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Die Protestbewegung offenbart eine System-Krise

Eine Demonstration in Brasilien

Die Juni-Proteste in Brasilien gehen auch im Ferienmonat Juli weiter. Sie haben an Massivität verloren, sie sind jedoch in die Breite und in die Vielfalt gegangen. Nachbarn treffen sich auf dem Platz. Sie sprechen über Lärmbelästigung und die Müllabfuhr, warum die Polizei die Straßenhändler verfolgt. Beobachter und Intellektuelle versuchen derweil per Zeitungskolumne oder in Blogs die Geschehnisse zu verstehen und den weiteren Verlauf der Bewegung abzuschätzen.

Das Literaturfestival in Paraty, ein traditionelles Stelldichein bekannter Intellektueller, widmete den Protesten drei Extraveranstaltungen. Deutlich wird dabei: Eine Einschätzung des Status Quo fällt leichter als Prognosen darüber, wie es weitergehen könnte.

Eine Krise der politischen Repräsentation

Der Ursprung der Proteste waren bekanntlich Fahrpreiserhöhungen, während die Fahrgäste täglich den Kollaps der auf Autoverkauf und Individualverkehr setzenden Stadtpolitik ausbaden. Milliardenausgaben für die WM, wenn gleichzeitig die Leistungen im Gesundheitswesen schlechter werden und das öffentliche Schulwesen weiter eine Misere ist. Die Korruption und Selbstbereicherung der politischen Klasse wird kaum noch verhehlt, die Politik über die Köpfe der Betroffenen hinweg gemacht. Dies alles summiert sich nach Meinung vieler Beobachter zu einer Krise der politischen Repräsentation.

Es ist eine Krise im doppelten Sinn: Zum einen beziehen sich die Proteste natürlich auf die derzeitige Regierung und die Parlamentarier, die beim Confederations Cup den Flugdienst der Luftwaffe in Anspruch nahmen, um mit der ganzen Familie ein Fußballspiel anzusehen. Doch interessanterweise halten alle Parteien und Politiker seit Wochen still. Niemand versucht offensiv, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. Denn sie wissen genau, dass sie alle gemeint sind.

Die Krise ist eine des Systems politischer Repräsentation überhaupt. Wenn Oppositionsparteien die die Proteste als Kritik an den 10 Jahren Regierung der Arbeiterpartei PT darstellen, liegen sie nur insofern richtig, als die PT einmal eine Alternative zum klientelistischen Parteienwesen war. Mittlerweile hat sie sich zu einem integralen Bestandteil desselben entwickelt.

Der aufgeblähte Staatsapparat frisst 36 Prozent des Nationaleinkommens

Das in Frage gestellte politische System versucht derzeit, der Bewegung die Dynamik zu nehmen: Umgehend nahmen zahlreiche Stadtregierungen Fahrpreiserhöhungen zurück. Der Senat kippte wie auf der Straße gefordert ein minderwichtiges Gesetzesvorhaben. Jetzt konzentriert sich die Debatte auf den Volksentscheid für eine „politische Reform“. Dabei geht es aber weder um die klientelistische Struktur, noch um die Größe einer Staatsmaschinerie, die dem Ökonomen André Lara Rezende zufolge heute 36 Prozent des Nationaleinkommens nur für ihr eigenes Funktionieren ausgibt. Und es geht auch nicht um die Frage, ob Parteien nicht eine klare Programmatik und eine gewisse Fraktionsdisziplin brauchen.

Es wird um wahltechnische Fragen gehen, das Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht, um Wahlkampffinanzierung und die Frage, ob ein Senator zwei Stellvertreter haben muss.

Brasilien braucht dringend eine Politik- und Parteienreform, aber nicht dieser Verfahrensfragen wegen sind die Menschen auf den Straßen, sondern weil sie, wie es der Philosophieprofessor Vladimir Safatle formuliert, das Format Partei schlechthin in Frage stellen. Von einem „gepanzerten politischen System“ spricht sein Kollege Marcos Nobre, der bereits ein Buch über die Proteste veröffentlicht hat. Alle Parteien befänden sich auf der Innenseite dieses Systems, nicht nur die 14 offiziellen der Regierungskoalition; eine funktionale Opposition finde nicht statt.

Die Zeit der Grauhaarigen ist abgelaufen

Safatle und Nobre nehmen analytisch auf, was junge Vertreter der Protestbewegung den Grauhaarigen mit Verve entgegenschleudern: Eure Zeit ist abgelaufen, als Mittler seid ihr pensioniert. Gemeint sind Parteipolitiker, aber auch traditionelle soziale Bewegungen wie Gewerkschaften und NGOs. Und, ganz wichtig, die Medien. „Ninja“ – die Abkürzung steht für „Unabhängige Narrative, Journalismus und Aktion“ – ist eine der vieldiskutierten neuen Initiativen. Ninja berichtet aus der Mitte der Bewegung, von der Straße. Ihr Ableger „Post-TV“ streamt die Livebilder dazu. Gerade hat Ninja einen Korrespondenten nach Ägypten entsandt. Die Krise der Repräsentation ist also auch ein Generationenkonflikt.

