Die Assam-Unruhen 2012: Anatomie eines Konflikts

Assam in Nordostindien: ein international wenig beachteter Konflikt. Bild: Axel Harneit-Sievers/Heinrich-Böll-Stiftung; Lizenz: CC-BY-SA

30. August 2012
Kristina Roepstorff
Nordostindien ist ein Krisenherd in Südasien, der trotz der anhaltenden Konflikte, die seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 Tausende von Toten gefordert haben, international wenig Beachtung findet. Die sieben Schwesterstaaten im Nordosten des Landes sind mit dem restlichen Indien nur über einen schmalen Landkorridor verbunden. Mit ihrer besonderen geographischen Lage und außerordentlichen ethnischen und linguistischen Vielfalt ist die Region Nordostindien besonders anfällig für ethnische Konflikte. Über 220 ethnische Gruppen, die mehr als 210 verschiedene Minderheitensprachen sprechen, leben hier zusammen. Nun ist Assam erneut Schauplatz eines blutigen Konflikts geworden, der nicht nur die Region, sondern auch das restliche Indien zu destabilisieren droht.

Die gewalttätigen Ausschreitungen begannen Mitte Juli, als der bereits seit langem schwelende Konflikt zwischen den indigenen Bodos (sprich Boros) und den muslimischen Einwanderinnen und Einwanderern eskalierte. Die Bodos sind eine ethnische und linguistische Gruppe, die im Westen Assams siedeln und rund 40 Prozent der indigenen Bevölkerung Assams ausmachen. Die muslimische Einwanderung geht zurück auf drei große Migrationsbewegungen: Zunächst die in das 19. Jahrhundert zurückreichende Migration aus dem damals noch ungeteilten kolonialen Bengalen; anschließend die (legale und illegale) Immigration aus Ostpakistan und später Bangladesch; und letztlich die innerstaatliche Arbeitsmigration aus anderen Teilen Indiens, vor allem aus Westbengalen.

Agitation gegen muslimische Bevölkerung

Dennoch wird oftmals nicht zwischen den verschiedenen Einwanderungsgruppen unterschieden. Das Ressentiment gegenüber (illegalen) Einwanderinnen und Einwanderern wird auch dadurch verstärkt, dass sie relativ einfach indische Dokumente und die damit verbundenen Vorteile erwerben können. Während die Diskussion sich im restlichen Indien vor allem gegen die „illegale Einwanderung aus Bangladesch“ wendet, richtet sich die Agitation in Assam auch gegen die muslimische Bevölkerung aus dem angrenzenden Bundesstaat Westbengalen.

Spannungen zwischen den Bodos und anderen ethnischen Gruppen hatten bereits in den Jahren 1993, 1994, 1996 und 2008 zu blutigen Zusammenstößen geführt. Die jüngsten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den überwiegend hinduistischen Bodos und der muslimischen Bevölkerung hat mehr als 70 Menschen das Leben gekostet, über 400.000 Menschen sind auf der Flucht oder wurden vertrieben.

Seitdem überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst schickte die Regierung in Neu-Delhi zusätzliche Truppen mit einer „Shoot-on-Sight“-Befugnis in die bereits seit Langem von Krisen geschüttelte Region, Ausgangssperren wurden verhängt, humanitäre Hilfe wurde geleistet. Was genau der Auslöser für die Ausschreitungen war, bleibt unklar. Das Central Bureau of Investigation (CBI), die indische Bundespolizeibehörde, hat die Ermittlungen aufgenommen und erste Verdächtige verhaftet.

In der Zwischenzeit hat der Konflikt zwischen den Bodos und den muslimischen Einwanderer/innen nationale Ausmaße angenommen und eine völlig neue Dimension erreicht. Bei einer Solidaritätsdemonstration für die muslimischen Opfer der Unruhen am 11. August in Mumbai eskalierte die Situation, nachdem unter den Demonstrierenden Bilder von muslimischen Opfern der Ausschreitungen in Assam kursierten. Eine kleine Zahl von Demonstrierenden griff die Polizei and anwesende Journalistinnen und Journalisten an. Zwei Menschen kamen ums Leben, 50 weitere (größtenteils von Seiten der Polizei) erlitten Verletzungen.

