Mit rund 41 Prozent der Stimmen landesweit hat die rechtslibertäre Regierung Milei die Kongress-Zwischenwahlen überraschend deutlich gewonnen. Sie kann nun mit über einem Drittel der Sitze im Abgeordnetenhaus zumindest Vetos des Kongresses gegen die Präsidialdekrete aufheben. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von nur rund 69 Prozent erlitt die peronistische Opposition ein Debakel.
In einer der Nebenstraßen um den ehemaligen Flugplatz in Luis Guillón, einer der zahlreichen Klein-Städte in den südlichen Vorortbezirken des Großraums Buenos Aires, staut sich am Mittag des Wahlsonntags der Rauch eines einzigen, bescheidenen Grills in einem der Vorgärten. Zwischen vereinzelten, gepflegten kleineren Häusern der unteren Mittelschicht, stapeln sich in Eigenregie zusammengemauerte, unverputzte Bauten in mutigen zwei-Stockwerk-Konstruktionen. Diese Straße, wie so viele in den Vororten mit Kratern übersät und behelfsmäßig mit Bauschutt geebnet, wurde erst vor wenigen Jahren endlich an das öffentliche Abwassernetz angeschlossen.
Rezession und Job-Vernichtung
Der Nachbar mit dem Grill stochert eher lustlos in der schwer zu entflammenden Glut, noch am Vortag hatte es sintflutartig geregnet. Er arbeitet mittlerweile gezwungenermaßen auf Teilzeit in einem der wenigen Kleinbetriebe für Elektrokomponenten, die in Zeiten beinahe grenzenloser Marktöffnung für Importe und die dadurch verursachte Rezession noch verschont geblieben sind. Seit 2023 hat der Kurs der Milei-Administration 15.000 Betriebe und 220.000 reguläre Jobs allein in der privaten Wirtschaft vernichtet, und die Kaufkraft der Löhne beinahe halbiert. Für den Nachbarn wird bei einem Vollzeit-Tariflohn von umgerechnet etwas über 600 Euro angesichts des europäischen Preisniveaus in Argentinien alleine für Lebensmittel die Luft sehr schnell sehr dünn. Dennoch hat er an diesem Tag für Javier Milei gestimmt. Man müsse ihm noch eine Chance geben, sonst seien die bisherigen Opfer schmerzlicher Einschnitte alle umsonst gewesen – und zurück zur Situation vorher wolle niemand mehr.
Angst-Kampagne gegen Rückkehr der Peronisten
Genau dies waren auch die zentralen - und einzigen - Botschaften, auf die sich in den letzten Tagen der Wahlkampf des Regierungslagers konzentrierte: Eine klassische Angst-Kampagne gegen die Rückkehr des kirchneristischen „Links“-Peronismus, gegen die vermutete Rückkehr von Inflation, Währungsrestriktionen und Stagnation.
Noch vor wenigen Wochen schien die Regierung, bedrängt von zahlreichen Korruptionsvorfällen, einer krachenden Niederlage bei den vorgezogenen September-Wahlen in der Provinz Buenos Aires und zunehmend nervösen Märkten unter Druck zu geraten. Neben den aggressiven Ausfällen und Rockstar-Kapriolen des Präsidenten sowie Verwicklungen von einzelnen Kandidaten in Drogengeschäften waren dafür vor allem im April ein erneuter Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 25 Milliarden USD und die permanenten Währungsinterventionen für eine künstliche Stärkung des Pesos zur Inflationsbekämpfung verantwortlich, die die Dollar-Reserven belasteten. Zudem ist angesichts der Zinspolitik der Regierung in diesem Zusammenhang das Kreditgeschäft praktisch zum Erliegen gekommen. Diese Interventionsmanöver der Regierung sind ökonomisch kaum nachhaltig, und generieren auch unter liberalen Ökonomen zunehmend Zweifel an einer langfristigen Stabilisierung. Noch Anfang Oktober war das Länderrisiko auf über 1200 Punkte gestiegen [ein wichtiger Marktindikator für die Kreditwürdigkeit eines Landes, ein sehr hohes Risiko beginnt bei 1000 Punkten; Anmerk. der Redaktion], die Landeswährung trotz Devisenverkäufen extrem unter Druck geraten.
