Whistleblower oder die Neu-Vermessung des transatlantischen Grabens

Whistleblower ist eine Person, die für die Allgemeinheit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang an die Öffentlichkeit bringt.
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Whistleblower ist eine Person, die für die Allgemeinheit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang an die Öffentlichkeit bringt.

Die Enthüllungen von Edward Snowden haben erhebliche Verwerfungen in den transatlantischen Beziehungen hervorgerufen. Dabei geht es vor allem um zwei Debatten: die eine dreht sich um die Rolle von sogenannten Whistleblowern, die andere um die Frage der Balance von Sicherheitserfordernissen einerseits und dem Schutz der Privatsphäre andererseits. Der Gang der Ereignisse hat dazu geführt, dass die Diskussion  einen transatlantischen Gegensatz beschreibt. Dies ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Die gängige Beschreibung der Kontroverse ignoriert weitgehend die inneramerikanische Diskussion.

Whistleblower sind Personen, die Missbrauch, Korruption oder allgemein illegales Verhalten enthüllen. Sie spielen eine wichtige Rolle, um Fehlverhalten zu verhindern und tragen vor allem dazu bei, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu stärken. Whistleblower haben deshalb über den unmittelbaren Fall hinaus eine grundsätzlichere Funktion: sie schaffen Öffentlichkeit und eröffnen den Raum für die Diskussion von Fehlverhalten im privaten wie öffentlichen Sektor. Ein moderner Rechtsstaat tut deshalb gut daran, Whistleblower zu schützen. Dies ist der Grund, warum Präsidenten unterschiedlicher Couleur wie Barak Obama oder George H. W. Bush sich öffentlich für den Schutz der Whistelblower ausgesprochen haben. Der Schutz von Whistleblowern hat in den USA eine lange Geschichte,  die bis zum Bürgerkrieg zurückreicht. Damals ging es darum, die Armee vor betrügerischen Lieferanten zu schützen, ein bis heute aktuelles Thema.

Obwohl Whistleblower also helfen, fundamentale Grundrechte zu schützen, kommen sie häufig mit anderen Interessen in Konflikt. Die Erfahrung zeigt, dass diese Interessen, sei es institutionelle Loyalität oder die  öffentliche Sicherheit, den Schutz der Whistleblower untergraben. In den USA werden sie meist aus ihren Jobs entlassen, viele finden danach keine Arbeit. Rechtsexperten argumentieren, dass das bestehende Rechtssystem in den USA den Whistleblowern keinen ausreichenden Schutz gewährt, diese sich deshalb häufig auf schmalem Grat bewegen. Zu Helden, wie Daniel Ellsberg, der durch die Enthüllung der Watergate Affäre den damaligen Präsidenten Nixon zu Fall brachte, werden nur die wenigsten.

Die Bewertung von Edward Snowden in der Öffentlichkeit hat sich seit seiner Flucht ständig gewandelt. Die ersten Reaktionen verurteilten ihn als Verräter. Der Verdacht steht aufgrund seiner Flucht nach Hongkong und seinem begrenzten Asyl in Russland noch immer im Raum.  Der sicherheitspolitische und transatlantische Mainstream hält bis heute an dieser Deutung fest. Die transatlantischen Verwerfungen werden auf die deutschen Erfahrungen mit zwei Diktaturen und einer kaum existenten sicherheitspolitischen Diskussionskultur  in Deutschland zurückgeführt.  Andererseits habe die Bevölkerung der mit globalen Interessen geübten Großmacht  USA ein wesentlich aufgeklärteres Verhältnis zu den Aktivitäten ihrer Geheimdienste. Beide Argumente sind nicht von der Hand zu weisen.