Massenflucht nach Drohungen in sozialen Netzwerken und per SMS

Aufbauend auf einem bereits seit langem bestehenden generellen Klima der Verunsicherung und des Misstrauens in der nordostindischen Bevölkerung, brach Panik aus, als sich Nachrichten über angebliche Übergriffe auf aus Nordostindien stammende Personen mehrten. Kurz darauf verließen zehntausende Mneschen nordostindischer Herkunft, die zum Arbeiten und Studieren in die großen Städte Südindiens gekommen waren, aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der muslimischen Bevölkerung fluchtartig die Städte. Um der Situation Herr zu werden, setzte die indische Staatsbahn in Bangalore zusätzliche Züge ein.

Ausgelöst wurde die Massenflucht durch Drohungen und Aufforderungen, die Städte zu verlassen, die über SMS und in sozialen Netzwerken verbreitet worden. Das indische Innenministerium ließ daraufhin den Versand von Massen-SMS einstellen und rief soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter dazu auf, entsprechende Inhalte zu zensieren. Kritik an dem übereilten Vorgehen setzte das Ministerium allerdings unter Druck und entfachte eine Debatte um freie Meinungsäußerung und Internet-Zensur in Indien. In der Zwischenzeit hat sich die Panik gelegt und die geflohenen Menschen kehren zurück. Doch was genau die Massenpanik auslöste, bleibt zu klären.

Unterdessen häufen sich die Schuldzuweisungen. Die rechtskonservative Oppositionspartei Indiens, die Bharatiya Janata Party (BJP), machte die illegale Einwanderung aus Bangladesch für die Ausschreitungen verantwortlich und schürt Ängste vor Überfremdung. Von „Eindringlingen“ und „Unterwanderung“ ist die Rede. Teile der Regierung haben die Gelegenheit genutzt, um mit Schuldzuweisungen an Pakistan von der innenpolitischen Natur des Konflikts abzulenken. Tatsächlich scheinen verschiedene Gruppen die Ereignisse zu nutzen, um interkommunale Spannungen zwischen der mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung und der muslimischen Minderheit, die seit der Unabhängigkeit Indiens immer wieder zu Pogromen geführt haben, weiter anzuheizen und ihre eigene ideologische Agenda durchzusetzen. Die Entwicklungen sind vor allem deshalb problematisch, da sie in einem Land mit einer Geschichte interkommunaler Spannungen die Wahrnehmung der muslimischen Bevölkerung durch die nicht-muslimische Bevölkerung weiter verzerren.

Föderalistische Umstruktierungen zur Beilegung ethnischer Konflikte

Die Situation ist komplex und die jüngsten Ausschreitungen in Assam müssen in den Kontext der politischen Ereignisse in Assam seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 gesehen werden. Mit der Unabhängigkeit wurde Indien in Bundesstaaten eingeteilt, die entlang ethnischer und linguistischer Grenzen verlaufen. Diese Besonderheit des indischen politischen Systems bildet die Grundlage vieler anhaltender Konflikte in dem Vielvölkerstaat. Ethnische Minderheitengruppen, die sich in ihrer Identität bedroht fühlen und sich von der Mehrheit dominiert sehen, haben seit Bestehen des modernen Indiens die Schaffung neuer Bundesländer gefordert. Die föderalistische Umstrukturierung und die Bildung autonomer Distrikte wurden zunehmend zur Beilegung ethnischer Konflikte eingesetzt.

So auch in Nordostindien. Umfasste Assam unter der britischen Kolonialherrschaft noch das gesamte Gebiet des heutigen Nordostindiens, wurde das Territorium Assams im Laufe der Zeit aufgrund einer Reorganisation der Bundesstaaten um etwa zwei Drittel reduziert. Der Reorganisationsprozess Assams begann 1963 mit der Gründung Nagalands und wurde 1969 mit der Entscheidung der damaligen Premierministerin Indiens, Indira Ghandi, fortgesetzt, Assam in Hinblick auf die Selbstbestimmungsforderungen ethnischer Gruppen auf fördereller Basis umzustrukturieren.

Der Assam-Konflikt 1979-1985: Angst vor Überfremdung

Die Gründe für die aktuellen Geschehnisse gehen bis in die 1970er Jahre zurück, als sich die sozialen Spannungen zwischen den Assamesen und den muslimischen Migrantinnen und Migranten verstärkten und in den Assam-Konflikt, der von 1979 bis 1985 dauerte, mündeten. Bereits bestehende Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen verstärkten sich durch eine erneute Zuwanderungswelle als Folge des Bangladesch-Krieges 1971. Eine aufkommende assamesisch-nationalistische Bewegung, angeführt von der All Assam Students Union (AASU), sah in der Zuwanderung eine Bedrohung der eigenen Identität und forderte einen Einwanderungsstopp und die Rückführung der nach 1951 eingewanderten Bengalen. Der Konflikt kulminierte 1983 in dem Nellie-Massaker, bei dem über 2000 muslimische Einwanderinnen und Einwanderer ums Leben kamen.

