Demokratisierung war eines der Versprechen, mit denen unter anderem die deutsche Politik ihre Bevölkerung von einem Einsatz in Afghanistan zu überzeugen versuchte. Partizipative Strukturen, die Befreiung der Frauen aus dem Joch überkommener Traditionen, Menschenrechte – all das stand auf der Agenda und ist über die Jahre immer stärker in den Hintergrund getreten. Zu groß ist die Enttäuschung darüber, dass vieles nicht oder nur mit großen Abstrichen erreicht werden konnte. Ist die Lehre aus dem Versagen Verzagen? Sollte mit dem Abzug 2014 politikwissenschaftlich auch die Abkehr von der Demokratisierung als Friedensstrategie eingeläutet werden?
Im Lichte der Anschläge vom 11. September 2001 wurden über Nacht Regimesturz und Systemtransformation zum Paradigma der amerikanischen Neocons. Dem konnte sich in der damaligen aufgeheizten Stimmung kaum ein Politiker verschließen. Wenn man nicht nur den Fall eines Unrechtsregimes, sondern gleichzeitig für demokratische Strukturen sorgt, so die Logik, würde die Welt ein friedlicherer Ort. Weder für die Welt noch für die beiden Länder, die hier ins Visier genommen wurden, hat sich das bewahrheitet. Sowohl im Irak als auch in Afghanistan ist der Alltag weiterhin von Gewalt und Unsicherheit geprägt. Gute Regierungsführung ist ein fernes Ziel, und der irakische Präsident Nouri al-Maliki ebenso wie in Afghanistan Präsident Hamid Karzai regieren entweder autokratisch oder durch Machteliten, denen es an demokratischer Legitimation fehlt. Entsprechend groß ist die Enttäuschung über die geringe Wirksamkeit der eingesetzten Mittel. Schuld an der Desillusionierung ist jedoch auch die Art, in der die Entwicklungen über Jahre dargestellt wurden. Lange Zeit hat die Bundesregierung bezüglich der Entwicklungen in Afghanistan nur über die Erfolge gesprochen – ungeachtet immer offensichtlich gegenläufiger Momente. Kein Wunder also, dass die Erkenntnis, dass vieles nicht so läuft wie geplant, auch das Konzept der Demokratisierung in Frage stellt. Je mehr die Situation in Afghanistan sich verschlechterte, desto bestrebter war die inter- nationale Gemeinschaft, sichtbare Indikatoren einer positiven Entwicklung zu bestimmen. Ein gutes Beispiel dafür, wie hier Idee und Realität auseinanderklaffen, waren die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2009 bzw. 2010.
Kein Zweifel, Wahlen sind ein essentieller Bestandteil eines demokratischen Staatswesens. Beim Lobpreis dieser beiden Wahlen jedoch beschränkte sich die internationale Gemeinschaft darauf, das pure Abhalten der Wahlen bereits als positives Zeichen zu werten. Das wurde höher bewertet als die Umstände, unter denen die Wahlen und die Stimmauszählung stattgefunden hatten. Die stillen Helden derweil waren die Kommissare der Wahlbeschwerdekommission (ECC). Regelmäßig hatten sie vor den Wahlen auf öffentlichen Veranstaltungen über ihre Arbeit berichtet und waren von vielen internationalen Beobachtern dafür belächelt worden. Das lag daran, dass eine Vielzahl der von ihnen angeprangerten Verstöße sich auf Belanglosigkeiten zu beziehen schienen. Kandidaten wurden mit Bußgeldern belegt, weil sie zu nah an den Wahllokalen plakatiert hatten oder aufgrund von Verfahrensfehlern von der Wahl ausgeschlossen. Für internationale Beobachter, die bereits im Vorfeld viel gravierendere Verstöße bemerkt hatten, wirkte das, als sei die Kommission ein zahnloser Tiger. In Afghanistan selbst brachten jedoch schon diese vergleichsweise geringfügigen Vorwürfe die Beschwerdekommission in erhebliche Bedrängnis. Einige Kandidaten bedrohten und drangsalierten die afghanischen Kommissionsmitglieder. Auf Seiten afghanischer Analysten genoss das Wirken der Beschwerdekommission dagegen Respekt: „Es passiert in unserem Land selten,“ sagte eine von ihnen, „dass jemand akribisch auf die Einhaltung der Regeln pocht. Die meisten Entscheidungen werden willkürlich getroffen. Das ist das erste Mal, dass eine Institution sich pragmatisch an bestehendem Recht abarbeitet.“ Letztlich war es auf die Unbeirrbarkeit der ECC zurückzuführen, dass festgestellt wurde, dass Präsident Karzai die Mehrheit knapp verfehlt hatte. Ein zweiter Wahlgang kam nur deswegen nicht zustande, weil sein engster Rivale sich daraus zurückzog. Das offenbart ein anderes Problem der Demokratisierung in Afghanistan: Passiv gibt es ein großes und in allen Bevölkerungsschichten vorhandenes Interesse, gefragt zu werden. Obwohl klar war, dass es bei den Wahlen zu Manipulationen und Gewalt kommen würde, interessierten sich viele afghanische Bürgerinnen und Bürger für den Prozess und gaben ungeachtet der angespannten Situation ihre Stimme ab. Ganz profan zeigt sich das Interesse an Abstimmungen auch bei der Fernsehshow „Afghan Star“, einer Variante von „Deutschland sucht den Superstar“, bei der sich jedes Jahr auch die Bewohner ländlichster Regionen mit Begeisterung per SMS am Wahlentscheid beteiligen.
