein kosmischer Körper den Namen einer Wiesenpflanze tragen? Seinen Sinn erhält der Name erst in Zusammenhang mit dem Ort der Katastrophe.
Wermut bedeutet das doppelte A – Apokalypse und Absinth. Beide sind spezielle Extrakte: von geheimem Wissen und von Bitterkeit. Wenn geographische Namen übersetzt würden, dann wäre international nicht vom Tsch-AKW die Rede gewesen, sondern vom AAKW. Von der technogenen Katastrophe nicht in Tschernobyl, sondern in Absinth.
Da ist natürlich noch ein drittes „A“ wie angelus (der dritte Engel, der in die Posaune stieß). Ist nicht er es, den wir zwischen anderen Figuren auf dem erwähnten Glasfenster im Café erkennen, ein weiterer pompejanischer Gruß des Künstlers? Auch wenn er als fliegendes Mädchen verkleidet ist (die Brüste!), auch wenn seine Flügel unsichtbar sind, so verfügt er als wichtigstes und bezeichnendstes Zeichen doch über die Posaune. Engel können keine weiblichen Geschlechtsmerkmale haben, schon gar keine äußeren, denn Engel haben kein Geschlecht. Als Mädchen ausgeben können sich Engel aber schon. Lange Haare und die Abwesenheit der männlichen Geschlechtsmerkmale, selbst der inneren, erlauben das. So einer ist vielleicht der Engel auf dem Glasfenster. Sein Autor wusste es nicht, irgend etwas aber ahnte er. Und Ahnungen sind oft stärker als Wissen.
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Wir fuhren über den Lenin-Prospekt in die Stadt der Elektrischen Sonne ein. Auf dem Platz vor dem Kulturpalast „Energetik“ stiegen wir aus dem Bus, dort, wo der Lenin- den Kurtschatow-Prospekt kreuzt. Eigentlich müsste man in diesen Sätzen überall das Epitaph „ehemalig“ verwenden – mindestens sechs, vielleicht auch sieben Mal. Die Ehemaligkeit ist das erste und wichtigste Kennzeichen von Prypjat’. Sie zwingt dazu, das Gedächtnis einzuschalten, und zwar voll und ganz. Das Gedächtnis muss für alles andere arbeiten, denn alles andere gibt es in Prypjat’ nicht mehr.
In meinen Kinder- und Jugendtagen habe ich oft von Yucatán und seinen verlassenen Dschungel-Städten geträumt. Ich stelle den Vergleich an, obwohl es zu schön und daher unfair scheint, Prypjat’ mit ihnen zu vergleichen. Aber es geht ja darum, wie die Natur sich zurück erobert, was ihr gehört, wie sie zurückkehrt. Es geht um manchmal schon undurchdringliches Gestrüpp, um ehemalige Höfe, Bäume auf Dächern und in Treppenhäusern, um Rehe und Wildschweine, die plötzlich den Prospekt irgend so einer Freundschaft der Völker kreuzen (einer ehemaligen: heute Freundschaft der Viecher), um außerirdische, hypertrophe Pilze, bis zum Hut angefüllt mit Röntgenstrahlen. Die Natur ist zurück und hat sich das Verlorene hundertfach wiedergeholt. Der mitleidslos-unbestechliche Triumph der Natur über das System zeugt von der Unnatürlichkeit eben dieses Systems. Davon, dass die Stelle, wo sich Kurtschatow und Lenin kreuzen, die Grenzen der Ordnung der Dinge überschreitet und entsetzlich gefährlich ist.
Am schlimmsten hat es den Vergnügungspark getroffen, dessen Riesenrad man sich besser nicht mehr nähert. Wie UNSER FÜHRER erzählte, fehlten nur etwa vier Tage bis zur Eröffnung. Sie sollte am 1. Mai stattfinden, alles stand bereit, die Karussells gut geölt, es fehlte nur das Handzeichnen des Direktors, der Tusch des Orchesters, man brauchte nur noch das rote Band durchschneiden und die Massen hereinlassen. Die Bewohner von Prypjat’ zählten, gemeinsam mit ihren Kindern, die Tage: zehn, neun, acht, sieben, sechs, noch fünf Tage bis zur Eröffnung!
Ungefähr genauso lange dauerte es noch bis zum Kommunismus. Davon zeugte der wachsende Wohlstand, die Kiewer Torten, die zu kaufen man sogar aus Kiew nach Prypjat’ reiste. Während ich über zerbrochenes Glas und andere knirschende Überreste stieg, bemerkte ich die unzähligen Gasherde und Kühlschränke im Geschäft „Regenbogen“. Hier ist sie also verwirklicht, diese höchste, diese wirklich allerhöchste, diese Moskauer Versorgungskategorie!
