Bürgerproteste in China 2009

Touristen am Tiananmen
Foto: © E. Richter

23. Juni 2009
Von Katrin Altmeyer
Von Katrin Altmeyer

Auch zwanzig Jahre nach dem Ende der Studentenbewegung gehen in China Menschen auf die Straße, um ihren Unmut über die unterschiedlichsten Missstände in Staat und Gesellschaft zu äußern. Im letzen Jahr sollen es laut inoffizieller Aussagen eines Regierungsmitarbeiters 150.000 soziale Unruhen gegeben haben. Die letzte offizielle Zahl wurde 2005 veröffentlicht. Damals zählte man 87.000 solcher lokaler Proteste (1)1 und so genannter „spontaner Eskalationen“.

Fast immer geht es bei diesen Protesten um lokale Konflikte. Bauern lehnen sich auf, wenn ihr Land für Investitionsprojekte requiriert wird und sie nur unzureichend entschädigt werden. Sie protestieren gegen Umwelt verschmutzende Fabriken, und sie wehren sich gegen korrupte Kader. Es geht um persönliche Interessen, nicht um eine politische Agenda und diese Proteste erregen nur selten Aufsehen über die Bezirksgrenzen hinaus.

Meistens  gehen diese Demonstrationen unblutig aus. In Konflikten mit den lokalen Behörden gelingt den Verantwortlichen meist die Deeskalation, und immer häufiger sind die Machthaber gezwungen, im Disput mit ihren Bürgern einzulenken. So konnten Demonstrationen in der Küstenstadt Xiamen in 2007 den Bau eines Chemiewerks verhindern. Die Anwohner erzwangen die vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung und der Projektstandort für das riesige Investitionsprojekt musste verlagert werden. Als in der Provinz Guangdong Wanderarbeiter, deren Fabriken im Zuge der Finanzkrise über Nacht geschlossen wurden, auf die Straße gingen, sprang die Regierung ein und zahlte ausstehende Löhne oder Abfindungen, um die Situation zu beruhigen.

Doch seit den 1990er Jahren haben die Proteste nicht nur an Anzahl zugenommen, auch ihre Qualität scheint sich zu verändern. Zunehmend bewegen lokale Vorkommnisse Menschen im ganzen Land, die selbst gar nicht betroffen sind. Vor allem die Solidarisierung mit echten oder vermeintlichen Opfern von Behördenwillkür mobilisiert immer mehr Menschen. Eine Schlüsselrolle dabei spielen seit Jahren die Medien und vor allem das Internet, das Vorkommnisse aus dem letzten Winkel Chinas der 300 Millionen starken Online-Gemeinde zur Kenntnis zu bringt, und eine Plattform für die Diskussionen darüber zur Verfügung stellt.

Yu Jianrong, Forscher der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, beobachtet, dass es bei ca. fünf Prozent aller Proteste (das sind Hunderte Vorkommnisse jeden Monat) nicht mehr um das Eintreten für persönliche Interessen geht. In den Fällen, die er untersucht hat, ist es oft nur ein winziger Funke, der den Volkszorn gänzlich Unbeteiligter entfacht und zu Aufruhr führt. Laut Prof. Yu zeigt dies die tiefe Unzufriedenheit vieler Menschen in China, die kein Vertrauen in die lokalen Machthaber besitzen und ein Ventil suchen, um ihrer Frustration über soziale Ungerechtigkeit Luft zu machen. 

Besonders bringt es die Menschen auf, wenn echte oder vermeintliche Verfehlungen von Funktionären vertuscht werden sollen oder Verantwortliche von den Behörden gedeckt werden. Dann solidarisieren sich Menschen im ganzen Land und fordern in regelrechten Bürgerkampagnen Aufklärung. Über Blogs und Diskussionsforen finden die Berichte über Skandale innerhalb Tagen ein landesweites Echo. Oft werden sie von den klassischen Medien aufgegriffen. Den Behörden gelingt es immer seltener, solche Berichte zu zensieren und zu beschränken. 

