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EU-Gipfel: Etwas ist geschehen, aber was eigentlich genau?

Wer weiß wenigstens ungefähr, wie nah am Abgrund die Eurozone und mit ihr, folgt man der Kanzlerin, dann auch die EU sich befindet? Wie dramatisch ist die Situation oder wie wird sie dramatisiert? Vor dem allerjüngsten Gipfel der EU stimmte Die Zeit in einem Leitartikel auf all die Schicksalsfragen nachdrücklich ein, die dort angeblich zur Entscheidung standen: „An diesem Freitag“ – zum Glück war es nicht der 13., sondern erst der 8. Dezember – „geht es in Brüssel um unser Geld, um unsere Souveränität, um unser Gewicht in der Welt. Es geht in einem Wort, um die Zukunft Europas. Man spürt es, wie der ganze Kontinent auf den Befreiungsschlag wartet. Es muss etwas geschehen. Jetzt. Alle wissen es.“ Wird Borussia Mönchengladbach es an die Tabellenspitze schaffen, wie wird Dortmund spielen oder wird am Ende wie gehabt, weiter Bayern München an der Tabellenspitze stehen, weil Gomez gegen seinen alten Verein getroffen hat? Auch das waren lauter Schicksalsfragen. Bundesliga erscheint nicht umsonst bei Google vor dem Bundestag. Ein weites Feld, auf dem Woche für Woche Befreiungsschläge erwartet werden. Und dann zieht es sich doch immer eine ganze Saison hin. Vielleicht hat Matthias Nass einfach das Ressort verwechselt. Oder hat er gedacht, er schreibe einen Ausblick auf die Münchner Konferenz von 1938? Es muss etwas geschehen. Jetzt! Ganz selten stimmt das. Und wenn es stimmt, sind es nicht die guten Vorsätze, von denen alles abhängt.

Doktor Murkes gesammeltes Schweigen

In Heinrich Bölls Bändchen über Doktor Murkes gesammeltes Schweigen, veröffentlicht 1958 mitten in den schönsten Zeiten des Wirtschaftswunders, gibt es ein kleines Stück mit dem Titel Es wird etwas geschehen. Im Untertitel wird eine handlungsstarke Geschichte versprochen. Diese Satire musste einem in den Kopf kommen bei der Lektüre des Leitartikels in Die Zeit einen Tag vor dem EU-Gipfel. Souverän bleiben hieß es in der Überschrift: „Jetzt entscheidet sich das Schicksal Europas. Warum die Staaten keine Angst haben dürfen, Macht zu verlieren“.

Bei Heinrich Böll erkämpft sich ein eher gemütlich gestimmter Jobsucher einen Arbeitsplatz in Alfred Wunsiedels Fabrik. Bei der Bewerbung verspricht er auf alle Fragen immer ein paar Punkte mehr, als man füglich von ihm erwarten durfte. Am Arbeitsplatz kommt es dann darauf an Wunsiedel, wenn er die Büros abschreitet und den Schlachtruf „Es muss etwas geschehen!“ ausstößt, ohne Zögern zuzurufen und dabei zu strahlen: „Es wird etwas geschehen!“ Doch dann kommt eines Tages die Antwort nicht schnell genug und etwas geht schief. „Es ist etwas geschehen“, meldet der kleine Angestellte dem stellvertretenden Chef: „Herr Wunsiedel ist tot.“ Die Hektik der Scheinaktivitäten endete letal. Man kann hoffen, dass Matthias Nass Doktor Murkes gesammeltes Schweigen nie gelesen hat. Sein „Es muss etwas geschehen“ klingt unschuldig.

Der Held von Bölls Geschichte führt den stellvertretenden Chef zur Leiche. „,Nein‘, sagte Broschek, ,nein‘. ‚Es muss etwas geschehen‘, sagte ich leise zu Broschek. ‚Ja‘, sagte Broschek, ,es muss etwas geschehen‘.“ Beim Begräbnis entdeckt der Held sein Talent zum „berufsmäßigen Trauergang“, bei dem „Nachdenklichkeit gerade erwünscht und Nichtstun meine Pflicht ist.“ Resümierend meint er abschließend: „Spät erst fiel mir ein, dass ich mich nie für den Artikel interessiert habe, der in Wunsiedels Fabrik hergestellt wurde. Es wird wohl Seife gewesen sein.“ Wo dauernd etwas geschehen muss, bleibt keine Zeit um genauer hinzusehen, was eigentlich vor sich geht.

