Lieber Herr Wissmann, werte Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren,
ich heiße Sie herzlich zur Konferenz „Auto 3.0 – Die Zukunft der Automobilindustrie“ in der Heinrich-Böll-Stiftung willkommen. Wir freuen uns über das große Interesse und ein ausgebuchtes Haus!
Die heutige Konferenz ist eine Kooperation mit dem Verband der Automobilindustrie - VDA. Diese Zusammenarbeit hat vermutlich den einen oder die andere überrascht. Die grüne politische Stiftung und der Dachverband der Automobilindustrie arbeiten zusammen? Für manche Ohren klingt das immer noch wie ein Tanz mit dem Teufel. Auf den zweiten Blick erscheint diese Kooperation hoffentlich weniger befremdlich. Erstens ist die Autoindustrie neben dem Maschinenbau, der Chemieindustrie und der Elektrotechnik die industrielle Schlüsselbranche in Deutschland schlechthin. Sie ist von überragender struktur- und beschäftigungspolitischer Bedeutung, und wer auch immer sich mit der Zukunft dieses Landes beschäftigt, muss sich auch mit der Zukunft der Autoindustrie (und ihrer Zulieferer) befassen.
Zweitens liegt Winfried Kretschmann zwar aus ökologischer wie aus urbaner Perspektive richtig mit seinem berühmten Ausspruch, dass „weniger Autos besser sind als mehr“. Tatsächlich wird die Zahl der privaten Fahrzeuge auf Deutschlands Straßen in den kommenden Jahrzehnten angesichts einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung sinken. Dazu kommt ein kultureller Wandel unter den jüngeren städtischen Mittelschichten: für diese „young urban professionals“ ist das Auto kein Statussymbol mehr, das ganz oben auf der Wunschliste steht. Sie benutzen Autos, wenn es praktisch ist, müssen aber nicht unbedingt einen eigenen Schlitten besitzen. Ähnlich verläuft die Entwicklung in anderen europäischen Staaten und in Japan.
Weltweiter Autoboom
Folgt daraus, dass der deutschen Autoindustrie ein schmerzhafter Abstieg bevorsteht: vom Wachstum vergangener Jahrzehnte zu einem unvermeidlichen Schrumpfungsprozess? Nicht unbedingt. Denn die globalen Trends gehen in eine andere Richtung, und zwar mit Wucht. Insbesondere in den bevölkerungsstarken Schwellenländern nimmt der Autoverkehr rapide zu. Das gilt auch für den Güterverkehr auf der Straße. Weltweit wird sich die Zahl der Kraftfahrzeuge in den kommenden 25 - 30 Jahren verdoppeln. Allein in China stieg die Zahl der neu zugelassenen PKW von 0,6 Millionen im Jahr 2000 auf 12,6 Mio in 2012. Mit der globalen Mittelschicht wächst auch der Individualverkehr. Während bei uns die Faszination Auto verblasst, ist sie in weiten Teilen der Welt noch ungebrochen. Das wird sich so schnell nicht ändern, obwohl die Megastädte in Asien und Lateinamerika am Rande des Verkehrskollaps‘ stehen.
Wer davor nicht den Kopf in den Sand stecken will, muss sich wohl oder übel mit dem Autosystem befassen – und zwar von der Rohstoffbasis des Automobils bis zu seiner kompletten Wiederverwertung. Das Stichwort heißt vernetzte Wertschöpfungsketten, bei denen alle Wertstoffe wieder zurück in den Produktionszyklus fließen.
Angesichts von Klimawandel und Ressourcenkrise hängt alles davon ab, Produktion und Betrieb des Automobils umweltverträglich zu machen. Das bedeutet eine Reduktion von Materialaufwand, Energieverbrauch und Emissionen mindestens um den Faktor 4, also um 80 Prozent. Wir stehen vor einer Neuerfindung des Kraftfahrzeugs von der Karosserie bis zum Antriebssystem. Die Stichworte lauten Verbundwerkstoffe, Leichtbauweise, Elektromobilität, Wasserstoff und Methan aus Überschussstrom, abfallfreie Wertstoffkreisläufe.
Wir sind überzeugt, dass nur die Autokonzerne, die auf diesem Weg vorangehen, auf die Dauer auch wirtschaftlich erfolgreich sein werden. Das gilt umso mehr für ein Hochlohn-Land wie die Bundesrepublik: Der Autostandort Deutschland kann nur durch permanente ökologische Innovation gesichert werden.
