Thesen für das Werkstatt-Gespräch „Aufstieg durch Bildung“ - wie viel Mythos, welche politischen Optionen? am 12. September 2008. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Bildung und Wissenschaft.
In allen Ländern gibt es einen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg, allerdings ist er unterschiedlich stark ausgeprägt und in Deutschland besonders hoch. In manchen Ländern gelingt es besser als in anderen, die unterschiedlichen Chancen auszugleichen. Das hängt zum einen sicher von der unterschiedlichen Förderfähigkeit der Schulen und des Bildungssystems ab, aber auch von außerschulische Kontextbedingungen, die auf die Schule (und das Bildungssystem) einwirken.
Die Annahme hier ist, dass der gesellschaftliche Stellenwert von Bildung, ihre Wertschätzung von seiner faktischen gesellschaftlichen Funktion abhängen. Je mehr durch Bildung soziale Aufstiege möglich werden, desto mehr werden die Institutionen als bedeutsam angesehen. Zudem hängt die Bedeutung, die einer guten Bildung individuell zugemessen wird, ebenso von der realen Funktion des Bildungssystems ab. Fatalerweise gilt diese These auch im Umkehrschluss, je weniger das Bildungssystem zur Entkoppelung von sozialer Herkunft und erreichbarem sozialen Status beiträgt, desto weniger wird es als individuelles Aufstiegsvehikel wert geschätzt.
Es gibt eine fatale Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Mobilität und der sozialen Selektivität des Bildungssystems. Das Bildungssystem trägt durch soziale Selektion noch zur mobilen Trägheit bei und fördert oder bremst damit auch die individuelle Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft.
Offene Gesellschaftsstrukturen, die vertikale soziale Mobilität durch Bildung zulassen, liefern größere Anreize, sich auch anzustrengen als geschlossene Systeme. Es gibt offensichtlich wenig international vergleichende Forschung zur Mobilität, aber einige plausible Hinweise.
In Deutschland scheint es wenig Anreize zu geben, durch individuelle Anstrengung gesellschaftlich aufsteigen zu können. Die größeren Aufstiege waren kollektive Fahrstuhleffekte, die in den 60er Jahren ganze Berufsgruppen nach oben beförderten und ungelernte Tätigkeiten mit ausländischen Gastarbeitern besetzten. An diesem System scheint sich bis heute wenig grundsätzlich geändert zu haben.
Diese These bestätigt Martin Groß in seiner Dissertation von 1998, der der Bundesrepublik bescheinigt, mit einem ausgewiesen engen Berechtigungssystem individuelle Mobilität zu behindern. „Bildungssysteme haben einen entscheidenden Einfluß auf die Funktionsweise von Bildungstiteln. In Gesellschaften mit standardisierten, stratifizierten, vertikal und horizontal differenzierten Bildungssystemen können Bildungstitel in hervorragender Weise sowohl als Qualifikationssignale als auch als Schließungsmittel dienen. Arbeitsmärkte passen sich diesem Sachverhalt an: Mit dem Grad der Standardisierung, Stratifizierung und Differenzierung der Bildungssysteme steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich berufsinterne statt firmeninterne Arbeitsmärkte ausbilden. Darüber hinaus werden Karriereleitern in Firmen, die in hohem Ausmaß der Ausbildung der Mitarbeiter dienen, eher flach. Das Ausmaß intragenerationaler Mobilität sinkt, Bildungstitel werden verstärkt als "Screening"-Merkmale für Besetzung von "entry-ports" wie für Beförderungsentscheidungen herangezogen. Mithin fungieren Bildungstitel als Credentials, die den Mobilitätsprozeß entscheidend prägen. Entlohnungen werden zunehmend an Positionen, und nicht unmittelbar an die Performanzen der Individuen in diesen Positionen gebunden. Anders ausgedrückt: Arbeitsmärkte gestalten sich zunehmend als Systeme geschlossener Positionen, und Bildungstitel sind die "Eintrittstickets" zu diesen Positionen.“1 Im Übrigen basiert das gesamte Tarifsystem auf diesem Grundsatz und ist auch ein Hindernis für die Modernisierung der beruflichen Bildung.
Auch Michael Vester weist auf die nach wie vor kollektiven Zuschreibungen durch das deutsche Bildungssystem hin: „Die Bildungsdynamik ist sehr hoch, aber sie wird in das Prokrustesbett einer – im Sinne Webers – dreistufigen Ordnung zwischen positiv Privilegierten, nicht Privilegierten und negativ Privilegierten gezwängt.
