Mit dem Kommunalpolitiker Tim Wagner sprach die Journalistin Laura E. Ewert.
Heinrich-Böll-Stiftung: Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Tim Wagner: Es ist meist ein lokales Thema, das einen reizt, über das man den politischen Einstieg findet. Das war bei mir der Kindergarten. Ich war dort schnell Elternsprecher, dann Stadtelternsprecher und dann stellvertretender Landeselternsprecher. Es ging um Dinge, die sehr profan klingen, aber doch sehr kompliziert sind, wie die Ausschreibungen für Kita-Essen zu organisieren, die Schaffung von besseren Betreuungsschlüsseln für die Kitas, aber auch mit der Stadt zusammen eine Bedarfsplanung zu machen. Ich war zu der Zeit auch schon in der FDP und bald wurde auch mein betriebswirtschaftliches Wissen gefragt. Es ging etwa darum, in verschiedenen Ausschüssen als sachkundiger Bürger mitzuarbeiten. Eigenbetriebe kontrollieren, kommunale Immobilien, kommunales Marketing, das waren meine Einstiegsthemen.
Was sind Ihre größten politischen Erfolge?
Das war das Kita-Portal in Jena. Ich habe seit 2010 gekämpft, dass wir die Kitaplatz-Vergabe in Jena über ein Portal regeln, was für alle transparent ist, wo für alle die Informationen zu finden sind, die sie brauchen. Auf dem die Träger selbst die Information einstellen können. Und das kommt jetzt zum Tragen, wo Kitaplätze abgebaut werden müssen. Denn die Eltern sehen hier sofort freie Kapazitäten. Das ist mein schönster Erfolg.
Was ist Ihre Angriffsfläche?
Ich stehe zu meinen Überzeugungen. Nehmen wir das Thema Abschiebungen. Klar ist es wichtig, dass wir Straftäter abschieben können. Aber trotzdem gibt es immer noch Artikel 1 unseres Grundgesetzes, das über allem steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und ich habe ein ungutes Gefühl dabei, Menschen nach Afghanistan und Syrien abzuschieben, wenn ich weiß, dass ihnen dort der sichere Tod oder Folter droht. Ein anderes Beispiel: Letzte Woche bin ich nach der Kirche in die Dorfkneipe gegenüber gegangen. Mir war es einfach zu blöd, dass dort ständig irgendwelche judenfeindlichen Witze gemacht werden und alle lachen. Und dann habe ich gesagt: „Müsst ihr die ganze Zeit euren Hass auf Menschen auskippen?“ Ich bin durchaus bereit, Kontra zu geben, wo andere Menschen schweigen. Und dadurch biete ich halt eine Angriffsfläche.
Wann wird das gefährlich?
Eine andere Situation war, als im Februar 2020 Thomas Kemmerich als Ministerpräsident in Thüringen vereidigt wurde. Viele Menschen sind an uns auch privat herangetreten, meine Kinder wurden in der Schule belästigt. Antifagruppen haben im Internet veröffentlicht, auf welchem Spielplatz meine Kinder spielen, die kamen aus Leipzig, um in Jena mein Haus auszuspionieren. Ich kann das aushalten, aber die wollten politisch Druck auf mich ausüben, in dem sie an meine Familie rangehen. Und da gerät unsere Gesellschaft gerade ins Wanken, weil man Menschen nicht mehr zugesteht, dass sie zu ihren Überzeugungen stehen.
Was raten Sie denn anderen Politikern, die auch mit Übergriffen oder Bedrohungen zu tun haben?
Selbst bei jeder Kleinigkeit die Sicherheitsbehörden einzuschalten. Es ist wichtig, dass die Statistik auch diese Fälle erfasst, denn nur so werden Handlungsfolgen ausgelöst. Das Pendel schlägt gerade um, es sind eben keine Kavaliersdelikte mehr. Und es sind ja nicht nur Angriffe auf Politiker; auch auf Lehrer, Polizisten, Krankenwagen-Rettungsteams sind betroffen.
Wie erklären Sie sich das?