Schwieriger ist die aktive Seite der Politik, denn generell scheint das Interesse am Status, den ein Amt mit sich bringt, größer als die Bereitschaft, die damit einhergehende Verantwortung zu übernehmen. Verdenken kann man es den Kandidatinnen und Kandidaten nicht. Wer sich in Afghanistan öffentlich präsentiert, muss ob der labilen Sicherheitslage weiter um sein Leben fürchten. Insofern haben wenige Politiker Interesse, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Konservativen Kreisen etwas entgegenzusetzen, erfreut sich weiterhin geringer gesellschaftlicher Toleranz, was erklärt, warum in einigen Bereichen, die dem Westen besonders am Herzen liegen, deutlich mehr Zeit gebraucht wird, um diese in Afghanistan umzusetzen.
Ähnlich wie in anderen Ländern kommt erschwerend das mangelnde Vertrauen der Politiker in die eigene Bevölkerung und deren Entscheidungskompetenz hinzu. Kaum etwas hätte die verächtliche Haltung der Amtierenden gegenüber den Wählern deutlicher machen können, als es bei der Eröffnung des „Wahl-Medienzentrums“ in den Außenbezirken Kabuls geschah: Als am Buffet die Mülleimer fehlen, holte man rasch zum Ersatz Wahlurnen. Kritiker führen gern ins Feld, dass das Konzept der Demokratie kulturell und traditionell inkompatibel sei. Bei diesem paternalistischen Diktum wird zweierlei außer Acht gelassen. Erstens sind viele der traditionellen Machtstrukturen durch die jahrzehntelangen gewalttätigen Auseinandersetzungen zerstört oder stark beschädigt worden. Daher findet im Zuge der Demokratisierung nicht die Ersetzung funktionierender Strukturen durch dysfunktionale statt, sondern es geht darum, in einem volatilen Umfeld überhaupt verlässliche politische Strukturen zu etablieren. Zweitens basieren traditionelle Entscheidungsmechanismen in Afghanistan nicht nur auf einer starken Führungspersönlichkeit, sondern gleichermaßen auf Konsens. Shuras und Jirgas dienen nicht zuletzt dem Dialog. Sie als demokratische Mechanismen in unserem Sinne zu begreifen, führt insofern zu weit, als die Teilhabe an Entscheidungen Männern vorbehalten ist und das Prinzip der Seniorität selbst hier zu starken Beschränkungen führt. Mit einer im Durchschnitt immer jüngeren Gesellschaft – rund 45% der afghanischen Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt – und der in der Verfassung festgeschriebenen Gleichberechtigung der Geschlechter ist dies nicht kompatibel.
Konsens und damit Inklusion als Wert ist jedoch ein nicht zu unterschätzender Anknüpfungspunkt, um den Stand der Demokratie zu stärken.
Eine Lehre aus den Zuständen in Afghanistan und Irak gleichermaßen ist, dass Demokratisierung von innen getragen werden muss. In beiden Fälle hat die internationale Gemeinschaft sich auf eine Auslandsopposition gestützt, ohne sich über Demokraten im Land selbst Gedanken zu machen, und in beiden Fällen hat sie versucht, den Fahrplan zu bestimmen, ohne sich mit den Betreffenden auf das Tempo zu einigen. Das Beispiel Afghanistan spricht also nicht für den Abschied von der Demokratie, wohl aber für eine Abkehr von dem Gedanken, dass man einen Staat von außen in die Demokratisierung drängen kann.
Dieser Artikel ist zuerst am 7.12.2011 in Powision erschienen.