Vom Verschwinden politisch intellektueller Vorbilder in Europa

Hintergrund

Was würden die politischen intellektuellen Vorbilder der achtziger Jahre wohl von den heutigen Geschehnissen der Gesellschaft halten? Autorin Tanja Dückers schreibt über eine Zeit, die von Orientierungsfiguren geprägt war.

Tschechische Menschen protestieren gegen den Premierminister in Prag

Das Ableben von wichtigen intellektuellen Orientierungsfiguren in Mitteleuropa wie Vaclav Havel, György Konrad, Lenka Reinerová, Edgar Hilsenrath, Ágnes Heller, Günter Grass und auch – immer noch - Heinrich Böll hat Vakanzen geschaffen, die spürbar geblieben sind. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was ein Havel vom gegenwärtigen tschechischen Premier Andrej Babis halten würde, was ein György Konrad oder eine Ágnes Heller („Orbán ist ein Diktator, aber Ungarn ist keine Diktatur“) zu Viktor Orbáns neuesten kulturpolitischen Äußerungen sagen würde und ein Heinrich Böll, ein Freund der russischen Dissidenzia, zu Putins Nachkriegsordnung in Syrien. Oder - Böll war auch ein Umweltaktivist - zur Friday-for-Future-Bewegung heute.

Man könnte sich auch fragen, was der bedeutende türkisch-armenische Journalist und Redakteur Hrant Dink, der 2007 von ultranationalistischen Kräften in Istanbul ermordet wurde, zur Invasion der türkischen Armee in den kurdischen Gebieten Syriens sagen würde. Oder eine Anna Politkowskaja, die 2006 ermordet wurde, zu den diesjährigen Protesten in Russland. Leider sind eine Reihe wichtiger intellektueller Stimmen sowohl in Mitteleuropa als auch an Europas Rändern nicht freiwillig verstummt. Ein mutiger, aufstrebender Journalist war Jan Kuciak, der im vergangenen Jahr in der Slowakei erschossen und nur 27 Jahre alt wurde. Die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia, die vor zwei Jahren einem Anschlag zum Opfer fiel, war eine wichtige, kritische Stimme in ihrem Heimatland.  

Von der Vergangenheit geprägt

Mit Blick zurück auf die erstgenannten intellektuellen Orientierungsfiguren: es fällt auf, wie viele von ihnen jüdischer Herkunft waren, die Shoa erlitten haben. Ihr Ableben markiert einen Wendepunkt, an dem es immer weniger Zeitzeugen gibt, die den Jüngeren, gerade auch den Jüngsten in Schulen zum Beispiel, vom Holocaust berichten können.

In Zeiten, in denen für einige Menschen der Holocaust vor aktuellen Konflikten zwischen Israel und anderen Ländern in den Hintergrund zu geraten scheint, wären diese Stimmen wichtig. Shoa-Überlebende sind nicht selten ihrerseits heute durchaus „israel-kritisch“, aber haben eine profunde erfahrungsgesättigte Sicht auf die Dinge. Ohne Kenntnis der Geschichte kann kein Urteil über den Nahostkonflikt möglich sein. Gerade Jugendliche sind eher über persönliche Erlebnisse und Berichte erreichbar als über die Präsentation abstrakter Zusammenhänge. Dieser demographisch bedingte Verlust der Kriegsgeneration hat natürlich nicht nur prominente Opfer, sondern auch viele Menschen, die in ihren Familien oder anderen überschaubaren Zirkeln ihre Erfahrungen weitergegeben haben. Dennoch: dass es bald keine Zeitzeug/innen des Zweiten Weltkriegs mehr gibt, wird Einfluss auf die Erinnerungskultur haben. Eindrückliche Begegnungen werden fehlen.

Öffentlichen Figuren wie György Konrad, Vaclav Havel, Agnes Heller oder auch Heinrich Böll standen für einen grundsätzlichen Humanismus. Ich denke hier ebenso an die jüdische Autorin und Publizistin Lenka Reinerová, die in Prag gelebt und auf Deutsch geschrieben hat. Fast ihre gesamte Familie wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Sie selber entkam nur knapp dem Holocaust, lebte im Exil in Mexiko und Casablanca. Dennoch bewahrte sich Lenka Reinerová eine dem Menschen zu gewandte, den Einzelnen beurteilende und nicht ein ganzes Land ablehnende empathische Haltung. Sie besuchte Deutschland sehr oft, hielt Lesungen hier, suchte das Gespräch mit den Deutschen, mit ihren Kolleg/innen - ihre Bücher erschienen beim Aufbau-Verlag. Sie starb im Jahr 2008 mit 94 Jahren in Prag.