Der Assam-Konflikt endete 1985 mit dem Assam-Abkommen, das unter anderem vorsah, diejenigen, die nach 1971 in das Land einwanderten, auszuweisen und die Grenze zu Bangladesch mit Zäunen zu sichern. Die damalige Führung der AASU übernahm die Regierungsverantwortung, andere Bestandteile des Assam-Abkommens wurden jedoch nie gänzlich umgesetzt und bis heute ist das Thema illegale Einwanderung von großer Bedeutung für die Politik Assams.

Die wirtschaftliche Unterentwicklung und eine zunehmende Unzufriedenheit mit der Regierung in Neu-Delhi führten zudem zu einer wachsenden Unterstützung der separatistischen Forderungen der 1979 gegründeten linksnationalistische Organisation United Liberation Front of Asom (ULFA). Die aus der Studentenbewegung hervorgegangene militante Organisation kämpft noch heute für ein unabhängiges Assam und gegen illegale Einwanderung. Eine militärische Auseinandersetzung einer Reihe an separatistischen Organisationen mit dem indischen Staat hat in den vergangenen 20 Jahren über 7000 Menschenleben in Assam gefordert, davon mehr als die Hälfte in der Zivilbevölkerung. Die Intensität der Gewalt in Assam ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, aber trotz einer Reihe von Waffenstillstands- und Friedensabkommen und einer Schwächung der ULFA sind verschiedene Rebellengruppen nach wie vor aktiv.

‚Divide Assam 50\50’

Auch die Bodos wollen ihren eigenen Staat. Hatten die Bodos zu Beginn die assamesische nationalistische Bewegung unterstützt und auf eine Verbesserung ihrer Lage gehofft, so fühlten sie sich nach Abschluss des Assam-Abkommens erneut marginalisiert und diskriminiert. Desillusioniert über die neue Regierung in Assam forderten verschiedene Bodo-Organisationen unter dem Motto „Divide Assam 50/50“ ihren eigenen Staat.

Bereits während der Kolonialzeit hatten die marginalisierten Bodos ihrer Forderung nach einem eigenen Staat Ausdruck verliehen. Mit der Gründung der politischen Partei Plains Tribals Council of Assam (PTCA) und der All Bodo Students Organisation (ABSU) 1967 nahm die politische Organisation Form an. Die Positionen der verschiedenen Organisationen, die gegen die Marginalisierung, Diskriminierung, und Ausbeutung der Bodos innerhalb Indiens und Assams kämpfen, reichen von Autonomiebestrebungen hin zu separatistischen und sezessionistischen Forderungen nach einem eigenen Staat Bodoland. Die 1980er und 1990er sahen mit der Gründung der Bodo Liberation Tigers (BLT) und anderen militanten Gruppierungen eine Radikalisierung der Bewegung.

Das Friedensabkommen von 1993 sollte dem gewalttätigen Aufstand ein Ende setzen. Dörfer, in denen die Bodos eine einfache Mehrheit ausmachten, sollten unter die Verwaltung einer neuen Autonomiebehörde – der Bodo Autonomous Council (BAC) – gebracht werden. Als eine unvorhergesehene Folge dieser Regelung kam es in den darauffolgenden Jahren zu ethnischen Säuberungen, um die bestehenden Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Bodos und Minderheitengruppen wie den Santhals (eine indigene Gruppe aus Orissa oder Jharkand, die während der Kolonialherrschaft der Briten nach Assam kamen, um auf den Teeplantagen zu arbeiten) und der muslimischen Bevölkerung kam es zwischen 1996 und 1999 immer wieder zu Todesfällen, mindestens 250 000 Binnenflüchtlinge suchten Schutz in Flüchtlingslagern. Viele sind bis heute nicht in ihre Dörfer zurückgekehrt. Gleichzeitig führte eine Fraktionalisierung der Aufständischen zum Scheitern des BAC und zu einer Fortsetzung des bewaffneten Aufstands.  

Ein erneuter Versuch die Region zu befrieden mündete 2003 in die Unterzeichnung des Bodo Territorial Council (BTC) Abkommens zwischen Vertretern der militanten BLT und der Zentralregierung. Die Bodos lieferten ihre Waffen ab und der BAC nahm unter Führung von Hagrama Basumatary, dem Anführer der BLT, die Arbeit auf. Heute besitzen die mehrheitlichen Bodo-Gebiete einen Autonomiestatus innerhalb Assams. Obgleich die letzten Jahre zu einer Verbesserung der Lage zu führen schienen, zeigt das gegenwärtige Wiederaufflammen des Konflikts, dass die Ursachen selbst nicht gelöst wurden.

