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Kreativer Aufstand gegen die Angst

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Mit Papier und Stiften hat sie russische Gefängnisse und Gerichtssäle betreten. Jetzt sitzt die junge Frau in der Heinrich-Böll-Stiftung und zeichnet. Immer wieder schaut sie zu den Menschen auf dem Podium. Dann führt sie ihren schwarzen Stift über das Papier. Wie aus dem Nichts entstehen Arme, Augen, Köpfe. Victoria Lomasko, die auch im Prozess gegen Pussy Riot gezeichnet hat, gehörte zu den Gästen des Kongresses „Protest. Kultur. Politik. Aktionsformen gegen autoritäre Strukturen in den Gesellschaften Osteuropas“. 

Die Veranstaltung in Berlin war der Versuch einer Bestandsaufnahme: Wie geht es der Widerstandsbewegung heute? Mehr als 30 junge Menschen aus Russland, Belarus und der Ukraine präsentierten ihre Projekte – in Filmen, Videos, Lesungen oder Diashows. Wer an den Kongresstagen durch die Böll-Stiftung streifte, sah ihre Spuren überall. Neben dem Lift hing ein Bild von Putin hinter Gittern. Vor dem Haus flatterte im Wind ein Transparent mit den Worten „Free Pussy Riot“.  

„Entspannung und ein bisschen Freiheit“ 

Nicht alle Kongressgäste verstehen sich als Aktivisten, doch viele erleben Repressalien durch ihr Regime. In einem restriktiven Klima wirkt schon Kunst, die ein Stück Wirklichkeit reflektiert, als Akt des Widerstands. Der belarussische Musiker Dzmitry Vaitsiushkevich darf in seiner Heimat nicht auftreten. Statt in Berlin lange über seine persönliche Lage zu sprechen, singt er lieber seine lyrischen Balladen.   

„Man kann in Belarus über einen Platz gehen, ohne Aktivist zu sein, und trotzdem für 24 Stunden eingesperrt werden“, erklärt die Feministin Irina Solomatina zur Lage ihres Landes. „Man ist schon Aktivist, wenn man in Minsk überlebt.“ 

Über eine Atmosphäre von Angst und Kontrolle berichten auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus anderen Ländern. Für Gulya Sultanova aus St. Petersburg gehören Drohungen zum Alltag. „Russland wird immer totalitärer“, meint die Leiterin des LGBT-Filmfestivals „Bok o Bok“. „Die Repressionen richten sich jetzt in erster Linie gegen kulturelle Organisationen und Aktionen“. Der Staat habe Angst. Vor jeder freien Äußerung, vor jeder Unzufriedenheit. Die Repressionen wiederum politisieren die Kultur, sagt Sultanova. So wurde auch das Filmfestival zum Ausdruck des Protests. 

In Berlin erzählt die Aktivistin von Beschimpfungen gegen Organisatoren oder Publikum. Inzwischen brauche man sogar Sicherheitspersonal, um Zuschauer vor homophoben Übergriffen zu schützen. Was bedeutet ihr der Kongress? Sultanova denkt kurz nach und sagt: „Entspannung, ein bisschen Freiheit und eine tolle Plattform für gemeinsame Projekte.“ Vor allem aber auch „eine starke moralische Unterstützung und Respekt für unsere Arbeit. Den haben wir in Russland nicht.“ 

Mikrotaktiken und die Macht der Bilder

„In der russischen Gesellschaft haben Mikronetzwerke aus Freunden und Bekannten große Bedeutung“, betont der in Moskau geborene Soziologe und Zeithistoriker Mischa Gabowitsch auf dem Eröffnungspanel. „Auch das politische Verhalten basiert darauf, was wir dort aufbauen.“ Wie wichtig auch Mikrotaktiken sind, um sich gegen autoritäre Regime zu wehren, zeigen zahlreiche auf dem Kongress vorgestellte Initiativen.  

Es gibt keine Protestbewegung, sagt Vasyl Cherepanyn, Leiter des Zentrums für visuelle Kultur in Kiew und Herausgeber der ukrainischen Ausgabe von „Political Critique“, „wir können nur über einzelne Protestherde oder Protestexplosionen sprechen, die unterschiedliche Ursachen haben.“ 

Konkrete Einblicke in die ukrainische Kulturszene gab die Kuratorin Lesia Kulchynska. Ihr Projekt „In-hibition“ basiert auf Interviews mit Menschen, die Ausstellungen geschlossen oder solche Schließungen unterstützt haben. Kulchynski betont: „Jede geschlossene Ausstellung zeugt davon, dass Kunst politisch Einfluss nehmen kann.“