Offensichtlich ist die positive Privilegierung der oberen bürgerlichen Milieus. Das alte Bildungsbürgertum, mit der besten Mitgift an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, das vorangehende Generationen schon angesammelt hatten, konnte seinen Vorsprung im Gymnasialbesuch von 38 auf 65 Prozent ausbauen. Neben es ist, als eigentlicher Gewinner der Bildungsexpansion, ein neues Bildungsbürgertum aus Kindern von Unternehmern und qualifizierten Angestellten und Beamten getreten, die aufgrund erhöhter Berufsanforderungen ihren Gymnasialbesuch von etwa 13 auf 42 Prozent steigerten. Alle anderen Berufsmilieus sind stark abgeschlagen.“2
Zudem wird „... die soziale Hierarchie nicht allein durch Leistungskonkurrenz, sondern als ständische Rangordnung reproduziert. ..... dass es nicht um ein Rüttelsieb für individuelle Talente, sondern um die Segregation nach schon bestehenden Gruppenidentitäten geht.“ 3 Durch ein ausgewiesenes, stark verrechtlichtes Berechtigungssystem, sind die Zugänge zu höheren Positionen stark reguliert und damit auch kanalisiert.
Für die These der Wechselwirkung könnten Erkenntnisse aus dem niederländischen Schulsystem stammen. Hier scheint es in den letzten Jahren Veränderungen gegeben zu haben. „Die Erwartung, die ökonomische Dimension des familiären Hintergrunds (Beruf des Vaters) werde zugunsten der kulturellen Dimension an Boden verlieren (Bildungsstand der Eltern) wird empirisch nicht gestützt. Beide Dimensionen des familiären Hintergrundes haben in beachtlichem Maß an Einfluss auf den Schulabschluss der Kinder verloren, wenngleich die Abnahme für die ökonomische Dimension tatsächlich stärker ist.“ 4 Die Niederlande haben sowohl bei TIMMS und bei PISA (sofern die Stichprobe reichte) relativ gut abgeschnitten und zeigen einen viel geringeren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg.
In Deutschland scheint ein bisher unterbelichteter Mechanismen, der zur Stabilisierung dieser Kanalisation beiträgt, der vorherrschende Bildungskanon zu sein. Kultur und Bildung in Deutschland – vor allem auch die Vorstellung von Allgemeinbildung - sind in ihren Definitionen emphatisch aufgeladen und eher auf Abgrenzung gegenüber Nichtgebildeten bedacht, denn auf Inklusion. Sie deuten auf ein starkes Abgrenzungsbedürfnis des „Bildungsbürgertums“ hin. Gegenüber solchen Haltungen und Einstellungen hat es eine Kategorie „Leistung“ schwer, die eher aus dem ökonomischen Sektor kommt. Die angelsächsischen, niederländischen und skandinavischen Curricula sind eher kompetenzorientiert.
Die Tatsache, dass Mädchen und junge Frauen von der Bildungsexpansion in Deutschland mehr profitiert haben als Jungen, kann damit zusammenhängen, dass die traditionell zugeschriebene weibliche Kompetenzen eher mit diesen Vorstellungen des Bildungskanons kompatibel sind als männliche.
Auch wenn die jüngeren Schulleistungsstudien eine zunehmende Entkoppelung von Schulformen und Berechtigungsvergabe konstatieren, scheint hier ein wichtiges bildungspolitisches Betätigungsfeld zu liegen.
Ebenso sollte als Schlussfolgerung aus den Thesen auch versucht werden, Strategien zu entwickeln, die auf die außerschulischen Kontextbedingungen einwirken. Das wird u.a. auch die Schulkommission der Heinrich-Böll-Stiftung tun.
Literatur:
1. Bildungssysteme und soziale Ungleichheit, Die Strukturierung sozialen Handelns im internationalen Vergleich, Dissertation eingereicht an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin, von Martin Groß, M.A., 1. Juli 1998.
2. Michael Vester, Die ständische Kanalisierung der Bildungschancen, in: Werner Georg (Hg), Soziale Ungleichheit im Bildungssystem, Konstanz 2006, S.37.
3. ebda, S. 48f.
4. Paul M. de Graaf und Nan Dirk de Graaf, Hoch- und populärkulturelle Dimensionen kulturellen Kapitals: Auswirkungen auf den Bildungsstand der Kinder, S.163, in Werner Georg.