Was den genannten Autor/innen und Denker/innen gemein ist, ist ihre Fähigkeit, den Einzelnen zu betrachten und nicht ideologisch-prinzipienhaft zu denken. Sie polarisierten nicht, dachten nicht in Kategorien, sondern suchten immer wieder Brücken, um auch mit Menschen, deren Weltbild sie nicht teilten, im Gespräch zu sein. Diese Haltung vermisst man heute oft. 

Gibt es heute keine „Vorzeige-Intellektuellen“ mehr?

Doch was den Verlust sogenannter „Vorzeige-Intellektueller“ angeht, hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten, wie mir scheint, eine generelle Veränderung vollzogen: Anstelle einzelner wichtiger Denker/innen und Ratgeber/innen (meistens waren es Männer, dazu später noch), scheint nun eine eher unübersichtliche Zahl an öffentlichen Figuren getreten zu sein. Woran liegt das? Zum einen hat sich die Anzahl an Medien, in denen sich heute Publizist/innen, Schriftsteller/innen und Philosoph/innen äußern, sehr erweitert. Es gibt nicht mehr nur wenige Leitmedien, die interessierte Leser/innen nach ihrer politischen Ausrichtung wählen. Eine beinahe unüberschaubare Anzahl an Online-Medien ist hinzugekommen, einige von ihnen von hoher publizistischer Qualität. Auch das Angebot an Fernsehsendern (ganz zu schweigen von Netflix & Co.) war noch Mitte der achtziger Jahre, zu Bölls Zeiten, wesentlich kleiner als heute. Die Partikularisierung der Öffentlichkeit hat sich fortgesetzt. Verschiedene gesellschaftliche Milieus treffen sich nicht mehr bei der „Tagesschau“ oder den „Tagesthemen“, sondern bewegen sich zunehmend in eigenen Sphären, die wiederum eigene Protagonist/innen hervorbringen.

Vielleicht wird eine der großen Bewegungen der Gegenwart, die Fridays-for-Future-Bewegung, nicht nur kurzfristig wichtige neue Leitfiguren wie Greta Thunberg hervorbringen, über die man in dreißig Jahren noch sprechen wird. Möglicherweise werden diese Bewegungen auch eine neue, vielschichtige und diverse Generation von öffentlichen Intellektuellen hervorbringen.

Fehlende Diversität

Wenn man hingegen die literarische Landschaft der achtziger Jahre Revue passieren lässt, so fällt auf, dass die wenigen wirklich prominenten Meinungsmacher – Grass, Böll, Enzensberger und Lenz – alle der gleichen Generation angehörten, alle männlich waren, weiß, mit vergleichbaren oder ähnlichen Themen (die eben eine Generation in Westdeutschland prägen) beschäftigt, wobei sich Böll als Einziger sehr vorausschauend auch umweltpolitisch aktiviert hat. Sie waren mehr oder weniger miteinander befreundet, gehörten der Gruppe 47 an (vom Osten hörte man nur gelegentlich - wie aus einem exotischen Land). Im Rückblick vermisst man andere Stimmen; die siebziger und frühen achtziger Jahre erscheinen in intellektueller Hinsicht ein wenig als (wenngleich qualitativ zweifellos „hochwertige“) Monokultur.

Der Blick in die Vergangenheit sollte daher nicht nur nostalgisch ausfallen. Auch wenn es heute mühseliger geworden ist, sich zu orientieren, so fällt die große Bandbreite an öffentlichen Figuren nicht nur als Negativum auf. Man vermisste doch die weiblichen Stimmen sowie prominente Denker/innen, die eine nicht-deutsche Herkunft haben. Während György Konrad in seiner Generation in Deutschland noch eine Ausnahme war, so gibt es heute in der mittleren und jüngeren Generation deutlich mehr Vielfalt.

Das Gleiche gilt für die Philosophie und die Geschichtswissenschaften. Es gibt wieder mehr Streit, mehr Perspektiven, Mehrdimensionalität – nicht nur das Links-Rechts-Spektrum auf der Achse zwischen RAF-Sympathisant/innen und Franz-Josef-Strauß. Und das wirkt belebend. Sicher, rechtspopulistische Stimmen mit ihrem Absolutheitsanspruch im Denken und ihren antidemokratischen Anliegen stören die Debatten. Doch sie sollten, nur weil sie oft laut und grell sind, nicht überbewertet werden – und schon gar nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor hierzulande große vielstimmige gesellschaftliche Debatten gibt.

