Neues EU-Handelsabkommen: Recht auf Nahrung in Indien bedroht

5. Dezember 2011


    Die Europäische Union und die indische Regierung handeln derzeit ein bilaterales Freihandelsabkommen (FTA) aus, dessen Ziel eine umfangreiche und gegenseitige Deregulierung "annähernd des gesamten Handels" zwischen beiden Handelsblöcken ist. Über den Güterhandel hinaus wird das Abkommen Kapitel zu Dienstleistungen, Investitionen, öffentlichem Beschaffungswesen, geistigen Eigentumsrechten und anderen Bereichen enthalten. In all diesen Bereichen werden die Vereinbarungen wahrscheinlich sehr viel weiter gehen als gegenwärtige Übereinkünfte innerhalb der WTO. Offiziell streben die EU und die indische Regierung den Abschluss des Abkommens im Februar 2012 an. In den Verhandlungen besteht die Europäische Kommission auf dem Prinzip der "Gegenseitigkeit" und will "Asymmetrien" in den Verpflichtungen beider Seiten vermeiden.

    Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit ist von zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) aufgrund des großen Ungleichgewichts zwischen der EU und Indien in Bezug auf ihre wirtschaftliche Entwicklung, Wohlstand, Armut und Hunger kritisiert worden.

    Analyse vorgelegt

    MISEREOR und die Heinrich-Böll-Stiftung haben eine Analyse der möglichen Auswirkungen des Handelsabkommens auf das Menschenrecht auf Nahrung vorgelegt, die gemeinsam mit Wissenschaftler/innen und indischen Partnerorganisationen erstellt wurde. "Sollten die indischen Schutzzölle für Milchpulver und Geflügelfleisch abgeschafft werden, wären die kleinbäuerlichen Familien den billigen Importen aus der EU schutzlos ausgeliefert", warnt Christine Chemnitz, Handelsexpertin der Heinrich-Böll-Stiftung. Rund 90 Millionen Menschen leben in Indien von der Milchwirtschaft und 3,5 Millionen von der Geflügelhaltung. "Der Milch- und Geflügelsektor sind von hoher sozialer Bedeutung, gerade für die besonders verletzlichen Gruppen wie Kleinbäuerinnen und Landlose tragen sie wesentlich zum Einkommen bei." Bisherige Handelsdaten zeigen, dass Zollsenkungen im Milchsektor in der Vergangenheit immer zu erheblichen Importsteigerungen aus der EU geführt haben. "Es ist unverantwortlich, dass die Bundesregierung auf eine Marktöffnung gerade für diese Produkte drängt", so Chemnitz.

    Millionen Arbeitsplätze von Kleinhändlern in Gefahr

    Mit 37 Millionen Beschäftigten ist der Einzelhandel der zweitwichtigste Wirtschaftszweig in Indien. Im Zuge der Verhandlungen mit der EU hat Indien inzwischen in Aussicht gestellt, dass europäische Einzelhändler wie die deutsche Metro-Gruppe künftig in Indien Supermärkte eröffnen dürfen. "Wenn die Supermärkte in den nächsten fünf Jahren so stark expandieren, wie der französische Konzern Carrefour voraussagt, wird das nach unseren Berechnungen über eine Million Arbeitsplätze zerstören", erklärt Armin Paasch, Handelsexperte bei MISEREOR. "Betroffen wären insbesondere Straßenhändler/innen, die ohnehin häufig in Armut leben und kaum eine Chance auf alternative Einkommensquellen haben." Millionen Kleinhändler in allen großen indischen Städten protestierten am vergangenen Donnerstag gegen die geplante Öffnung für Supermärkte.

    Zivilgesellschaft ausgeschlossen

    Die indische Zivilgesellschaft kritisiert unter anderem, dass sie von den Verhandlungen für das Abkommen ausgeschlossen wurde: "Sowohl in Indien als auch in der EU haben die Verhandlungen komplett hinter verschlossenen Türen stattgefunden", erklärt Ranja Sengupta, indische Handelsexpertin des Third World Network (TWN). "Während die Interessen einiger Großunternehmen berücksichtigt wurden, fanden Kleinproduzenten und Arbeitnehmer kein Gehör." Auch offizielle Verhandlungstexte seien zivilgesellschaftlichen Gruppen systematisch vorenthalten worden. Auf ihrem Gipfeltreffen im Februar 2012 in Delhi wollen die EU und Indien das Abkommen nun unterzeichnen. "Wir fordern die Regierungen auf, eine umfassende Folgeanalyse für soziale Menschenrechte durchzuführen, alle sensiblen Bereiche auszuklammern und alle betroffenen sozialen Gruppen nennenswert in die Verhandlungen einzubeziehen", so Ranja Sengupta.