Eigennützige Wahlkampfhilfe aus Washington
Dann reisten Wirtschaftsminister Caputo und schließlich auch Milei nach Washington, um mit US-Finanzminister Scott Bessent und Trump zu verhandeln und erreichten Zusagen über Finanzhilfen in Höhe von theoretisch 40 Milliarden US-Dollar – verbunden mit einer beispiellosen Drohung des US-Präsidenten: Wenn Milei die Oktoberwahlen verliere, würden die USA gegenüber Argentinien nicht großzügig sein.
Abgesehen von fraglichen Interessenlagen der großzügigen Helfer in Washington stellten diese Zusagen nicht nur den buchstäblichen Strohhalm für den ökonomischen Kurs der Milei-Regierung dar, sondern lieferten auch das letztlich mobilisierende Element für eine extrem gespaltene Wähler*innenschaft: Ein gutes Drittel zählt als Milei-Kernwähler*innenschaft, ein weiteres gilt als Unentschieden in der Mitte und ein Drittel als peronistische Kernwähler*innenschaft. Während einige FokusgruppenUmfragen in den Wochen vor den Wahlen selbst bei der Hälfte der Milei-Kernwähler*innenschaft und in der Mitte angesichts von steigender Armut und Arbeitslosigkeit Zweifel am Kurs und dem Gebaren des Präsidenten zeigten, überwog am Ende offenkundig die Angst vor dem Ende der - immer noch prekären - makroökonomischen Stabilität und einer Rückkehr des kirchneristischen „Links“-Peronismus.
Selbstzerstörung der Konservativen
Insbesondere Letzteres dürfte vor allem für den Teil der Wähler*innenschaft der ehemals als mitte-konservativ geltenden Propuesta Republicana, der PRO-Partei von Ex-Präsident Mauricio Macri, den Ausschlag gegeben haben, in einer gewissen politischen Verbissenheit für Milei zu stimmen. Dabei hatte Macri allerdings mit einer teilweisen gemeinsamen Listenaufstellung zwischen „La Libertad Avanza“, kurz LLA, und PRO auch selbst – erneut - dafür gesorgt, dass die PRO als eigenständiges politisches Projekt mittlerweile praktisch in Auflösung begriffen ist. Das politische Personal seiner Regierung 2015-2019, von Wirtschaftsminister Caputo über Zentralbankchef Bausili bis hin zur chamäleonartigen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich besetzen zentrale Posten in der Milei-Regierung und Partei (LLA). Sie haben inzwischen auch die rechtslibertären Diskurse nahtlos in die eigene politische Positionierung übernommen: So äußerte Bullrich erst vor wenigen Tagen in einem rechtsextremen Stream, dass eine vermeintliche „Männerverachtung“ des Feminismus für die rapide wachsende Zahl brutaler Femizide in Argentinien verantwortlich sei.
Die Selbstzerstörung der PRO, getrieben durch ihren Übervater Macri, birgt die nicht zu unterschätzende Gefahr einer Konsolidierung rechts-libertär-identitärer Strömungen als gesellschaftlich relevante Kraft, der - gerade auch im Zuge dieses deutlichen Wahlsieges - der Kernanhänger*innenschaft Mileis und ihren Hassdiskursen zumindest in den nächsten Monaten einen enormen Legitimations- und Mobilisierungsschub liefern und das gesellschaftliche Klima noch weiter vergiften dürfte.
Gouverneure geschwächt
Mindestens enttäuschend ist auch das Resultat der föderalen Allianz „Provincias Unidas“ (PU), eines sich selbst in der politischen Mitte positionierenden Zusammenschlusses verschiedener Gouverneure bedeutender argentinischer Provinzen, die in der Vergangenheit oft selbst Ziel der aggressiven und vulgären Angriffe Mileis waren. Die PU-Allianz erzielte gerade einmal acht Sitze im Kongress – damit stehen die Gouverneure auch in künftigen Aushandlungsprozessen zwischen der Zentralregierung und den Provinzen deutlich geschwächt dar.