Im Mai und Juni 2009 bewegt der Fall einer jungen Serviererin in der zentralchinesischen Provinz Hubei Menschen in ganz China. Deng Yujiao war an ihrem Arbeitsplatz, einem Badehaus, von drei Kunden, Angehörigen der Lokalregierung, sexuell belästigt und womöglich vergewaltigt worden. Sie wehrte sich mit einem Obstmesser und hat dabei einen der Angreifer verletzt und einen weiteren getötet. Nachdem sie sich selbst gestellt hatte, erhoben die örtlichen Behörden Anklage wegen Mordes. Die versuchte Vergewaltigung wurde geleugnet, Beweismaterial vernichtet und die Familie Dengs unter Druck gesetzt.  Ihre aus Peking angereisten Anwälte wurden bedroht und behindert. Innerhalb weniger Tage mobilisierte der Vorfall Menschen in ganz China. Engagierte Journalisten reisten zum Ort des Geschehens. Rechtshilfegruppen, Anwälte und einzelne Bürger boten Unterstützung an. Im Internet wurde diskutiert und die vorherrschende Meinung war, dass von den lokalen Behörden weder Aufklärung noch Gerechtigkeit zu erwarten sei.

Als die lokalen Behörden alle Journalisten aus der Stadt verwiesen und Internet und Mobilempfang lahm legten, machten sich gewöhnliche Bürger auf den Weg, um anstelle der offiziellen Korrespondenten im Internet weiter über den Fall zu berichten. Sie trugen T-Shirts mit einem Aufdruck, der bekundete, dass sie den Tourismus des Ortes unterstützen.

Mit der Verbreitung des Internets in China können lokale Vorkommnisse schon seit einigen Jahren nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Der Fall Deng zeigt aber auch, wie zunehmend nicht direkt Betroffene sich einmischen, und wir Bürger sogar über die Meinungsäußerung im Netz hinaus aktiv werden.(2)

Daraus wird noch immer keine breite politische Bewegung, aber die Verbitterung und Frustration von Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft wird immer deutlicher.
Deutlich ist dabei das tiefe Misstrauen gegenüber Partei und Regierung. Aus den Beiträgen im Internet sprechen häufig nur noch blanke Wut oder Zynismus.

Als im Frühjahr 2009 ein gerade erst errichtetes Gebäude im repräsentativen neuen Komplex des Staatsfernsehen abbrannte, womöglich weil hochrangige Mitarbeiter dort unerlaubt ein Feuerwerk veranstalteten, war im Internet keine Betroffenheit über den Verlust des immerhin mit Steuergeldern errichteten Prestigegebäudes zu finden. Die gesamte Internetgemeinde feierte und erging sich in Schadenfreude darüber, dass dieses Symbol für das Informationsmonopol der Partei dem Erdboden gleich gemacht worden war.

Neben der fehlenden Transparenz und Rechenschaftspflicht der Behörden ist es auch die restriktive Informationspolitik der Regierung, die gerade junge und gut ausgebildete Chinesen verärgert. Noch immer gilt eine lange Liste von Themen als „sensibel“.  Dazu gehören zum Beispiel die Ereignisse von 1989, über die bis heute in China nicht öffentlich diskutiert wird.
Aber auch konkrete Informationen darüber, wie die Führung des Landes plant und entscheidet, erhält die chinesische Öffentlichkeit bisher nur selten. Im Mai 2008 trat ein Transparenzgesetz in Kraft, das Behörden verpflichtet, den Bürgern über öffentliche Budgets und Planungen Aufschluss zu geben.

Doch die Praxis sieht fast immer anders aus. Lokale Amtsinhaber genießen in China seit Jahrhunderten Privilegien, von denen sie sich nur ungern verabschieden. Allzu oft missbrauchen sie diese Privilegien zu ihrem eigenen Vorteil. Das jetzige System begünstigt dies, weil eine unabhängige Justiz und unabhängige Medien fehlen, die diese Strukturen effektiv kontrollieren und beschränken können. Kritik und Dissens werden eher unterdrückt als dass man in öffentlichen Debatten nach Lösungen sucht.

Gerade politisch interessierte und gut ausgebildete Chinesen, die für die Umgestaltung und Entwicklung der Gesellschaft dringend gebraucht werden, fühlen sich gegenüber mangelnder Information und politischer Einbindung machtlos und nicht ernst genommen.

