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Eshkol Nevo: Alltag schleicht sich in die Literatur

Lesedauer: 7 Minuten

Politik: das ist das Leben selbst! Äußere, politische Ereignisse dringen langsam, ganz langsam in den Alltag ein.

15. April 2008


Janna Pinsker:
Eshkol Nevo, Sie sind in Israel etliche Male umgezogen, waren dann in den USA und jetzt wohnen Sie in Jerusalem. Warum wieder Israel?

Eshkol Nevo: Israel ist mein Heimatland. Hier fühle ich mich zu Hause. Für mich als Schriftsteller ist es das einzige Land der Welt, in dem ich in meiner Muttersprache schreiben kann und verstanden werde, sprechen kann und verstanden werde und in dem ich wirkliche Witze machen kann. Auf Englisch, da dauert es immer eine Weile, bis ich humoristisch sein kann. Außerdem sind meine Freunde hier und meine Familie. Andererseits ist Israel ein verrückter Ort, ein schwieriger Ort und ich kritisiere vieles, was in meinem Land geschieht, dennoch habe ich eine sehr starke Verbindung zu Israel. Es ist eine physische Verbindung, nicht so sehr intellektuell, eher zum Land selbst. Ich ziehe durch das Land, stelle mein Buch vor und habe dadurch das Land wirklich kennengelernt.

Janna Pinsker: Die Sehnsucht nach Heimat spielt eine wichtige Rolle in Ihrem Buch. Kam das Thema erst durch Ihre eigenen Erfahrungen auf?

Eshkol Nevo: Ja, definitiv. Ich hatte vor, einen Artikel für eine Zeitung zu schreiben. Es sollte um die Suche nach Heimat gehen, um jemanden, der oftmals umgezogen ist und nun alle Orte besucht, an denen er je gelebt hat und herausfinden möchte: Wo fühle ich mich wirklich zu Hause? Ich selbst wollte diese Reise machen und beschreiben. Die Idee für den Artikel wurde allerdings abgelehnt. Das war vor zehn oder zwölf Jahren. Ich vergaß die ganze Sache. Später entwickelte ich dann das Konzept für das Buch, das genau die gleichen Fragen zu Heimat, Zuhause, Sehnsucht nach einem Zuhause aufgreift.

Janna Pinsker: Sie unterrichten „Creative Writing and Thinking“ in Jerusalem. Was beschäftigt derzeit israelische SchriftstellerInnen? Worüber schreiben sie?

Eshkol Nevo: Es ist schwer, das zu pauschalisieren. In der Vergangenheit gab es sicher Generationen, über die man sagen konnte: Ja, die schreiben darüber oder diese Generation schreibt über dieses Thema. Aber heute? Die israelische Literaturszene jedenfalls blüht auf, das steht fest. Leute kaufen Bücher und lesen Bücher. Viele junge Leute kommen zu meinen Workshops - sie wollen ausdrücken, was sie erleben. In der Szene passiert viel. Vielleicht auch gerade, weil das Leben in Israel schwierig ist, weil es so viele Spannungen gibt.

Janna Pinsker: Schleicht sich Politik in die Literatur ein?

Eshkol Nevo: In der Politik geht es ja nicht nur um Politiker; Politik, das ist das Leben selbst. Wenn irgendwo Bomben oder Raketen einschlagen, da geht es nicht nur um staatliche Politik. Es geht um mich und meine Familie. Meine Verwandten im Norden, an der Grenze zum Libanon, mussten ihr Haus verlassen. Sie riefen mich an: Können wir für eine Weile bei dir leben? Sie wollten mit ihrem Hund kommen, der wirklich gefährlich ist und ständig Leute angreift. Zu diesem Zeitpunkt hatten ich und meine Frau ein Baby im Haus, unsere Tochter. Was also sollten wir machen? Die Familie mit Hund aufnehmen und uns Gedanken um unsere Tochter machen? Oder einfach Nein sagen? Hier ging es nicht nur um Politik und die Raketen im Norden von Israel... hier ging es um unseren Alltag! Und es ist dieser Alltag, der sich in die Literatur einschleicht. In meinem Buch geht es somit auch darum, wie äußere Ereignisse, politische Ereignisse, langsam, ganz langsam in den Alltag eindringen, egal wie sehr man sich dagegen wehrt. Ich denke, Israel ist ein Land, in dem man der Realität nicht entfliehen kann.

Janna Pinsker: “Vier Häuser und eine Sehnsucht“ (Englischer Titel „Homesick“) spielt 1995, als Jitzchak Rabin erschossen wurde. Warum diese hoffnungslose Zeit?