Debakel der Peronisten
Erschütternd ist das Ergebnis - vor allem auch in der Provinz Buenos Aires - für die peronistische Opposition Fuerza Patria (FP), die sich noch in den Tagen vor der Wahl angesichts der Regierungskrisen und des massiven Abstands zur LLA von über 14 Prozent bei den Septemberwahlen in Siegesgewissheit wägte und eine aufs Minimum reduzierte Kampagne führte – ganz nach dem Motto „Wenn Dein Feind Fehler macht, störe ihn nicht dabei“. Sie unterschätzte offenkundig nicht nur die Wirkung der Stabilitäts-Versprechungen (oder Drohungen) mithilfe der US-Dollar-Zusagen aus Washington, sondern auch die Effekte der andauernden eigenen Sprach- und Konzeptlosigkeit in zentralen Fragen zur Inflationsbekämpfung und Staatsreform. Wenig hilfreich waren auch die nur mühsam unterdrückten Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Flügeln innerhalb der FP, zwischen Kirchnerismus, gemäßigten und föderalen Peronismen sowie dem Flügel des Gouverneurs der Provinz Buenos Aires Axel Kicillof, dem noch am Wahlabend aus dem Umfeld der in Hausarrest befindlichen Ex-Präsidentin Cristina Kirchner die Schuld an dem Debakel in die Schuhe geschoben wurde, weil Kicillof die September-Wahlen in seiner Provinz von den Wahlen am Sonntag abgekoppelt und vorgezogen hatte.
Regierung ohne eigene Mehrheiten
Während die peronistische FP ihre 98 Sitze im Abgeordnetenhaus verteidigen konnte, und im Senat drei Mandate verlor, konnte Mileis LLA ihre Abgeordneten auf 82 verdoppeln - das reicht, um parlamentarische Vetos gegen zahlreiche Präsidialdekrete aufheben und so bestimmte Entscheidungen durchsetzen zu können. Milei hat aber immer noch keine sicheren eigenen Mehrheiten im Abgeordnetenhaus oder Senat, und bleibt somit insbesondere für die aus seiner Sicht entscheidenden Reformen im Arbeitsrecht, Steuerpolitik und Rentenversicherung abhängig von Stimmen aus dem geschwächten Mitte-Spektrum.
Zweifel am künftigen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs
Vor allem bleiben aber Zweifel am wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs: Bis jetzt konzentrierten sich die Regierungsbemühungen neben rabiaten, aber planlosen Kürzungen im Haushalt mit finanzieller Unterstützung des IWF und der Trump-Regierung auf das Flaggschiffprojekt Inflationsbekämpfung durch tägliche Wechselkursintervention. Zwar scheint für die nächsten Monate die Finanzierung dieser teuren, industriepolitisch fatalen und rezessionstreibenden Strategie nach den jüngsten Zusagen aus Washington gesichert. Auf Dauer lässt sich dieser Kurs einer derart offensichtlichen Überbewertung der Landeswährung allerdings nicht durchhalten, wenn es am Ende nicht doch auf eine Dollarisierung hinauslaufen soll.
Krisenzeiten?
Zudem müssen die in Mileis Regierungszeit bislang angefallenen Neu-Verschuldungen beim IWF und der US-Regierung in Höhe von (aufgrund der Zusagen noch theoretischen) insgesamt 65 Milliarden US-Dollar auch irgendwann mit Zinsen zurückgezahlt werden. Angesichts des wirtschaftlichen Einbruchs, ausbleibender internationaler Investitionen und geplanter Steuererleichterungen ist nur schwer vorstellbar, wie das Land in den nächsten Jahren auch nur annähernd wieder Wachstumsraten und Einnahmen in der dafür notwendigen Größenordnung erzielen kann. Nicht auszuschließen, dass die eigentliche wirtschaftliche und soziale Krise erst jetzt beginnt.