Indiens Regierung und die Anti-Atom-Proteste in Kudankulam

Atomanlage in Kudankulam. Foto: Petr Pavlicek/IAEA Quelle: Wikimedia Commons

6. März 2012
Axel Harneit-Sievers

Keine Frage: Indien braucht mehr Energie. Schon heute gibt es stundenlange Stromabschaltungen, und nach wie vor hat ein Viertel der Bevölkerung überhaupt keinen Anschluss ans öffentliche Netz. Angesichts des schnellen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums strebt die Regierung für die kommenden Jahrzehnte eine Vervielfachung der heutigen Kapazität von ca. 180 GW an. Um dieses Ziel zu erreichen, sind massive Anstrengungen notwendig.

Dabei zählt die indische Regierung die Atomkraft zu ihren Optionen – trotz der bekannten Risiken, trotz hoher und immer weniger kalkulierbarer Investitionskosten, und trotz der Tatsache, dass der Bau von Atomkraftwerken deutlich länger dauert als Investitionen in andere Formen der Stromerzeugung. Problematisch ist zugleich, dass Indien angesichts geringer eigener Öl- und Gasförderung heute schwerpunktmäßig auf Kohle setzt. Aber es gilt anzuerkennen, dass erneuerbare Energien bereits heute rasch ausgebaut werden. Auch in Indien sind sie teilweise schon jetzt konkurrenzfähig oder werden es in wenigen Jahren sein. Atomkraft macht selbst in den Szenarien ihrer Befürworter nur einen geringen Anteil an der gesamten Elektrizitätsproduktion des Landes aus.

Umso härter wird derzeit an der Atomkraft-Front gekämpft. Es mag schon sein, dass eine Mehrheit der indischen Bevölkerung keine rechte Alternative zur Energiestrategie der Regierung erkennt und froh ist über jedes zusätzliche Megawatt Kapazität, das irgendwie ans Netz geht. Doch Betroffene vor Ort sehen die im Bau befindlichen Anlagen wesentlich kritischer. Proteste gibt es schon lange, und seit Fukushima haben sie zugenommen.

Protest von Fischern

Dies gilt aktuell besonders für Kudankulam im Bundesstaat Tamil Nadu, nur 20 km östlich der Südspitze der indischen Halbinsel gelegen. Seit Ende der 1980er Jahren geplant, steht dort eine auf russischer Technologie basierende 2 GW-Anlage kurz vor der Inbetriebnahme. Der dortige Protest wird vor allem von Fischern getragen, die ihre Lebensgrundlage durch eine erwartete Erhöhung der Meerestemperatur im Umfeld der Anlage gefährdet sehen. Der Protest erreichte im letzten Herbst einen Höhepunkt, als Demonstrierende unter Führung des People’s Movement Against Nuclear Energy (PMANE) einen „Stafetten-Hungerstreik“ durchführten und den Zugang zur Anlage blockierten. Bereits Ende Oktober 2011 behauptete der Chef der indischen Betreiberfirma, eine „ausländische Hand“ – grüne Aktivist/innen aus den USA und Europa – würden den lokalen Protest anstacheln; ausländische Interessen würden die für Indiens Energiesicherheit wichtige Investition von zwei bis drei Milliarden Dollar blockieren.

In Indien, wo eine historisch gut begründete Skepsis gegenüber ausländischen Interventionen Tradition hat, die aber auch Verschwörungstheorien befördert, kommt eine solche Behauptung beinahe einem Hochverrats-Vorwurf gleich. Der bekannte Energiejournalist Praful Bidwai und andere indische Anti-Atom-Aktivisten entgegneten, die Proteste in Kudankulam erhielten keine finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Die einzigen Ausländer vor Ort seien die von der Betreiberfirma geholten russischen Ingenieure, und es sei vor allem die indische Atomindustrie selbst, die vom Ausland – nämlich ausländischen Firmen und Technologien – abhängig sei.