In den letzten Jahren sah die Weltpresse in Brasilien “den Riesen erwachen”. Unter anhaltendem Wirtschaftswachstum stiegen die Realeinkommen der Arbeiter, Transferprogramme minderten die extreme Armut, Einkommen und Vermögen der Oberschichten oder die Gewinne der Unternehmen blieben unangetastet. Einer vielfach reproduzierten Erzählung zufolge steuerte das Land mit seinen „sauberen“ Großwasserkraftwerken und einem satten Wirtschaftswachstum direkt unter die Top Five der Weltwirtschaft, in den UN-Sicherheitsrat und in eine Mittelstandsgesellschaft.

Doch diese Erzählung stößt für viele Menschen an die Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit. Die Realeinkommenszuwächse sind real, ebenso aber auch die erhebliche Teuerung. Die ehemaligen working poor, die nun zur Mittelklasse gezählt werden, müssen immer noch jeden Tag stundenlang in vollen Bussen zur Arbeit fahren, und für eine Privatschule für die Kinder reicht das Geld immer noch nicht.

Die neue Mittelklasse ist selbstbewusst

Das Wirtschaftswachstum weggebrochen, die interne öffentliche Verschuldung ist astronomisch und die Inflation steigt. Einen nennenswerten Kündigungsschutz gibt es nicht. Deshalb kann sich in der nur schlecht ausgebildeten „neuen Mittelklasse“ niemand seines dauerhaften Aufstiegs sicher sein.  Dafür scheinen sie aber mittlerweile das nötige Selbstbewusstsein zu haben, um Fragen zu stellen.

Das Bild vom erwachenden Giganten ist durch die Proteste zurückgekehrt, und es spiegelt wieder nicht die Realität. Zu sagen, seit dem Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten Fernando Collor 1992 habe es keinen nennenswerten Protest gegeben, verkennt, dass damals die brasilianische Zivilgesellschaft im Aufbruch war. Die letzten 20 Jahre lassen sich auch als Lernprozess einer brasilianischen Bürgergesellschaft begreifen. Die Bewegung für einen kostenlosen Nahverkehr, die die Proteste auslöste, besteht seit 2005.

Die WM-Komitees, die in allen zwölf Austragungsorten gegen Privatisierung und öffentliche Verschuldung, gegen Zwangsräumungen und für mehr Beteiligung streiten, sind seit Jahren die vielleicht aktivste soziale Bewegung im ganzen Land. Es habe niemand geschlafen, sagten der Schriftsteller Marcus Vinícius Faustini und der „Ninja“-Aktivist Pablo Capilé unisono in einer Diskussion über die Proteste, viele Initiativen seien seit langem wach und aktiv. Faustini und Capilé sehen ihren historischen Moment gekommen und verstehen sich in diesem Sinn zu Recht als Teil einer internationalen Bewegung, die Politik und Medialität in ihrer herkömmlichen Form ablösen will.

Wie geht es weiter?

Es überrascht kaum, dass die Zukunft der herkömmlichen Institutionen heftig umstritten ist. Die Argumentationslinien gehen quer Links-Rechts-Schema. Einerseits sympathisieren viele linke Intellektuelle mit dem Potenzial direkter Demokratie, um – so die Hoffnung – die verknöcherten autokratischen Strukturen aufzubrechen. Sie verteidigen die Struktur einer Nicht-Struktur, ohne klare Führung, ohne ausformulierte Programmatik. Andererseits erinnern linke Ikonen wie Marilena Chauí daran, dass die konservative alte Mittelklasse das Parteiensystem immer als generell korrupt darstellte, damit sie nach einer unmittelbaren politischen Lösung – der Diktatur – rufen konnte. Der Ruf nach einer volonté générale habe sich historisch immer als Diktatur materialisiert, warnen auf dem Literaturfestival auch andere wie der britische Historiker T. J. Clark

So wollen links wie rechts viele dem Ruf nach einer völligen Aufgabe repräsentativer Institutionen, einschließlich Parteien, nicht folgen.  „Demokratie braucht Organisation, aber nicht unbedingt die von Parteien“, argumentiert Safatle. Wie eine neue Vielfalt der politischen Repräsentation aussehen könnte, ist derzeit unklar. Bisher ist aber noch Minderheitenmeinung das Diktum Chico de Oliveiras, Nestors der brasilianischen Soziologie, Mitbegründer und später einer der schärfsten Kritiker der PT. Die Proteste seien weiterhin nicht zu erklären, denn Brasilien gehe es ja relativ gut, die Präsidentin agiere immerhin mittelmäßig. Die Bewegung sei ein Strohfeuer, sie werde nichts ändern und bald versanden, gab der 80-Jährige kürzlich zu Protokoll. Eines aber ist der Bewegung schon nicht mehr zu nehmen, und sie ist gerade für die Generation Internet so wichtig: die Initiationserfahrung des öffentlichen Raumes als Ort von Politik, und die Selbsterfahrung als politisches Subjekt, das etwas bewegen kann. Jederzeit wieder.


Dieser Artikel erschien in gekürzter Fassung am 17. Juli 2013 in "Die Welt"