    Empfehlungen für das Freihandelsabkommen (FTA) zwischen Indien und der EU:

    • Vor jeglicher Unterzeichnung eines FTA müssen sowohl die EU als auch Indien eine umfangreiche Menschenrechtliche Folgenabschätzung, entsprechend den Prinzipien des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, vornehmen.
    • Vor jeglichem Abschluss einer Vereinbarung müssen ernsthafte Konsultationen mit allen Beteiligten, insbesondere den am meisten gefährdeten Gruppen, durchgeführt werden. Alle Entwürfe der Abkommen und Verhandlungsdokumente müssen transparent und offen für eine öffentliche Debatte sein.
    • Alle Zollsätze für Geflügel- und Milchprodukte müssen von Zollsenkungsverpflichtungen ausgenommen werden. Auch darf keine Stillstandsklausel sie auf dem derzeitigen Stand des Zollsatzes deckeln. Der Spielraum für politische Reaktionen auf Entwicklungen von Angebot und Nachfrage sowie auf nationale wie internationale Preisschwankungen muss gewahrt bleiben.
    • Das Handelsabkommen muss eine asymmetrische Behandlung der Partner gestatten. Eine umfassende Menschenrechtliche Folgenabschätzung muss alle Produkte identifizieren, die das Recht auf Nahrung oder andere Menschenrechte beeinträchtigen können und in diesen Fällen weitergehenden Schutz ermöglichen. Der Geltungsbereich des Handelsabkommens muss genug Raum für all diese Produkte lassen, seien es landwirtschaftliche oder nicht-landwirtschaftliche Produkte.
    • Ein wirkungsvoller und einfach anwendbarer Spezieller Schutzmechanismus (SSM) muss eingerichtet werden, der es Indien ermöglicht, auf plötzliche Importschübe zu reagieren. Dieser SSM muss einen Mengen- und einen Preisschwellenwert enthalten.
    • Das Freihandelsabkommen darf keine Regelungen enthalten, die es Indien erschweren würden, das bestehende Verbot europäischer Direktinvestitionen im Multi-Marken-Einzelhandel aufrecht zu erhalten. Indiens politischer Spielraum zum Unterbinden solcher ausländischen Direktinvestitionen (FDI) muss gewahrt bleiben, wann immer das Recht auf Nahrung als verletzt oder bedroht erkannt wird. Jegliche mögliche Öffnung der Branche muss im Fall von Bedrohungen des Rechts auf Nahrung umkehrbar sein.
    • Jede Bestimmung, die Indiens politischen Spielraum für Bodenreformen im öffentlichen Interesse zur Sicherung des Zugangs zu Land und zur Verteilung von Land an landlose Menschen einschränkt, muss im Handelsabkommen vermieden werden. Dies würde zum Beispiel die Entfernung von Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren und der Regenschirm-Klausel erfordern, sowie die Einführung von Ausnahmeklauseln in den Schutzregelungen vor direkter und indirekter Enteignung bei öffentlichem und menschenrechtlichem Interesse. Weiterhin würde es die Einbeziehung von Mechanismen und Prinzipien zur Wahrung der Menschenrechte beinhalten, wie etwa des Prinzips der vorab erfolgenden, freiwilligen Zustimmung auf Grundlage umfangreicher Informationen (FPIC).
    • Eine Menschenrechtsklausel im Abkommen muss die Überarbeitung jeder Bestimmung erlauben, von der erkannt wird, dass sie Menschenrechte verletzt oder bedroht.
    • Ein Beobachtungsverfahren muss eingerichtet werden, das eine kontinuierliche Bewertung der Auswirkungen des Freihandelsabkommens sicherstellt. Jegliche Bedrohung des Rechts auf Nahrung muss zu einer Überarbeitung der problematischen Bestimmungen der Vereinbarung führen.
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