Zwischen Charme-Offensive und Einschüchterung

Die Regierung unternahm daraufhin im November eine Charme-Offensive, indem sie den populären Atomphysiker und ehemaligen Präsidenten Indiens, A.P.J. Abdul Kalam, in die Region schickte, der die Bevölkerung von der Sicherheit der Anlage überzeugen wollte und ihr massive zusätzliche Infrastrukturinvestitionen versprach.

Seit Ende Februar ist die Kontroverse eskaliert. Indiens ansonsten als eher technokratisch-reserviert bekannter Premierminister Manmohan Singh beklagte in einem Interview mit einem amerikanischen Wissenschaftsmagazin, internationale Nichtregierungsorganisationen (NRO), die sich gegen Atomkraftwerke und Gentechnik wendeten, würden indische Realitäten und Bedürfnisse nicht adäquat berücksichtigen.

Inzwischen haben Behörden die Konten mehrerer lokaler NRO in Süd-Indien eingefroren, denen sie vorwerfen, Finanzmittel aus dem Ausland für Anti-Atom-Proteste verwendet zu haben. Die betroffenen Organisationen weisen solche Behauptungen zurück. S.P. Udayakumar, der Führer von PMANE, kündigte an, er werde den Premierminister wegen Verleumdung verklagen. Ein deutscher (Polit‑)Tourist mit Kontakten zu PMANE wurde – dem Anschein nach als leicht zu fassender Sündenbock – festgenommen und aus Indien ausgewiesen.

Beunruhigende Auseinandersetzung

Diese Eskalation der Auseinandersetzung um das Kudankulam beunruhigt aus mehreren Gründen.

Zum einen versuchen indische Behörden, lokalem Protest gegen das Atomkraftwerk unter offenkundig weit hergeholten Hinweisen auf ausländische Unterstützung politische Legitimation zu entziehen. Formell stützen sie sich dabei auf die Regelungen des Foreign Contributions Regulation Act (FCRA), der auf Indira Gandhis Notstandsregierung Mitte der 1970er Jahre zurückgeht und erst 2010 insofern verschärft wurde, als er nun ausländische Unterstützung für jegliche „Organisation politischer Natur“ verbietet. Der indische Staat bedient sich des (auch aus dem Ausland finanzierten) NRO-Sektors gern, um Dienstleistungen in unterentwickelte Landesteile zu bringen. Doch mit dem FCRA steht eine Allzweckwaffe zur Verfügung, die gegen unliebsame Kritik aus dem NRO-Sektor eingesetzt werden kann – und wird, wie sich in Kudankulam zeigt. Damit wird der NRO-Sektor eingeschüchtert. Der indischen Demokratie ist dies nicht zuträglich.

Zum anderen beunruhigen bestimmte Untertöne der Diskussion. Christen stellen eine Minderheit in Tamil Nadu dar, aber Kirchen und kirchliche Organisationen sind Teil der Protestbewegung in Kudankulam (Foto). Hindu-Nationalisten nutzen diese Tatsache, um „christliche Missionare“ als Verräter am indischen nationalen Interesse zu denunzieren. Wenn jetzt höchste staatliche Repräsentanten den Anti-Atom-Protest als Resultat einer „ausländischen Hand“ beschreiben, dann spielen sie damit in die Hand genau solcher radikalen Kräfte, die sie ansonsten bekämpfen, und laufen Gefahr, der Atomdebatte den Charakter eines „kommunalistischen“ Konflikts zu verleihen. Vor dem Hintergrund zahlloser Fälle kommunalistischer Gewalt in der jüngeren indischen Geschichte ist dies nicht ungefährlich.

Bislang hat die Regierung des Bundesstaats Tamil Nadu unter Ministerpräsidentin S.J. Jayalalithaa Gesprächsbereitschaft gezeigt und versucht offenbar, zwischen widerstreitenden Interessen zu vermitteln. Es bleibt zu hoffen, dass sich ein solcher Kurs der Vernunft auch auf nationaler Ebene durchsetzt.

...

Dr. Axel Harneit-Sievers ist Leiter des Länderbüros Indien der Heinrich Böll Stiftung in Neu-Delhi.