Diese Deutung ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Inzwischen werden die Enthüllungen Snowdens in den USA als wichtiger Beitrag zu einer längst überfälligen Diskussion gewertet. Am auffälligsten war der rasante Positionswechsel von Dianne Feinstein. Die progressive Demokratin aus Kalifornien ist Vorsitzende des Kongress-Komitees, das den Geheimdienst NSA überwachen soll.  Nach Snowden‘s Flucht rechtfertigte sie die Geheimhaltungspolitik der NSA mit  der nationalen Sicherheit. Es dauerte nur wenige Wochen (und einige weitere Enthüllungen aus dem Snowden Repertoire von 1,7 Millionen Dateien) und Feinstein wurde zur vehementen Kritikerin der Gebaren des Geheimdienstes.  Das Time Magazin hat erwogen, Snowden zur „Person des Jahres“ zu küren. Er wurde in der Abstimmung der Redaktion nur knapp von Pabst Franziskus geschlagen. Der Washington Post Kommentator Eugene Robinson warf Mitte Dezember der Regierung vor, jeden Beweis schuldig geblieben zu sein, dass das überbordende  Ausspähen amerikanischer Bürger auch nur einen Anschlag verhindert hätte.  Die  American Civil Liberties Union, eine der großen Bürgerrechtsorganisationen fordert eine Revision der Gesetze, auf denen die Abhöraktionen beruhen und geht gerichtlich gegen die Regierung vor. Die meinungsstarke Los Angeles Times fordert eine Verfassungsreform des 4. Amendments (Verfassungsergänzung),  das den Schutz der Privatsphäre regelt. Die Rechtsprechung des obersten Gerichtshofs, argumentiert die LA Times, stamme aus der vor-digitalen Zeit. Politik und Rechtsprechung, halten mit der digitalen Entwicklung nicht mehr Schritt. Das ist keineswegs nur ein deutsches oder europäisches Problem, dies ist auch Gegenstand der amerikanischen Debatte.

Gerade viele „fortschrittliche“ Amerikaner sind enttäuscht von ihrem Präsidenten, der mit einer eindeutigen Agenda für mehr Transparenz angetreten ist, der aber  in den Augen vieler seiner Anhänger vor dem überbordenden Sicherheitsapparat kapituliert hat. Dabei hat der Präsident im August eine unabhängige Experten-Kommission eingesetzt, die ihren Bericht „Freiheit und Sicherheit in einer sich ändernden Welt“ am 19. Dezember vorgelegt hat.  Mit dem Verweis auf die Gefahr massiver Datensammlungen durch die Regierung empfiehlt die Kommission, den Geheimdienst erheblich zu beschränken. Der Bericht hat heftige Gegenreaktionen in der Sicherheits-Community ausgelöst, die den Autoren vorwirft, den Freiheitswerten zu große Bedeutung gegenüber den Sicherheitsanforderungen beizumessen. Die Auseinandersetzung ist längst nicht entschieden. Die einflussreiche Sicherheits-Community hat viel zu verlieren. Der demokratische Rechtsstaat allerdings auch.

Spätestens seit klar ist, dass die NSA andere Staatschefs ausspioniert und auch Amerikaner keineswegs – wie anfangs versichert – von den Lauschaktionen ausgenommen sind, gewinnt die Diskussion langsam an Fahrt. Die Debatte als transatlantisches Auseinanderdriften zu führen greift zu kurz und trägt eher dazu bei, den Graben zu vergrößern. Der Ausgleich zwischen dem Schutz der Privatsphäre und den Sicherheitserfordernissen im digitalen Zeitalter ist eine komplizierte Aufgabe. Eine solche Balance lässt sich auch nicht ein für allemal festlegen, sondern entspringt einer offenen gesellschaftlichen Debatte, die  kaum mehr auf nationaler Ebene sinnvoll geführt werden kann.  Wir sollten sie transatlantisch miteinander und nicht gegeneinander führen, weil nur so nationalistische und anti-amerikanische Ausschläge im Zaum gehalten werden können. Wir sollten sie aber auch realistisch und selbstkritisch führen: Eine Weltmacht, die Sicherheit auch für die Bundesrepublik herstellt, wird manche Fragen anders beantworten, als eine Mittelmacht, die sich schwertut eine realitätstaugliche Sicherheitsdebatte zu führen.