Lokale Agenda 21: Kommunale Nachhaltigkeit 3.0 und die regenerative Stadt

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Öko-Vorreiterstadt Münster

Die Arbeitslosenquote ist auf einem Rekordtief, die CO2-Emissionen sind um 9 Prozent gegenüber 1990 gesunken, liegen aber immer noch bei 8,2 Tonnen pro Kopf, der Flächenverbrauch steigt kontinuierlich, die Zahl der Teilnehmer/innen an Kursen der Volkshochschule hat gegenüber 2004 um ein Fünftel abgenommen. Das sind Auszüge aus dem Nachhaltigkeitsbericht 2010 und aus dem Klimaschutzkonzept 2020 für die Öko-Vorreiterstadt Münster [1]. Was sagen diese Bilanzen aus? Wie nachhaltig sind deutsche Kommunen zwei Jahrzehnte nach dem Rio-Gipfel?

Das Jahr der Rio-Folgekonferenz im Juni dieses Jahres markiert zugleich das 20-jährige Jubiläum der Agenda 21, dem Aktionsplan für das 21. Jahrhundert. Dieser rief auch die Kommunen auf, ihre Bürger zu konsultieren und eine Lokale Agenda 21 (LA 21) zu verabschieden – und unter dem Motto „global denken – lokal handeln“ taten das auch viele. Die kommunale Ebene war zumindest in Deutschland lange Zeit diejenige politische Ebene, die als einzige den Aufruf zu nachhaltiger Entwicklung ernstgenommen und umgesetzt hat. Etwas über 2000 Kommunen haben in Deutschland eine Lokale Agenda 21 verabschiedet. Ungefähr im Jahr 2002 erreichte die Kurve ihren Gipfel, der danach nicht mehr überschritten wurde.

Für eine Bilanz hilft es, nachhaltige Kommunalentwicklung in Deutschland in drei Phasen zu unterteilen: Obwohl es immer noch Lokale-Agenda-21-Prozesse in Deutschland gibt, sind die klassischen Agenden der ersten Generation, die die Phase der 1990er Jahre geprägt haben, ein Auslaufmodell. Das lag auch an Konstruktionsfehlern der LA 21 respektive an der spezifisch deutschen Rezeption dieses Leitbildes. Nachhaltigkeit in Phase Zwei wurde dort, wo sie weiter Bestand hatte, zunehmend in die strategische Stadtentwicklungsplanung integriert. Parallel dazu setzen Kommunen auf sektorale Strategien wie den Klimaschutz und Pläne für eine 100-prozentige Energieversorgung durch erneuerbare Energien. Heute ist die Zeit reif für die dritte Phase, für das Leitbild einer regenerativen Stadt, die die Ökologie in den Fokus stellt und von dort aus andere Politikfelder erschließt.

Die Lokale Agenda 21

Zu Beginn der 1990er Jahre war die Lokale Agenda 21 in Deutschland ein Bürgerprozess. Das war in dieser Form weltweit in keinem anderen Land der Fall. Bürger/innen fanden sich zusammen, erarbeiteten Agenden und forderten von Verwaltung und Politik diese umzusetzen. Häufig riefen auch Verwaltungen die Bevölkerung zur Beteiligung auf, ohne sich vorher Gedanken zu machen, wie sie deren Arbeit in ihre eigenen Strukturen integrieren würden.

Vorbildlich war hier die Stadt Münster, und gerade deswegen illustriert das Beispiel gut die Kinderkrankheiten der ersten Phase kommunaler Nachhaltigkeit. Die Stadtverwaltung Münster hat alles richtig gemacht, was man sich in den 1990er-Jahren unter der Lokalen Agenda 21 vorgestellt hat:

  • Sie hat ihre Bürger konsultiert, und zwar sowohl die nicht Organisierten als auch die sogenannten Stakeholder,
  • sie hat versucht, mit und unter diesen Bürger/innen einen Konsens zu erzielen,
  • sie hat in diesem Bürgerdialog eine Lokale Agenda 21 für Münster erarbeitet und
  • sie hat das Ergebnis des Bürgerdialoges dem Rat zur Beschlussfassung und differenzierten Bearbeitung durch die Verwaltung vorgelegt.

