Archiviert | Inhalt wird nicht mehr aktualisiert

Jugendproteste in Spanien: Bürger fordern demokratische Reformen

Das Kaufhaus „El Corte Inglés“ ist eine schicke Adresse am „Puerta del Sol“ im Herzen Madrids. Wegen Renovierung ist die Vorderseite des Gebäudes von einem riesigen Werbeposter einer französischen Kosmetikfirma verdeckt. Diese Werbetafel ist zur Pinnwand der „Revolution der Empörten“ geworden, der Protestbewegung der jungen Generation in Spanien. Mit unzähligen bunten Bannern und Postern haben die Demonstrierenden das Plakat beklebt, das inzwischen kaum noch zu erkennen ist. Die Spruchbänder sind Denkzettel für die politische Klasse und Abmahnungen an die Finanz- und Wirtschaftselite des Landes.

Aus einem Sitzstreik auf Decken und Pappkartons entwickelte sich innerhalb weniger Tage ein Habitat, in dem soziale Utopien ausgelebt werden. Rasch errichteten die Aktivisten Informationsstände und ein Kommunikationszentrum, gründeten eine Freiwilligen-Agentur, bauten Erste-Hilfe-Zelte auf  und betrieben sogar eine katalogisierte Bibliothek. Um einen Springbrunnen pflanzten „Urban Gardeners“ Tomaten, Paprika und Mais an. In der „Bewegung des 15. Mai“ engagieren sich vor allem junge Menschen zwischen 20 und 35. Viele studieren noch oder haben gerade ihren Abschluss gemacht. 

„No nos representan!“ - „Sie repräsentieren uns nicht!“

Die Proteste drücken eine tiefe Unzufriedenheit mit der politischen Führungsschicht aus, von der sich viele weder gehört noch repräsentiert fühlen. Kritisiert wird die gesamte „politische Klasse“ in Regierung und Opposition, aber auch geschlossene Machtzirkel in Bürokratie und Gewerkschaften. Die Aktivisten fordern die Reform des institutionellen Systems und eine „wirklich demokratische“ Kultur. Wie die Demokratie technisch verbessert werden könnte, wird auch außerhalb des „Sol“ diskutiert. Politikwissenschaftler weisen unter anderem darauf hin, dass das Wahlgesetz geändert werden müsse. Damit sollen kleineren Parteien bessere Chancen auf einen Einzug ins Abgeordnetenhaus bekommen, um so die vielfältigen politischen Meinungen der Bevölkerung besser abzubilden. Die spanischen Wähler resignieren angesichts des Mangels an politischen Alternativen. Deshalb gehen sie nicht wählen oder machen ihre Stimmen ungültig. Bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai 2011 lag die Wahlbeteiligung bei 67%, der Anteil an ungültigen Stimmen war ungewöhnlich hoch.

„Ohne Arbeit, ohne Haus, ohne Angst!“

Neben diesem Demokratiedefizit ist es ihre wirtschaftliche und soziale Lage, welche die jungen Menschen auf die Straße bringt. Viele junge Spanier haben während der Bauboom-Jahre auf eine Ausbildung in wissensbasierten Berufen verzichtet oder die Schule abgebrochen, um schnelles Geld zu machen. Nachdem die Immobilienblase geplatz ist, stehen sie ohne Job und Perspektive da. Aber auch unter Akademikern ist die Arbeitslosigkeit um ein Vielfaches höher als im Rest Europas. Die Arbeitslosen-Quote beträgt insgesamt 20%, bei den unter 25-Jährigen bis zu 40%. Dazu kommt, dass ein Drittel  aller Arbeitsverträge befristet sind. Davon wiederum sind Frauen und junge Menschen besonders stark betroffen.

Neben der politischen Klasse ist es die Elite des Finanzkapitals, „los banqueros“, der die Empörung und Wut gilt.  An der Pinnwand am „Puerta del Sol“ sticht ein Bild hervor: Heinrich Himmler mit Micky-Maus-Ohren und einer SS-Mütze, auf der anstatt des Totenkopfes das Eurozeichen prangt. Man kann dies lesen als Abstrafung der Kultur billiger Kredite und Verschuldung. Der politisch zu wenig kontrollierte und regulierte Finanzmarkt ist für viele Aktivisten das grundlegende Problem. Die Ablehnung dieser Kultur erklärte der Soziologe Jaime Pastors kürzlich zum gemeinsamen Nenner der gesamten Protestbewegung.

Kein Arabischer Frühling in Madrid

Die Mitglieder der „Bewegung des 15. Mai “ sagen, dass ihnen die Revolutionen in Tunesien und Ägypten als Inspiration dienten. Aus unabhängiger Perspektive kann man die arabischen Aufstände aber nicht mit den Demonstrationen in Spanien gleichsetzen. Die Ausgangsbedingungen und die Ziele der Bewegungen sind völlig unterschiedlich. Derzeit versuchen Aktivisten via twitter, Facebook und E-Mail-Verteiler, das spanische Camp-Modell á la „Toma la Calle“ (Nimm die Straße) in anderen Städten weltweit nachzumachen.

Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob aus der Empörung Handlungen hervorgehen, die konkrete Veränderungen im politisch-institutionellen System bewirken. In empirischen Untersuchungen wie dem European Social Survey wird der spanischen Bevölkerung bisher ein geringes politisches Interesse und eine tendenziell geringe politische Beteiligung bescheinigt. Die Zahl der politisch „Apathischen“ ist sehr hoch, wie auch in Portugal und Griechenland. In diesem Klima müssen die „Indignados“ (die Empörten) sich behaupten. Der Schriftsteller José Luis Sampedro, der das Vorwort zu Stephané Hessel „Empört Euch!“ schrieb, prognostiziert in Interviews einen anhaltenden Widerstand, der die politische Kultur im Sinne der „Indignados“ verändert wird.


Stefanie Groll ist Politikwissenschaftlerin und beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit mit der „Rolle der Universität in der Zivilgesellschaft“.