Befragt werden im Rahmen einer qualitativ-explorativen Studie Alt- bzw. Stammwähler der Grünen (Wahl der Bündnisgrünen bei den letzten beiden Landtagswahlen) und Neuwähler (nicht Erstwähler) in getrennten Gruppen. Die Neuwähler werden zusätzlich gesplittet entsprechend ihres sozioökonomischen Hintergrundes: Einmal eine Gruppe, in denen die Befragten weniger als 100 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung hatten und eine Gruppe, in der das Haushaltsnettoeinkommen in einer Spannbreite von 100 bis 200 Prozent über dem Durchschnitt liegt.
Die Interviews finden statt in den Ländern Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsenanhalt, jeweils in einer „Hochburg“ der Grünen, in einer Stadt und in einem ländlichen Gebiet. Pro Erhebungsort werden somit drei Gesprächsgruppen zusammengestellt.
Kern der Gespräche, die auf dem Hintergrund eines Leitfadens geführt werden, sind die individuellen Wertvorstellungen der Teilnehmer, ihre Krisen- und Politikwahrnehmungen sowie ihre Zukunftshoffnungen. Um einer Verfälschung der Ergebnisse vorzubeugen, werden die Teilnehmer nicht zu einer offensichtlich politischen Diskussion eingeladen, sondern sie müssen davon ausgehen, dass das Thema Leben im jeweiligen Bundesland ist.
Bis jetzt liegen die Ergebnisse aus Baden-Württemberg vor, sie sind durchaus spannend und regen zu einer weiterführenden Diskussion an. Im Folgenden sollen die Ergebnisse zu den Wertedimensionen exemplarisch für den informativen Charakter der Studie vorgestellt werden.
Gerechtigkeit ist allen Gruppen ein zentraler Wert, nur gibt es keine verbindende Definition. Für die unterdurchschnittlich verdienenden grünen Neuwähler ist er stark konnotiert mit gerechter Bezahlung und der Abwendung von Prekarisierung. Ungerechtigkeit muss nicht konkret sein, sondern definiert sich vielmehr über gefühlte Ungerechtigkeit, z.B. bei den gut verdienenden Neuwählern hat man als Leistungsträger das Gefühl, zu wenig zu bekommen und zu viel zahlen zu müssen. Die Altwähler verfügen über keine verbindende Klammer bezüglich der Definition von Gerechtigkeit.
Eigenverantwortung wird befürwortet unter der Prämisse Hilfe zur Selbsthilfe, spielt aber in den unterdurchschnittlich verdienenden Gruppen eine deutlich geringere Rolle, wo stark der Aspekt der Überforderung betont wird. Die besser verdienenden Neuwähler sehen sich eher als des eigenen Glückes Schmied. Eigenverantwortung gilt den Stammwählern vor allem als Handlungsanweisung an das Selbst.
Nachhaltigkeit wird als Aufgabe der heutigen für die kommenden Generationen begriffen und wird somit in den Kontext der Generationengerechtigkeit gestellt. Bei den Altwählern wird zusätzlich der Aspekt der Ökologie betont sowie Nachhaltigkeit als Alternative zu einer entfesselten Wirtschaft und kurzfristigen Politik.
Leistung wird eher kritisch gesehen, das Versprechen von Aufstieg durch Leistung ist obsolet geworden. Die besser verdienenden Neuwähler sehen Leistung im Prinzip als etwas Gutes, die Leistungsbereitschaft der Leistungsträger werde aber nicht mehr ausreichend gewürdigt. Kurzum: Leistung lohnt sich nicht mehr. Bei den Altwählern ist der Leistungsgedanke sehr ambivalent und wird durch den Leistungsdruck abgewertet.
Fortschritt wird nur in Verbindung mit Nachhaltigkeit und Verantwortung als positiver Wert gesehen, die generelle Fortschrittsmetaphorik wird hinterfragt. In den besser verdienenden Gruppen herrscht ein tendenziell positiveres Verhältnis zum Fortschritt vor, eine blinde Fortschrittsgläubigkeit existiert aber nicht.
Voraussetzungslose Solidarität findet sich nur noch bei den unterdurchschnittlich verdienenden Neuwählern. Entfernt sich der Empfänger von Solidarität aber zu weit von der eigenen Lebenswelt, so findet diese hier auch ihre Grenze: der Länderfinanzausgleich oder gar EU-Hilfen werden abgelehnt. Bei den Besserverdienenden spielt Solidarität kaum eine Rolle, sie ist schon gar nicht voraussetzungslos. Betont wird die Solidarität der Bürger gegenüber dem Staat. Bei den Stammwählern spielt Solidarität als eigenständiger Wert keine Rolle, sondern er wird nur im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit genannt, als Solidarität mit nachfolgenden Generationen.
Finden sich nun Indizien für einen Wertewandel? Auch wenn eine Antwort auf Grundlage einer qualitativen Studie nur schwer zu geben ist, so zeigen die bisherigen Befunde doch folgendes: Verbindende Argumentationslinien zwischen allen Gruppen sind die Generationengerechtigkeit mit eher ökologischer als sozialer Stoßrichtung und die Erosion des Leistungsgedankens. Die Autoren formulieren „Wenn überhaupt, so steht der Wertewandel, der den Grünen dauerhaft nutzen kann, gerade erst vor der Tür.“ Ein solides Wertefundament, über das sich alte und neue Wähler verständigen können, existiert (noch) nicht.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Studie Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel? nicht nur handwerklich solide gearbeitet ist, sondern auch neue bzw. differenziertere Einsichten in den Wertehorizont und das Politikverständnis grüner Stamm- und Neuwähler vermittelt. Man darf auf die Ergebnisse aus anderen Bundesländern gespannt sein.