 Nur drei Tage, nachdem die von ihr kuratierte Ausstellung „Ukrainischer Körper“ im Zentrum für visuelle Kultur eröffnet worden war, schloss sie der Rektor der Kiewer Universität. „Bei uns führen Ausstellungsverbote nicht zu Gerichtsprozessen wie in Russland“, erklärt dazu die Ukrainerin Kateryna Mishchenko, Redakteurin des Magazins „Prostory“. „Interessant ist, dass in der Ukraine nicht der Staat die repressive Funktion erfüllt, sondern die Vertreter von Institutionen.“ 

Grundsätzlich erwarte die Gesellschaft eher von Schriftstellern als von Künstlern, sich politisch zu äußern. Dabei könnten Bilder heute „viel stärker und politischer sein als Worte“, meint Mishchenko. „Deshalb gibt es in der Ukraine auch kaum Repressionen im Bereich der Literatur, aber umso häufiger in der Kunst.“ 

Junge Protagonisten, „aggressiver Stil“ 

Viele Gäste des Kongresses betonen die Bedeutung persönlicher Gespräche in Berlin. „Als Aktivisten kennen wir einander über die Grenzen unserer Länder hinweg, aber es ist schwierig, sich an einem Ort zu treffen“, betont der belarussische Künstler und Kurator Sergey Shabohin. Dass auf dem Kongress vor allem junge Menschen vertreten sind, hält er für symptomatisch. „Wir sind die Generation der Perestroika, haben die ersten Freiheiten erlebt, sind aber auch Erben der sowjetischen Komplexe“, erklärt der 29-Jährige. „Als Generation des Internets sind wir politisch engagierter und haben keine Angst darüber zu sprechen. So gut wie alle politische Kunst in Belarus kommt heute von jungen Menschen.“ Protest, Kultur und Politik gehören für ihn unbedingt zusammen.   

Doch die Formen des Widerstands haben sich verändert. Taciana Artsimivoch, Theaterregisseurin, Kunstkritikerin und Redakteurin des Webportals „pARTisan“ verdeutlicht in ihrer Präsentation die neuen Bedingungen in Belarus: „Die Strategie, sich mit zeitgenössischer Kunst dem offiziellen Diskurs zu widersetzen, funktioniert nicht mehr, denn auch offizielle Galerien und Museen integrieren nun moderne Kunst.“ Umso wichtiger sei „ein aggressiver visueller Stil“. Für Artsimovich heißt dies konkret: Man berichtet nicht mehr nur über  moderne Kunst. Thema wird, was weh tut – gesellschaftliche Tabus wie der Tod, der Körper oder die Sexualität. Zudem sei der virtuelle Raum nun wichtigster Schauplatz für intellektuellen Protest. 

„Wir wissen nicht, was uns erwartet.“    

Unter die internationalen Kongressgäste mischten sich auch Besucher aus Berlin. Zum Beispiel die Schauspielerin Mareike Wenzel, die in Deutschland und Georgien den „Salon Tbilisi Berlin“ organisiert. „Die meisten Sachen, die mich in der Kunst interessieren, sind politisch“, sagt sie. „Es ist spannend, hier unterschiedliche Positionen und künstlerische Protestformen zu sehen. Und es freut mich, dass so viele Frauen anwesend sind.“ 

Besonders beeindruckt hat sie M!kaela aus Moskau. „Uns fehlt eine Unterstützung von unten“, erklärt die Feministin und Street Art-Künstlerin auf dem Kongress. „Deshalb war ich froh, dass hier so viel über Mikrotaktiken des Widerstands und Mikroveränderungen gesprochen wurde.“ Man könne schon etwas bewirken, indem man auf dem Weg zur Arbeit ein Plakat überklebt. „Solche Dinge bilden Wurzeln in dieser Bewegung, damit kein kümmerlicher Strauch heranwächst, sondern ein Wald.“ 

Als gegen Ende der Veranstaltung Lomaskos Zeichnungen der letzten Tage an die Wand geworfen werden, schmunzeln einige Gäste über ihr gemaltes Alter Ego. „Ich bin zwischen den Präsentationsinseln hin und her gegangen und habe viel über Repressionen gehört – in der Ukraine, in Russland und Belarus“, sagt Lomasko, die auf dem Kongress ihr Kunstprojekt mit inhaftierten russischen Jugendlichen vorstellte. „Wir wissen nicht, was uns erwartet, wenn wir nach Hause zurückkehren. Man könnte die Arbeit verlieren oder als Extremist aufgegriffen werden.“ 

Der Kongress bot ihr eine Atempause. „Ich denke, für viele Aktivistinnen und Aktivisten aus Osteuropa sind diese Tage hier wie Ferien: Es ist ruhig, sicher, man kann frei über Probleme sprechen. Aber auch wenn wir hier leben und arbeiten könnten – unser Platz ist dort.“ Auf die Frage, welche ihrer Kongress-Zeichnungen sie selbst am meisten mag, zeigt Lomasko auf ihr Porträt des Petersburger Performancekünstlers Petr Pavlensky. In seiner Sprechblase steht: „Jegliche Kunst ist politisch.“