Seit einigen Jahren besteht in den Mitgliedsstaaten der EU die Tendenz, die Nachbarn der EU nur als Problem wahrzunehmen. Die Beziehungen zu diesen Nachbarn, so eine weit verbreitete Ansicht, sollten sich auf Handel und die Begrenzung der Migration beschränken. Die jüngsten Entwicklungen in Nordafrika haben gezeigt: Die EU muss eine neue Nachbarschaftspolitik entwickeln. Dies gilt zuallererst für den Mittelmeerraum, aber auch für die Länder im Osten, die man bislang bewusst in einem Schwebezustand zwischen Nachbarschaft und EU-Beitritt hat hängen lassen.
Die Erweiterung der EU ist ins Stocken geraten. Grund dafür sind nicht zuletzt erhebliche Fehler bei der letzten Erweiterung von 2007, bei der die Kopenhagener Kriterien – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte – vernachlässigt wurden. Innerhalb der EU ist die Bereitschaft, weitere Staaten aufzunehmen, deutlich zurückgegangen. Bei den potentiellen Kandidaten verfestigt sich der Eindruck, die EU habe das Interesse an neuen Mitgliedern verloren.
Die EU möchte mit ihrer Nachbarschaftspolitik die Beziehungen zu den Nachbarstaaten harmonisieren und um Europa herum einen „Ring von Demokratien“ aufbauen. Zudem soll der Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts durch die Aufnahme neuer Staaten erweitert werden. Die bisherige Devise der EU-Nachbarschaftspolitik war: im Süden Stabilisierung, im Osten Homogenisierung. Dass die Stabilisierungs- und Außenhandelspolitik der EU und der Mitgliedsstaaten zu Lasten von Menschenrechten und Demokratie ging, wurde dabei in Kauf genommen.
Die Europäische Union ist an einem Punkt angelangt, wo es kein „Weiter so!“ geben kann. Sie muss ihre Beziehungen zu den Nachbarstaaten neu ausrichten. Zum einen muss sie ein klares Signal an all jene Nachbarn senden, die eine reelle Chance haben, eines Tages in die EU aufgenommen zu werden. Beitrittszusagen, die permanent in Frage gestellt werden (wie im Fall der Türkei), vergiften die Beziehungen und untergraben die Glaubwürdigkeit der Union. Wir plädieren dafür, dass die EU ihr Versprechen erneuert, alle europäischen Staaten aufzunehmen, die die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen. Dies setzt allerdings voraus, dass die EU ihre Strukturen und Entscheidungsprozesse so weiterentwickelt, dass sie mit einer wachsenden Zahl heterogener Mitgliedstaaten umgehen kann, ohne handlungsunfähig zu werden.
Gleichzeitig sollte die EU ihre Nachbarschaftspolitik konsequenter an ihren Werten ausrichten. Positive Konditionalität ist hierfür ein wichtiges Mittel und kann erfolgreich sein, wenn sie einen Schwerpunkt bei der Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen legt. In den Gesellschaften, deren politischer Kurs strittig und deren politische Kultur von europäischen Standards weit entfernt ist, sollte die EU mit Nachdruck die demokratische Zivilgesellschaft und eine pluralistische Öffentlichkeit unterstützen und durch liberalere Visaregelungen insbesondere den Kontakt zwischen jungen Menschen fördern. Es geht darum, den Nachbarstaaten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung eine realistische Perspektive für zukünftige Integrationsschritte aufzuzeigen.
Für ein neues Verhältnis der EU zu ihren Nachbarn
Zur Zukunft der europäischen Erweiterungs- und NachbarschaftspolitikVon Joost Lagendijk
sowie Kai-Olaf Lang, Cornelius Ochmann, Rachid Ouaissa, Manuel Sarrazin, Isabel Schäfer
Redaktion: Christine Pütz, Heinrich-Böll-Stiftung
Das vorliegende Papier ist das Ergebnis der einjährigen Arbeit der Fachkommission "Europäische Nachbarschafts- und Erweiterungpolitik" der Heinrich-Böll-Stiftung. Es ist im Laufe mehrerer Sitzungsrunden durch mündliche und schriftliche Kommentare sowie durch Textbeiträge der genannten Expertinnen und Experten gemeinschaftlich entstanden. Das Papier repräsentiert nicht zwangsläufig in jedem Punkt die Meinung jedes Mitglieds der Fachkommission.
Dossier
Zur Zukunft der EU
Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden. Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die in der Studie "Solidarität und Stärke" erarbeitet wurden, werden im Dossier genauso wie diejenigen der Expert/innenkommission, vorgestellt.