Farbe Nummer Eins der Stadt Prypjat’ sollte die Farbe dieser Herde, Kühlschränke und Waschmaschinen sein – ideales Weiß, die Summe des Regenbogens, Zeichen für Fleckenlosigkeit und Reinheit, Erscheinung absoluter Sauberkeit und Sterilität, Farbe von Kitteln, Flügeln, Aprilgärten und schnellen Booten auf ebenso weißen Tragflächen, die regelmäßig in der Stadt anlegten.
Und wenn wir uns die Engel angezogen vorstellen, dann ist Weiß die Farbe ihrer Spezialkleidung.
Als ich durch den ehemaligen Kulturpalast „Energetik“ streifte, musste ich an den dritten Mythos denken, gleichzeitig das Phantom dieser Stadt. Sein Name ist der HARMONISCHE MENSCH – das von Prometheus geschaffene Muster, Tonprodukt Nr. 1, unermüdlicher und gewissenhafter Arbeiter, glänzender Tänzer mit absolutem Gehör und Samtstimme, Weltmeister im Schach und Schwimmen sowie Akrobatik, Numismatik und Gymnastik. Auf dem stark abgeblätterten Wandgemälde im Foyer vereinigten sich ARBEITER, INGENIEURE und WISSENSCHAFTLER in neuartiger Dreieinigkeit mit vorbildlichen BAUERN und drehten sich glücklich im Tanz. Im Konzertsaal klang noch das Echo der sowjetischen Pop-Sänger Leontjew, Antonow und Rotaru, ihr „Lavendel“, und anderer.
Später in der Werkstatt des Klubs, die voller Portraits der Politbüro-Mitglieder stand, versuchte ich, mich ihrer Namen zu erinnern. Bei der Armee mussten wir sie auswendig lernen, um diese ganzen Gutmenschengesichter im Falle eines Falles unterscheiden zu können. Wie aber Woronow von Kapitonow unterscheiden? Ustinow von Tichonow? Gromyko von Kunajew? Oder – noch komplizierter – wie in Solomenzew Worotnikow erkennen? Wie das Ideale vom Idealen unterscheiden? Das Positive vom Positiven? Das Vollendete vom Harmonischen? Das Gute vom Besseren?
Die Stadt Prypjat’ starb, weil sie unfähig war, auf diese Fragen Antwort zu geben. Der HARMONISCHE MENSCH hielt seinen eigenen Fortschritt nicht aus und verschluckte sich vor Glück.
* * *
P.S. Aus den Erzählungen UNSERES FÜHRERS ist mir auch Folgendes in Erinnerung geblieben. Während der Neujahrstage 1986 stürzte der riesige städtische Tannenbaum vor dem Kulturpalast „Energetik“ zweimal um. Kaum einer der Stadtbewohner schenkte diesem Vorzeichen Beachtung.
Andruchowytsch, Juri
(*13. März 1960 in Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk)), ukrainischer Schriftsteller. Begründete 1985 zusammen mit seinen Freunden Oleksander Irwanets und Viktor Neborak die heute schon legendäre literarische Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu. Bis heute hat er fünf Gedichtbände sowie fünf Romane veröffentlicht. Andruchowytsch verfasst literarische Essays und übersetzt aus der deutschen, polnischen, russischen und englischen Sprache. Im Jahre 2000 publizierte er in Polen zusammen mit dem polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk das Band „Mein Europa“ (deutsche Ausgabe: edition suhrkamp, 2004). 2005 ist beim Suhrkamp Verlag sein Roman „Zwölf Ringe“ erschienen, 2006 - „Moscoviada“ und 2008 – „Geheimnis“.Herder-Preis der Alfred Toepfer Stiftung, Hamburg (2001), spezieller Erich-Maria Remarque Friedenspreis der Stadt Osnabrück (2005) und Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2006). Juri Andruchowytsch verfasste aus Anlass des 25. Jahrestags der Reaktorkatastrophe den Essay „Der Stern Absinth. Notizen zu einem verbitterten Jubiläum“.
Dossier
Tschernobyl 25 – expeditionen
Am 26. April 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Nicht nur Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden verstrahlt. Die radioaktive Wolke überzog halb Europa. Die Katastrophe war aber nicht nur eine ökologische. Die Entwicklung der Kultur einer ganzen Region wurde unwiderruflich gestoppt. Die Ausstellung „Straße der Enthusiasten“, Lesungen, Diskussionen und ein internationales Symposium erinnern an den GAU und fragen, ob eine weltweite Renaissance der Atomkraft tatsächlich Realität wird.