Frust ist nur ein Aspekt. Viele Leute fühlen sich einfach nicht wahrgenommen, wissen gar nicht, wie sie handeln können. Sie wissen zum Beispiel nicht, dass sie auch eine Petition schreiben können, wenn sie etwas stört. Wir sind konfliktunfähig geworden, weil wir kaum mehr gewohnt sind, dass jemand ein Widerwort gibt. Wir haben auch nicht richtig gelernt, mit sozialen Netzwerken umzugehen. Ob man eine Diskussion schriftlich führt oder ich einen Menschen gegenüber habe, macht einen Unterschied. Die einen können mit dem Konflikt nicht umgehen und flüchte sich in Gewalt und die anderen sind politisch motiviert, sie sind der Überzeugung, dass sie mit Gewalt die Leute davon abhalten können, weiterhin ihre Meinung zu vertreten.
Gibt es innerhalb der FDP interne Schulungen oder Handreichungen für Politiker, damit umzugehen?
Wir haben uns Gedanken gemacht, wie wir Kommunalpolitiker schulen, was wir ihnen mitgeben können, aber da gibt es keine offiziellen Handlungsanweisungen. Auch, weil wir keine Ängste schüren und so Leute von Ämtern abhalten wollen. Es gibt aber auch keinen Grund für Angst, das sind immer noch Einzelfälle. Aber plakatieren geht man besser mindestens zu zweit, Infostände werden mindestens zu dritt gemacht. Aber auch, weil die Infostände größer geworden sind. Früher haben wir uns mit einem Sonnenschirm hingestellt, mittlerweile stellt man einen Pavillon auf. In meinem Fall, wo mir AfD-Anhänger beim Plakatieren meine Autotür eingetreten haben, als meine 14-jährige Tochter im Auto saß, wäre es sicher besser gewesen, ich wäre meinen eigenen Empfehlungen gefolgt und hätte einen zweiten Erwachsenen dabei gehabt. Dann hätte ich wegfahren und der Begleiter schneller die Polizei rufen können.
Bei der medialen Berichterstattung hat man schnell den Eindruck, Übergriffe seien ein ostdeutsches Problem. Stimmt das?
Die Diskussionskultur ist hier schon eine andere. Dieser Hang, ein Argument schnell abzutun mit „die da oben“, der ist im Osten stärker. Das sind aber auch Erfahrungswerte. Wir haben in Thüringen die zweitälteste, in Sachsen-Anhalt die älteste Bevölkerung der Welt nach Japan. Viele Menschen haben das DDR-System noch aktiv erlebt haben und denken: Ich kann eh nichts machen, die da oben machen das. Wobei ich immer der Überzeugung war: Das haben die Ostdeutschen selber widerlegt. Aber der Ostdeutsche hat auch ein Veränderungsproblem, denn er hat Anfang der 90er Jahre einen der größten sozialen Veränderungsprozesse in der Geschichte durchgemacht. Und dann stellt mir eben eine 80-jährige Frau, wie meine Mutter, die Frage, warum sie sich noch verändern soll. Sie denkt: Ich habe Werte geschaffen in meinem Leben. Ich will, dass die Werte erhalten werden. Warum soll sie ihr Deutschlandticket auf dem Handy nutzen, obwohl sie gar kein Handy hat? Na ja, wenn wir dieses Ticket für 20 Millionen Rentner ausdrucken, dann wird es nur noch teurer. Dann sagt sie aber, man müsse es für sie drucken, sie sei ja ein Auslaufmodell. Diese Gegenwehr bei Veränderung kombiniert mit einer Bundesregierung, die im gesellschaftspolitischen Bereich viele Veränderungen angestoßen hat, die über Jahrzehnte liegen geblieben sind, das löst diesen Druck im Osten aus, der das Fass zum Überlaufen bringt. Inflation ist das wichtigste Thema für die Menschen, und viele denken: Wir machen dagegen nichts, aber sorgen dafür, dass die Menschen zukünftig jedes Jahr ihr Geschlecht ändern können. Das ist die Ausgangsposition für die Diskussion. Und ich glaube, es gibt in den westlichen Bundesländern oft mehr Verständnis dafür, dass man auch mal gesellschaftspolitisch was verändert, bevor man wieder die harten Faktoren angeht.