Dass die Generation, die heute an den Machthebeln sitzt, keine einzelnen herausragenden intellektuellen Leuchttürme hervorgebracht zu haben scheint (wie die Generation Grass-Böll-Enzensberger-Lenz), liegt meines Erachtens weniger daran, dass es gegenwärtig nicht ebenso viele sehr kluge und gute Autor/innen gibt – von Carolin Ehmke und Naika Foroutan über Richard David Precht bis hin zu Harald Welzer, Karen Duve oder Juli Zeh, um nur einige wenige zu nennen – , sondern dass es in dieser Generation weniger „zentralistisch“ zugeht. Sie hat weniger Interesse daran, nur eine Handvoll von Vorzeige-Intellektuellen auf die große Arena zu bitten. Autor/innen, die erst vor wenigen Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kamen, dürfen heute im Literaturhaus Berlin auftreten ohne erst durch den mühseligen Meriten-Ansammel-Prozess im deutschsprachigen Literaturbetrieb gegangen zu sein. Das Publikum scheint genug Interesse für unterschiedliche Akteur/innen aufzubringen und immer weniger darauf zu geben, ob jemand schon etabliert ist, viele Preise und Ehrungen erhalten hat. Verleger/innen stellen überrascht fest, dass eine gute Besprechung in der FAZ heute keineswegs den Verkauf eines Romans vorhersehbar befeuert. Das Publikum heute bildet sich zunehmend  - mit einer gewissen frechen Ignoranz gegenüber sogenannten kulturellen Leitinstanzen – seine eigene Meinung. Mit der Masse kommt zwar auch der Schund, aber es wäre arrogant und falsch zu behaupten, dass die Masse nicht auch Klasse hervorbrächte.

Davon abgesehen sollte man der Kanonbildung sowie der Fokussierung auf wenige grands intellectuels grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Nicht selten sind es andere Eigenschaften als lediglich diejenigen, die mit künstlerischer Qualität in Zusammenhang stehen, die den Einen ans Ruhm-Firmament projezieren und den Anderen in Vergessenheit geraten lassen.

Heinrich Böll war, anders manch anderer berühmter Schriftsteller seiner Zeit, ein sehr bescheidener Mensch, der mit der großen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil kam, immer etwas gefremdelt hat. Gern hat er sich in seine „zweite Heimat“, nach Irland begeben, um dort zurückgezogen zu leben. Die heutige Vielfalt und die schulterzuckende Ignoranz vieler Menschen gegenüber dem „Würdenträgertum“ der Vergangenheit hätte ihm sicher gefallen.

Erinnerung an die Gedanken

Wenn man an Verluste denkt, dann auch an das Erinnern. Wie gedenkt man derjenigen, deren Stimmen nun fehlen? Das Thema Erinnerungskunst ist ein heikles, was sich unter Anderem daran zeigt, wie wenige Beispiele es gibt für gelungene, die Vergangenheit mit der Zukunft auf eine hoffnungsvolle, plausible und auch noch ästhetisch gelungene Weise verbindende Kunstwerke. An Havel, Böll, Konrad, Heller, Hilsenrath, Reinerová und andere erinnert man am besten statt mit nostalgischer Rückschauen mit der Lektüre ihrer Texte, gibt ihnen ihre Stimme zurück, versucht ihre Gedanken und Strategien auf heutige Zeiten zu übertragen.

Man kann sich fragen, was würde ein Havel jetzt den Tschechen unter Babis raten? Oder eine Lenka Reinerová Freund/innen, Nachbar/innen, Angehörigen von AfD-Anhänger/innen? Welche Volte würde der bitterböse Humor des Schriftstellers Edgar Hilsenrath („Der Nazi & der Frisör“ hat sich weltweit über zwei Millionen mal verkauft) jetzt schlagen - angesichts des grotesken politischen Personals so einiger Rechtspopulist/innen in Europa? Was würde ein Böll den Deutschen raten, die für mehr Datenschutz kämpfen? Denn vieles, was z.B. Böll geschrieben hat, ist gegenwärtig noch erschreckend aktuell. Der Roman „Fürsorgliche Belagerung“ (1979), der sich sehr genau mit der staatlichen Überwachung seiner Bürger/innen auseinandersetzt, ist nur ein Beispiel hierfür. Die Kirchenkritik in den „Ansichten eines Clowns“ ist leider auch nicht obsolet geworden. Das Gleiche gilt für Bölls politische Essays (u. A. „Heimat und keine“), in denen er Bürgerrechte und mehr Mitgefühl einfordert, aber auch Fragen nach dem, was ein Heimatgefühl ausmachen könnte, nachging und diese ganz im Sinne des Buchpreisträgers von 2017 – Robert Menasse – regional statt nationalistisch beantwortet.

Die Havels, Konrads, Bölls, Hellers und Reinerovás sind zwar physisch nicht mehr unter uns, aber ihre Gedanken, Überzeugungen und Empfehlungen sind für uns immer noch nachlesbar.