Es wurden kleine Brötchen gebacken

Um all das Große, was Matthias Nass auf dem Gipfel zur Entscheidung gestellt sah, ging es eher nicht. Es ging um die Papierlösung alter Fragen, die auf dem Papier von Anfang an gelöst waren. Die Bundeskanzlerin und der französische Präsident strebten zur Bekräftigung und letztlich vielleicht doch noch ernsthaft angestrebten Durchsetzung der Vorgaben des Maastrichter Vertrages und der Stabilitätskriterien der Währungsunion eine Änderung des Lissabonner Vertrags an, also die Einhaltung eines Vertrages, der wie ein Fetzen Papier behandelt worden war, durch eine Verschärfung des Wortlauts des Vertrages.

Offensichtlich versprach sich Frau Merkel von einer Vertragsänderung ein höheres Maß an Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten. Der bisherige Umgang mit dem Maastrichter Vertrag und dem Stabilitätspakt gab eigentlich keinen Anlass zu dieser Hoffnung. Es fehlte ja nicht an vertraglicher Verpflichtung auf eine „Fiskalunion“, auf eine koordinierte solide Haushaltsführung der Mitglieder der Eurozone. Es fehlte am politischen Willen, sich an die Verpflichtung zu halten. Um diesen Willen erneut zu bekräftigen, hätte, wie Ratspräsident Herman Van Rompuy angeregt hatte, auch ein Zusatzprotokoll zum Lissabonner Vertrag gereicht.

Die Glaubwürdigkeit der Regierungen der Eurozone wird nur durch besseres Regieren zurückgewonnen, nicht durch besser gemeinte Versprechen. Aber der Bundesregierung ging es ums Prinzip einer verschärften Regelung im Vertrag. Indem es ihr ums Prinzip ging, lud sie den britischen Premier geradezu ein, im Austausch ein anderes Prinzip statuiert zu bekommen: die Souveränität der Londoner City. So kam es zu der merkwürdigen Situation, dass Cameron eine Regelung, gegen deren Inhalt er eigentlich nichts hatte, verhinderte, weil seine Partner einem Tauschhandel nicht zustimmen konnten, bei dem sie einer zum Prinzip erhobenen Formalie zuliebe Großbritannien ein politisches Zugeständnis machen sollten, das bestehendes Gemeinschaftsrecht ausgehebelt hätte.

Es kam wie es kommen musste. Deutschland und Frankreich scheiterten mit dem Vorhaben einer Vertragsänderung und Cameron brachte keinen Tauschhandel zu Stande, der Großbritannien eine weitere Ausnahme, ein neues Privileg, eingeräumt hätte. Stattdessen wurde beschlossen, unter den Mitgliedern der Eurozone und weiteren Mitgliedern der EU, vielleicht allen außer Großbritannien, einen zusätzlichen Vertrag zu vereinbaren, der bis zum März nächsten Jahres unterschriftsreif sein soll. Damit aber sind die Bedingungen für einen Dauerkonflikt geschaffen. Während einerseits versucht werden soll, den neuen Vertrag möglichst eng in den institutionellen Rahmen der EU einzupassen, kündigte andererseits Cameron an, er wolle diesen Rahmen nutzen, um sein gescheitertes Veto doch noch in entscheidenden Einfluss auf das neue Gebilde umzumünzen. Zwar ist jetzt viel von der Spaltung der EU die Rede, viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass ein ungeregeltes Handgemenge ausbricht. Tatsächlich ist ja die Eurozone selbst alles andere als ein einheitlicher harter Kern. Falls sich alle verbliebenen EU-Mitglieder außer Großbritannien an dem neuen Vertragsvorhaben beteiligen sollten, werden sie dies mit mehrfach abgestuftem Engagement tun. Es droht eine Fragmentierung der EU. Die Parlamente, das europäische und die nationalen, werden, wenn sie nicht übermäßig aufpassen, das Nachsehen haben.

Guter Rat bleibt teuer

Wie den unmittelbaren Schwierigkeiten mehrerer, vielleicht bald aller Eurostaaten mit neuen Krediten fällige alte Kredite abzulösen, begegnet werden kann, bleibt nach dem Gipfel weiter unklar. Wird der neue Vertrag wie erhofft tatsächlich bis zum März nächsten Jahres zustande gebracht, wird er, sollte er im Sinne seiner Befürworter tatsächlich eingehalten werden, erst in Jahren Wirkung zeigen. Es ist ja richtig, dass eine tiefgreifende Korrektur im Verhältnis von Staaten und globalem Finanzsystem nur durch eine neue Finanzpolitik der Staaten erreicht werden kann. Es ist ja nicht so, wie der Talkshow-Frontmann der Linken Oskar Lafontaine behauptet: Die Banken sind keine Schuldenmaschine. Indem sie ihre Fähigkeit, Kredite zu geben mit windigen Methoden immer weiter ausdehnten, erweiterten sie zwar die Möglichkeiten, Schulden zu machen. Aber machen mussten die Schulden andere. Zur Finanzkrise kam es, weil die Schulden nicht mehr bedient werden konnten.