Eshkol Nevo: Schriftsteller sind immer hinter intensiven Dingen her, hinter intensiven Beziehungen, hinter intensiven Zeiten. 1995 gab es Morde, es gab Terrorattacken, Neuwahlen standen an. Ich wollte darstellen, wie die Intensität dieser äußeren Umstände das beeinflusst, was in einzelnen Häusern, bei einzelnen Menschen vor sich geht. Im Buch geht es nämlich um vier Häuser, besser gesagt um die Menschen, die in diesen vier Häusern wohnen. Jeder Bewohner wird anders beeinflusst.

Janna Pinsker: Ganz unterschiedlich sind ja auch Ihre stilistischen Mittel. Ihr Buch enthält Dialoge, Monologe und Reime. Wollte Sie damit darstellen, wie vielfältig die politischen Ereignisse erlebt werden?

Eshkol Nevo: Ursprünglich wollte ich einen allwissenden Erzähler für meinen Roman haben. Aber dann fingen die Charaktere an, ein Eigenleben zu haben, sie rebellierten und sie wollten sprechen. Die verschieden Formen haben sich mit den Charakteren entwickelt. Es gibt nicht die eine Wahrheit und so kann ich rückblickend sagen, dass diese verschiedenen Formen die Komplexität in Israel zeigen. Wir bekommen oft nur vereinfachte Darstellungen von den Medien. Literatur hingegen kann Komplexität vermitteln.

Janna Pinsker: Ist es das, was Sie tun wollen? Komplexität vermitteln?

Eshkol Nevo: Es gibt eine Menge Dinge, die ich tun will, und dies ist eines davon. Gerade für Europa ist es wichtig zu erfahren, dass es verschiedenen Arten und Weisen gibt, wie Israel sein kann, was israelische Realität bedeutet.

Janna Pinsker: Die Beziehung Israel– Deutschland, ist das etwas, was Sie beschäftigt, worüber Sie schreiben wollen?

Eshkol Nevo: Bis jetzt nicht. Ich denke, der Holocaust ist etwas, was jeder Israeli unbewusst mit sich trägt. Kein Israeli kann sagen, dass er nicht durch diese Vergangenheit beeinflusst wurde. Und es ist die Unsicherheit der Israelis über eine ungewisse Zukunft. Nicht ausgeschlossen, dass wir noch einmal verfolgt und getötet werden, dass es Konzentrationslager gibt. Ich denke allerdings, dass dies alles im Unterbewusstsein liegt.

Janna Pinsker: Eshkol Nevo, Ihr Buch endet mit den Wünschen und Hoffnungen von Modi, einem der Charaktere in der Geschichte. Was sind Ihre eigenen Wünsche?

Eshkol Nevo: Ich hoffe, dass sich Leser in diesen Wünschen und Hoffnungen selbst entdecken. Was allerdings am allerwichtigsten ist, ist das Heimweh, die Sehnsucht nach einem Zuhause – das ist ein Thema der heutigen Zeit, nicht nur in Israel. Viele Leute, die ich in Europa auf meinen Lesungsreisen getroffen habe, haben Heimweh. Sie vermissen ihre Familie, ihren Freund/ihre Freundin, der/die in einem anderen Land lebt - alle haben Heimweh! Ich hoffe, dass Leser das in meinem Buch wieder erkennen. Natürlich ist es auch ein Buch über Israel, denn es spielt ja in Israel, aber eben auch über Heimweh und Liebe. Merkwürdigerweise hört „Vier Häuser und eine Sehnsucht“ mit Wünschen auf, mein neues Buch hingegen dreht sich nur um Wünsche. Das wusste ich damals allerdings noch nicht. Das Ende meines ersten Buches war also ein wenig wie eine Prophezeiung, ich merkte, wohin ich mich bewege.

Eshkol Nevo - Autor

Eshkol Nevo, 1971 in Jerusalem geboren, aufgewachsen in Detroit und Israel, arbeitete zunächst als Werbetexter und unterrichtet heute Kreatives Schreiben an den Universitäten in Tel Aviv und Jerusalem. „Vier Häuser und eine Sehnsucht“, Nevos erster Roman, stand monatelang auf der Bestsellerliste in Israel und wurde 2005 mit dem Golden Book Prize ausgezeichnet. Das Buch wird gerade europaweit übersetzt. Es erschien im Februar 2007 bei dtv in einer Übersetzung von Anne Birkenhauer. Eshkol Nevo erzählt darin von den vielfältigen Perspektiven und Seelenlagen der Bewohner eines Jerusalemer Vorortes. Das Buch spielt in der Zeit nach der Ermordung Jizchak Rabins, als Terroranschläge das Land erschüttern, die Hoffnung auf Frieden zunichte gemacht und der Friedensprozess eingefroren wird.



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