Dennoch haben viele Prozessbeteiligte die Lokale Agenda 21 von Münster kritisiert. Unter anderem deshalb, weil die kontroverse Zusammensetzung der Arbeitskreise bei gleichzeitiger „Verpflichtung zum Konsens“ dazu führte, dass sich letztlich niemand mit den Ergebnissen wirklich identifizieren konnte. Sie repräsentierten nur den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Lokale Agenda 21 für Münster bewegte sich außerdem fast ausschließlich auf der Ebene von Projekten, die eine relativ kurze Halbwertszeit hatten. Darüber hinaus lässt sich auch der beste Partizipationsprozess nicht über Jahre hinweg aufrecht erhalten. Die Lokale Agenda 21 für Münster hat in dieser Stadt nicht wirklich nachhaltige Spuren hinterlassen.

Speziell Kommunen, die aus dem Scheitern oder Auslaufen der LA 21 gelernt haben, versuchten das Drei-Säulen-Modell, den Gleichklang aus Ökologie, Ökonomie und Sozialem, in die strategische Stadtentwicklungsplanung zu übersetzen. Häufig bieten diese Nachhaltigkeitsstrategien, wie man an dem oben genannten Beispiel Münster ablesen kann, aber keine wirkliche strategische Orientierung: Ziele wie „niedrige kommunale Verschuldung“  und „Teilnehmer an Kursen der Volkshochschule“ stehen unverbunden und gleichwertig neben „Reduzierung der CO2-Emissionen“ und „Senkung des Flächenverbrauchs“. Nachhaltigkeit wurde zu einer Art Wunschkiste, in die alles einsortiert wurde, was als positiv gilt.

Kompromissformel auf kommunaler Ebene

Die Nachhaltigkeitsberichte verstellen teilweise auch den Blick darauf, dass bei zentralen ökologischen Indikatoren kaum oder zu wenig Fortschritt zu erkennen ist. Blicken wir wieder auf die Vorreiterstadt Münster, eine reiche und wachsende Stadt. Von 1990 bis 2006 nahm die Bevölkerung um zwei Prozent zu, die Wohnfläche wuchs jedoch um 21 Prozent. Die durchschnittliche Quadratmeterzahl pro Kopf stieg von 34 auf 40. Der Endenergiebedarf privater Haushalte nahm um neun Prozent zu. Insgesamt sanken zwar die CO2-Emissionen bis 2006 gegenüber 1990 um neun Prozent, angestrebt war aber eine Senkung um 25 Prozent bis 2005. Münster hatte 2006 immer noch einen CO2-Ausstoß pro Kopf von 8,2 Tonnen pro Jahr – das ist meilenweit entfernt vom Zwei-Tonnen-Ziel, auf das sich der CO2-Ausstoß pro Kopf und Jahr reduzieren muss, um die Erderwärmung bei zwei Grad zu halten. Münster selbst hat sich das Ziel gegeben, den CO2-Ausstoß bis 2020 auf 5,4 Tonnen pro Einwohner/in zu begrenzen.

Das Drei-Säulen-Modell wurde nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern insgesamt für die Umsetzung von Nachhaltigkeit handlungsleitend. Als Konzept zur Umsetzung der Agenda 21 im Rahmen des Abschlussberichts der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1998 wurde das Modell einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und hat Nachhaltigkeit erst popularisiert. Das Modell funktionierte damals als Kompromissformel zwischen der Wirtschaft, vornehmlich der chemischen Industrie, und eher ökologischen Positionen zuneigenden Wissenschaftler/innen, indem es das Wirtschaftswachstum nicht infrage stellte, zugleich aber dessen Ökologisierung forderte. Eine Debatte, die derzeit mit der Green Economy eine Neuauflage erfährt. Und ähnlich wie bei der Enquete funktionierte das Drei-Säulen-Modell auch in Kommunen: Die integrierte Herangehensweise an Nachhaltigkeit zielt darauf, alle mitzunehmen, sowohl Unternehmen und Wirtschaftsverbände als auch Umweltgruppen, Mietervereine und Eine-Welt-Initiativen.

So ist die bis heute dominante Umsetzung kommunaler Nachhaltigkeit ambivalent zu beurteilen: Einerseits hat diese Herangehensweise einen Konsens darüber bewirkt, dass Indikatoren wie Flächenverbrauch und CO2-Aussstoß, aber auch Biodiversität und faire Beschaffung als relevant für die Stadtentwicklung insgesamt anerkannt wurden. Andererseits verschwanden die ökologischen Indikatoren aber auch in einer Ansammlung von Bäumen, die den Blick auf den Wald verstellten.