Diese Entwicklung ist Besorgnis erregend, denn die Regierung braucht zur Umsetzung ihres Reformkurses eine breite gesellschaftliche Unterstützung, vor allem aber die Unterstützung fortschriftlicher Kräfte. Die aber droht sie gerade zu verlieren. Angesichts der nicht vorhandenen Kanäle zur politischen Mitgestaltung fühlt sich gerade eine junge Elite nicht zuständig für die Entwicklung ihres Landes. In den Blogs und Diskussionsforen im Internet finden sich kaum konstruktive Vorschläge, wie den gesellschaftlichen Problemen zu begegnen sei.

Eine ernsthafte Diskussion um demokratische Reformen wird innerhalb der Kommunistischen Partei und in akademischen Zirkeln geführt. Es ist eine durchaus kontroverse und intensive Diskussion, aber sie ist von Zurückhaltung geprägt, und sie wirkt kaum in die chinesische Gesellschaft. Als Ende 2008 dreihundert führende Intellektuelle Reformen teils nach westlichem Vorbild forderten, wurden sie mundtot gemacht. Die Medien durften über die so genannten Charta 08 nicht berichten, das Internet wurde zensiert und die Unterzeichner eingeschüchtert. Einer von ihnen ist bis heute in Haft. Das Tabu, das sie gebrochen hatten, war es, das Machtmonopol der Kommunistischen Partei in Frage zu stellen, und vor allem dies öffentlich  und wohl organisiert zu tun. (3)

Die Autorität der Kommunistischen Partei Chinas anzufechten, das  haben allerdings die wenigsten im Sinn, die heute auf die Straße gehen, um ihrem Unmut über die Zustände im Land Luft zu machen. Sie fordern lediglich Rechenschaftspflicht von Partei- und Regierungsvertretern und Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten.

Auch die politischen Aktivisten setzen auf schrittweise Reformen, die zunächst im Rahmen des Einparteienstaats greifen müssen. Sie wissen dass ein Zusammenbruch der KP und ihrer durchaus funktionierenden Administration eine Katastrophe wäre. Sie würde ein Machtvakuum hinterlassen und zum Chaos führen, statt zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Die KP China hat sich zu demokratischen und rechtsstaatlichen Reformen bekannt. Im Menschenrechtsaktionsplan vom Frühjahr 2009 betont die Führung dies erneut. Aber keine noch so starke Führung kann Reformen von oben verordnen, wenn sie sich nicht auf eine breite gesellschaftliche Basis stützen kann. Medien, Anwälte und NGOs nehmen bereits eine Funktion als gesellschaftliches Kontrollorgan wahr. Sie müssen das ohne Repressalien tun können.

Vor allem braucht die chinesische Gesellschaft mehr Transparenz und eine angstfreie öffentliche Debatte über die Herausforderungen vor der die Kommunistische Partei und die chinesischen Gesellschaft stehen. Mehr Transparenz und Offenheit wird das Vertrauen der Bürger in Partei und Regierung stärken. Dazu muss die Führung jetzt ihren Bürgern das Vertrauen aussprechen, die Wahrheit zu verkraften. Nur so kann sie gesellschaftliche Kräfte mobilisieren, sich an der Lösung der drängenden Probleme zu beteiligen.

Katrin Altmeyer ist Büroleiterin des Büro Peking der Heinrich-Böll-Stiftung.

Bemerkungen:

1. 1993 wurden 8709 Fälle gemeldet. Seitdem ist die Anzahl ständig gestiegen. Eine klare Definition gibt es nicht. Einzelne Provinzen definieren jeweils unterschiedlich. Siehe dazu auch den englischsprachigen Blog East South West North.

2. Inzwischen halten die Behörden die Mordanklage gegen Deng Yujiao nicht mehr aufrecht. Sie wird nun wegen exzessiver Notwehr vor Gericht gestellt. Die Aktivisten werten dies als Erfolg ihrer Kampagne.

3. Die Charta 08 wurde trotz Zensur bis heute von mehr als 7000 Menschen in China unterzeichnet.

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