Poröse Staatsgrenzen und die Angst vor Überfremdung

Fast zehn Jahre nach Inkrafttreten mehrt sich die Kritik am Abkommen und sowohl Vertreter der Bodos als auch der Minderheitengruppen fordern seine Überprüfung. Die Bodos sehen ihre Landrechte nicht ausreichend geschützt. Obgleich das Abkommen die Landrechte der indigenen Bodos stärkt, erlaubt es muslimischen Einwanderern Land zu erwerben. Aufgrund demographischer Veränderungen des Bodoland Territorial Autonomous Districts (BTAD) und die damit verbundene Übereignung von Land befürchten die Bodos eine Minderheit auf ihrem eigenen Territorium zu werden. Dabei geht es nicht nur um die muslimische Einwanderung, sondern auch um den Zuzug anderer Gruppen wie den Nepalis oder den vor allem aus Bihar und Westbengalen stammenden Inderinnen und Indern.

Die Angst vor Überfremdung ist groß, insbesondere da poröse Staatsgrenzen und eine mangelnde Kontrolle von Einwanderung dazu geführt haben, dass die Einwanderung aus Bangladesch in das Gebiet der Bodos leicht gelingt. Andererseits beklagen sich die Minderheiten über Diskriminierung und Marginalisierung innerhalb des BTAD. Dass eine Reihe an Dörfern mit einer Bodo-Minderheit aus strukturell-pragmatischen Gründen dem BTAD unterstellt wurde, hat dort wiederum zu einem Gefühl der Dominierung durch die Bodos geführt. In manchen Gebieten stellen die Bodos lediglich 25 Prozent der Bevölkerung, durch ihre Autonomierechte regieren sie jedoch über die restlichen 75 Prozent. Während der vergangenen Monate und kurz vor Ausbruch der aktuellen Unruhen hatten Studentenorganisationen der Minderheitengruppen eine größere Repräsentation im BTC gefordert.

In den letzten zehn Jahren nahm die Einwohnerzahl in Assam um 16,9 Prozent zu. Damit entspricht die Wachstumsrate dem indischen Durchschnitt von 17,6 Prozent. Auch die Bevölkerungsdichte Assams liegt nahe am gesamtindischen Durchschnitt. Doch haben Umweltzerstörung und Bevölkerungswachstum zu einer Konkurrenz um den Zugang zu knappen Ressourcen geführt. Der jahrzehntelange Konflikt hat zudem ein starkes Misstrauen der verschiedenen ethnischen Gruppen untereinander geschaffen und zu einer Politisierung ethnischer Identitäten geführt. Immer mehr Gruppen fordern nun einen eigenen Staat, um ihre Identität und Ressourcen zu sichern – oftmals überlappen sich hierbei die territorialen Ansprüche, was eine Lösung der Konflikte erschwert.

Konfliktursachen: Identität, Land, Demographie

Es geht bei den jüngsten Ereignissen um Identität und Territorium, um Zugang zu Land und Ressourcen. Es geht aber auch um die Identitätssuche von Minderheiten, die lange von der Regierung vernachlässigt wurden. Es geht um konkurrierende territoriale Ansprüche der indigenen Bevölkerungsgruppen Assams, und nicht zuletzt geht es um die Frage nach einer erfolgreichen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Sowohl die Zentralregierung als auch die Regierung Assams müssen diese Probleme proaktiv angehen, um erneute blutige Auseinandersetzungen und die Politisierung des Konflikts durch radikale Gruppen zu verhindern. Ein Zurückgreifen auf das nationale Narrativ hinduistisch-muslimischer Feindseligkeit stört nicht nur den sozialen Frieden, sondern verhindert auch eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Konfliktursachen.

Es gilt, die Grundursachen des Konflikts anzugehen. Vor allem auf Fragen des friedlichen Zusammenlebens ethnischer Gruppen, die territorialen Aufteilung Assams, der wirtschaftlichen Entwicklung einer marginalisierten Region, und einer nachhaltigen Umweltpolitik müssen dringend politische Antworten gefunden werden. Ebenso muss die Frage gestellt werden, welche innen- und außenpolitischen Dynamiken für die Ausweitung des Konflikts auf das restliche Indien verantwortlich zu machen sind.
 

Karte von Assam


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