Die Schuldenkrise hatte eine Kreditblase zur Voraussetzung, bleibt aber zunächst eine Krise der Schuldner, die sich übernommen haben. Die Staatsschuldenkrise besteht ja gerade darin, dass Banken und Fonds keine neuen Anleihen zu alten Bedingungen kaufen wollen oder gleich ganz die Hände von Staatsanleihen lassen. Banken verdienen an den Schulden der anderen, nicht an den eigenen. Wenn ihnen das Schuldenmachen der anderen zu riskant erscheint, geben sie keine Kredite mehr. Es sei denn, sie vermöbeln die Guthaben ihrer Kunden und vernichten den Wert der Anteile ihrer Aktionäre. So kompliziert alles geworden zu sein scheint: Letzten Endes wollen Gläubiger ihr Kapital mit Zinsen zurück. Können sie damit nicht rechnen, setzen sie es nicht ein.

In dieser Hinsicht erwies sich der „freiwillige“ Schuldenschnitt für Griechenland ohne einen gleichzeitigen Schnitt zwischen Griechenland und den anderen Euroländern, wie vorauszusehen war, als Treibsatz für die Zinsen aller Anleihen von Euroländern. In der Konsequenz haben die Euroländer nun kleinmütig versprochen, dass solche Schuldenschnitte nicht mehr vorkommen sollen. Erreicht hatten sie nur, dass sich der Blick auf die Schuldenhöhe der Schuldnerstaaten konzentrierte, als ob es in absehbarer Zeit darum gehen könnte, die Schuldenberge abzutragen. Mehr als ihren weiteren Anstieg zu verhindern und sie zu erträglichen Bedingungen umzuschichten, ist nicht drin. Das kann gelingen. Für die meisten Euroländer wäre im Übrigen die Gründung der Währungsunion mit den damals niedrigen Zinsen eine wunderbare Gelegenheit gewesen, ihre Zinslast zu verringern, statt wie Griechenland die Schuldenaufnahme schrankenlos auszudehnen.

Souverän werden

Die Zeit hatte in ihrem Leitartikel die Staaten ermahnt, sie dürften keine Angst haben, Macht zu verlieren. Als ob sie noch viel Macht hätten, wenn sie gerade dabei sind, unter ihren Schulden zusammenzubrechen. Die Ängste sehen anders aus, wenn man wie Griechenland von der OECD bescheinigt bekommt, dass es mit der Macht des Staates, den sie aus der Misere führen soll, überhaupt nicht weit her ist, ja, dass dieser Staat durch schlechtes Regieren im Inneren praktisch alle Macht verloren hat. In einer kurzen Zusammenfassung des 130-Seiten-Reports Greece – Review of the Central Administration zitiert die Süddeutsche Zeitung, „der Staatsetat ist Stückwerk und undurchsichtig“. Die Ministerien könnten keine oder keine verlässlichen Daten vorlegen. Wenn Daten aufzufinden seien, mangele es an der Fähigkeit, Informationen daraus abzuleiten. Zumindest in Griechenland scheint das Allerweltsheilmittel, die Banken zu verstaatlichen, wenig Erfolg zu versprechen. Erst einmal müsste der Staat verstaatlicht werden im Sinne der Kopenhagener Kriterien, um die Mitgliedschaft in EU und Eurozone wenigstens nachträglich zu rechtfertigen.

Schön wär’s, wenn die Gefahr für die europäische Integration von selbstbewussten gefestigten Staaten ausginge, die ernsthaft ein Wörtchen mitreden wollen in der EU und in der Welt. Tatsächlich konnte sich die innere Schwäche einiger Mitgliedstaaten immer wieder hinter der vermeintlichen Stärke der EU verbergen. Die aber bleibt ihrer ganzen Konstruktion nach auf demokratische, von ihren Gesellschaften getragene starke Republiken angewiesen.

Mit einer Entmachtung der Staaten würde die EU nur weitere Probleme einheimsen. Die scheinbar so souveräne Verlotterung von Mitgliedstaaten bringt ja erst die Verwirrung hervor, man müsse sich gegen die eigene Regierung ausgerechnet dann wenden, wenn sie wegen der Bedingungen weiterer EU-Unterstützung unvermeidliche Korrekturen der bisherigen Politik einleitet. Die Voraussetzung für den Erfolg der Europäischen Union als Staaten- und Bürgerunion ist die gute Regierung der Mitgliedstaaten. Im Schwinden dieser Voraussetzung besteht die eigentliche Krise der EU und des Euroraums. Da darf man sich bei aller Kritik an „Brüssel“ oder am Finanzsystem nichts vormachen. Ob auf dem Gipfel wirklich etwas geschehen ist, kann man bezweifeln, wird es aber bald sehen.


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