Gleichzeitig muss die Industrie ihr Geschäftsmodell verändern. Wenn wir CO2-Emissionen im großen Stil vermeiden wollen, müssen wir Mobilität neu denken und organisieren. In nicht allzu ferner Zukunft werden die meisten Menschen Automobile nicht mehr kaufen, sondern je nach Bedarf mieten – Carsharing macht´s möglich. Statt im Stau zu stehen, nutzen wir das jeweils schnellste und praktischste Verkehrsmittel: Bahn, Bus, Elektrofahrrad und Leih-Auto. Das Automobil wird mehr und mehr in den öffentlichen Verkehr integriert. Statt sich lediglich auf Verkaufszahlen zu fixieren, müssen sich VW, Daimler, BMW & Co zu Mobilitätsdienstleistern wandeln.
Beitrag zum Richtungswechsel
Als grüne politische Stiftung verfahren wir gegenüber der Industrie nach dem Motto: So viel Kooperation wie möglich, so viel Konfrontation wie nötig. Es kommt darauf an, das enorme Innovationspotential dieser Industrie für eine grüne industrielle Revolution zu nutzen. Kein anderer Wirtschaftszweig investiert so viel in Forschung und Entwicklung wie die deutschen Autokonzerne: im Jahr 2011 fast 16 Milliarden Euro. In Wolfsburg, Stuttgart, Rüsselsheim, Ingolstadt und München arbeiten Zehntausende hochqualifizierter Ingenieure. Ihr Erfindergeist wird verschwendet, wenn sie weiterhin an der Optimierung des Automobils alten Typs arbeiten - große, schwere, luxuriöse Limousinen, bei denen Effizienzgewinne weitgehend durch mehr PS aufgefressen werden -, statt ihre Intelligenz auf ein neues Design, leichte Materialien und alternative Antriebe zu werfen.
Es geht um einen Richtungswechsel der Autoindustrie, nicht nur um graduelle Verbesserungen. Deshalb suchen wir den Dialog – nicht nur mit dieser Konferenz.
Keine andere Volkswirtschaft ist so verwoben mit der Automobilindustrie wie die deutsche. Ungefähr ein Fünftel des Umsatzes des gesamten verarbeitenden Gewerbes wird von den Autokonzernen und ihren Zulieferern erwirtschaftet. Mit rund 720.000 Arbeitsplätzen stellt die Branche einen der größten Arbeitgeber in Deutschland.
Grüne industriepolitische Verantwortung heißt, den ökologischen Umbau der Branche zu flankieren. Wenn sie sich auf dem Weltmarkt behaupten will, muss die deutsche Autoindustrie an der Spitze der Innovation stehen. Dazu gehört auch die kontinuierliche Ausbildung und Weiterqualifizierung der Beschäftigten. Investitionen in Menschen und Investitionen in Technik sind zwei Seiten derselben Medaille.
Die Autoindustrie ist eine Schlüsselbranche für die Zukunft unseres Planeten. Unsere Konferenz bietet eine Fülle von Anregungen zu technischen und politischen Weichenstellungen, die heute getroffen werden müssen, um künftige Krisen zu vermeiden. Ich freue mich auf viele anregende und spannende Diskussionen.
Gestatten Sie mir einen speziellen Hinweis zum Thema Güterverkehr und Anforderungen an den LKW von morgen: Die Heinrich-Böll-Stiftung hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben, die pünktlich zum Kongress erschienen ist. Morgen Vormittag wird die Studie zum ersten Mal öffentlich diskutiert. Sie liegt für Sie im Foyer kostenfrei zum Mitnehmen aus.
Ich möchte an dieser Stelle nicht versäumen, dem VDA für die konstruktive Kooperation zu danken. Dirk Evenson und Sabine Steinhoff vom VDA sowie Michael Walther und Stephan Depping von der Heinrich-Böll-Stiftung gebührt großes Lob für das spannende Programm und die Organisation des Kongresses.
Die Öffentlichkeitsarbeit und das Tagungsbüro der Heinrich-Böll-Stiftung werden uns bis morgen technisch und kulinarisch begleiten und einen angenehmen Rahmen schaffen. Einen herzlichen Dank dafür!
Damit übergebe ich das Wort an Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie. Lieber Herr Wissmann, auch Ihnen vielen Dank für die gute Zusammenarbeit – wir betrachten das als einen Anfang, auf dem wir künftig aufbauen können.