Parallel haben sich in Kommunen – teilweise denselben, die Nachhaltigkeit als Stadtentwicklungsplanung einsetzen – besonders nach dem vierten Bericht des Weltklimarates von 2007 Strategien durchgesetzt, die Klimaschutz und den Ausbau regenerativer Energien in den Vordergrund stellen. Diese Strategien haben sich vielerorts als erfolgreich erwiesen – untern anderem, weil Klimaschutzstrategien klare, operationalisierbare Ziele formulieren und weil der Umbau in Richtung 100-prozentige Energieversorgung durch Erneuerbare machbar ist und mobilisierend wirkt.

Die ökologische Dimension kommt zuerst

Daran schließt mein Vorschlag an, kommunale Nachhaltigkeit mit der Leitidee der sogenannten regenerativen Stadt weiterzuentwickeln. Die regenerative Stadt betont die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, weil sich Naturgüter als zentrale Knappheiten der Zukunft entpuppen werden, auch für die Kommunalentwicklung. Eine ökologisch nicht nachhaltige Entwicklung ¬ das wird sich in Zukunft verschärft zeigen ¬ kann auch nicht sozial und auf Dauer auch nicht ökonomisch erfolgreich sein.

Die regenerative Stadt ist eine Idee, die der Stadtökologe Herbert Girardet für den World Future Council entwickelt hat [2]. Sie setzt an der Tatsache an, dass Städte weltweit 80 Prozent der Treibhausgase ausstoßen und 75 Prozent der Ressourcen verbrauchen, und versucht den ökologischen Fußabdruck der Städte wieder stärker mit ihrer tatsächlichen räumlichen Ausdehnung in Übereinstimmung zu bringen. Sie ist das Leitbild eines Gemeinwesens, das neu in die es umgebenden Ökosysteme eingebettet ist und sie nicht zerstört. Das bezieht sich nicht nur auf die Energiegewinnung, sondern auch auf die Regeneration von Rohstoffen, Abfallvermeidung, Wasserrückgewinnung, die Versorgung mit Lebensmitteln und auch auf die Herstellung und Bewahrung von CO2-Senken.

Die regenerative Stadt ist außer im australischen Adelaide bisher fast nirgendwo operationalisiert und auch nicht auf den deutschen Diskurs kommunaler Nachhaltigkeit bezogen worden. Aber sie ist ein Begriff mit Potenzial. Im Stromsektor kann man an den 100-Prozent-Regionen sehen, welche Energien die Marschrichtung "regenerativ" freisetzt. Regenerieren im Sinne von Wiederverwerten, aber auch von Sich-wieder-erholen-lassen hat in vielen Bereichen Relevanz: in Bezug auf ausgelaugte Böden, gestresste Ökosysteme, aber auch gestresste Menschen mit aus dem Gleichgewicht geratener Work-Life-Balance. Fragen, die eine nachhaltige Stadtentwicklung in naher Zukunft wird beantworten müssen, sind unter anderem: Wie lassen sich in einer urbanen Kreislaufwirtschaft Rohstoffe recyclen bzw. von vornherein so nutzen, dass sie nicht zu Müll werden? Wie sieht ein optimales Wassermanagement aus? Wie kann man Lebensmittel ressourcenschonend in der Region produzieren? Wie lässt sich die Biodiversität in Kommunen schützen? Wie sieht eine grüne Wirtschaft aus, die in die Stadt passt, und was produziert sie? Wie entwickeln sich Städte flächensparend? Wie gestaltet man regenerative Stadtentwicklung partizipativ?

Städte sind in Sachen Nachhaltigkeit Vorreiter, und so werden sie es hoffentlich auch bei der Regeneration sein. Und da Städte immer mehr zu globalen Akteuren werden, bereitet das - zumindest ein wenig - Zuversicht.

 

 

 

[1] Ich beziehe mich auf die Stadt Münster, weil sie sich sehr gut zur Illustration von Entwicklungen eignet, die ähnlich in anderen deutschen Kommunen stattgefunden haben, in Münster jedoch fast idealtypisch.

[2] Girardet, Herbert (2011): Neues Modell der modernen Stadt: Von der Petropolis zur Ökopolis. In: politische ökologie Band 124: Post-Oil City. Die Stadt von morgen. München, S. 84 - 90.

 

 

(Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Politische Ökologie, Band 129, S. 128.)

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Sabine Drewes ist Referentin für Kommunalpolitik und Stadtentwicklung in der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Dossier

20 Jahre nach dem ersten Erdgipfel wird sich die Weltgemeinschaft vom 4. bis 6. Juni 2012 erneut in Rio de Janeiro treffen. Für die Stiftung ist Rio 2012 Anlass und Gebot, sich aktiv in die politischen Debatten und die Suche nach Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Zeit einzumischen.