Erinnerungen an den Stalinismus

Vortrag auf einer Konferenz "Geschichte des Stalinismus" über verschiedene Einflüsse auf die Geschichtspolitik der vergangenen Jahre und die Besonderheiten des historischen Umgangs mit dem Stalinismus. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Zeitgeschichte.

Vortrag von Arsenij Roginskij auf der Konferenz "Geschichte des Stalinismus"

Moskau, den 5. Dezember 2008

Die Probleme der Erinnerung an den Stalinismus im heutigen Russland sind scharf und schmerzhaft. In den Auslagen der Buchläden liegt jede Menge Literatur, die sich positiv auf Stalin bezieht, sei es nun belletristische, publizistische oder quasigeschichtswissenschaftliche. Meinungsumfragen zeigen Stalin unverändert unter den ersten drei der „herausragendsten Persönlichkeiten aller Zeiten“. In neueren Schulbüchern für den Geschichtsunterricht wird die stalinistische Politik rechtfertigend interpretiert.

Doch direkt daneben gibt es fraglos Erfolge von Historikern und Archivaren, hunderte dem Stalinismus gewidmete Bände mit veröffentlichten Dokumenten, wissenschaftliche Aufsätze und Monographien. Aber wenn alle diese Arbeiten das Massenbewusstsein überhaupt beeinflussen, dann viel zu schwach.

Dafür gibt es erst einmal zwei Gründe. Zum einen gibt es nicht genügend praktische Mechanismen, diesen Einfluss auszuüben. Zum anderen die Geschichtspolitik der vergangenen Jahre. Vor allem aber liegt es an den Besonderheiten des gegenwärtigen Zustands unseres nationalen historischen Gedächtnisses an den Stalinismus.

Was verstehe ich hier unter historischem Gedächtnis und was verstehe ich unter Stalinismus? Das sind durchaus allgemein gebräuchliche Dinge.

Begriffsklärung Historisches Gedächtnis

Historisches Gedächtnis ist eine retrospektive Form kollektiven Bewusstseins, das eine kollektive Identität in ihrer Beziehung zu für diese Identität Wichtiges in der Vergangenheit bildet. Es arbeitet mit der Vergangenheit, der wirklichen oder eingebildeten, wie mit Baumaterial: Es wählt Fakten aus und systematisiert sie entsprechend, baut aus ihnen das, was es als Genealogie dieser Identität vorzustellen bereit ist.

Begriffsklärung Stalinismus

Der Stalinismus wiederum ist ein System staatlicher Lenkung, die Gesamtheit spezifischer politischer Praxis der stalinistischen Staatsführung. Während seiner gesamten Existenz hat dieses System, während es in vielen Dingen evolutionierte, eine Reihe charakteristischer Eigenschaften behalten. Die ihn wohl am genauesten charakterisierende Eigenschaft des Stalinismus, seine angeborene Eigenschaft (die bereits ganz am Anfang der bolschewistischen Staatsführung entstand und mit dem Tod Stalins nicht verschwand) ist Terror als universales Instrument zur Lösung jeder beliebigen politischen und sozialen Aufgabe. Es war die staatliche Gewalt, der Terror, der es ermöglichte, den Staat zu zentralisieren. Mit ihrer Hilfe wurden die horizontalen Verbindungen zerrissen, eine hohe vertikale Mobilität erzeugt. Sie wurde genutzt, grausam erst eine Ideologie durchzusetzen, um sie aber fast gleichzeitig leicht wieder ändern zu können. Mit ihr ließ sich die riesige Armee von Arbeitssklaven aufbauen und vieles andere.

Hierher rührt das historische Gedächtnis an den Stalinismus. Es ist in erster Linie ein Gedächtnis an den staatlichen Terror als System bestimmendes Element der Epoche und an seine Verbindungen mit unterschiedlichen Prozessen und Ereignissen dieser Zeit.

Aber entspricht das auch dem historischen Gedächtnis im heutigen Russland?

Historisches Gedächtnis im heutigen Russland

Ich sage einige Worte über Schlüsseleigenschaften dieses heutigen Gedächtnisses.

Erste Schlüsseleigenschaft

Erstens: Das historische Gedächtnis über den Stalinismus ist in Russland fast immer eine Erinnerung an die Opfer. An die Opfer, nicht an die Verbrechen. Zur Rolle als Erinnerung an die Verbrechen gibt es in Bezug auf das historische Gedächtnis noch keine Reflexion im Land. Dazu gibt es keinen Konsens in der Gesellschaft.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Massenbewusstsein im Recht keine Grundlage findet, auf die es sich stützen könnte. Es gibt keinen staatlichen Rechtsakt, in dem der staatliche Terror ein Verbrechen genannt würde. Die zwei Zeilen in der Präambel zum Gesetz über die Rehabilitation der Opfer von 1991 reichen ganz offensichtlich nicht aus. Es gibt auch keine auch nur geringes Vertrauen erzeugende Gerichtsentscheidungen. Es gab im neuen Russland keinen Prozess gegen Beteiligte am stalinistischen Terror, nicht einen einzigen.

Aber die Gründe liegen nicht nur darin.

Jede Aneignung historischer Tragödien durch das Massenbewusstsein fußt auf der Verteilung der Rollen von Gut und Böse und der Beziehung des Selbst zu einer dieser beiden Rollen. Am einfachsten ist es, sich mit dem Guten zu identifizieren, das heißt mit dem unschuldigen Opfer oder, noch besser, mit dem heldenhaften Kampf gegen das Böse. (Übrigens haben genau deshalb unsere osteuropäischen Nachbarn von der Ukraine über Polen bis zu den baltischen Ländern keine so großen Probleme mit der Aneignung der sowjetischen Periode der Geschichte wie Russland – sie identifizieren sich mit den Opfern oder den Kämpfern oder mit beiden gleichzeitig; eine andere Frage ist, ob diese Identifizierung immer mit dem historischen Wissen in Einklang zu bringen ist – aber wir reden hier nicht über Wissen, sondern über Erinnerung). Man kann sich sogar mit dem Bösen identifizieren, wie das die Deutschen getan haben (nicht ohne äußere Hilfe), um sich dann von diesem Bösen zu distanzieren: „Ja, das waren zu unserem Unglück wir, aber nun sind wir nicht mehr so und werden auch zukünftig nicht mehr so sein“.

Doch was sollen wir in Russland Lebende tun?

Im sowjetischen Terror ist es äußerst schwierig, die Henker von den Opfern zu trennen. Nehmen wir zum Beispiel die Sekretäre der Parteigebietskomitees. Im August 1937 sind sie alle, ohne Ausnahme, Mitglieder der „Trojkas“ und unterschreiben Todesurteile in großen Packen. Aber im November 1938 ist die Hälfte von ihnen schon selbst erschossen.

Im nationalen und, in besonderem Maße, im regionalen historischen Gedächtnis gelten die bedingten „Henker“ – wie zum Beispiel die Gebietssekretäre 1937 – keinesfalls eindimensional als Bösewichter. Ja, er hat Todesurteile unterschrieben. Aber er hat auch den Bau von Kindergärten und Krankenhäusern organisiert. Er ist persönlich in die Arbeiterkantinen gegangen und hat das Essen gekostet und sein weiteres Schicksal ruft erst recht Mitleid hervor.
 
Und noch etwas: Im Unterscheid zu den Nazis, die vor allem „Fremde“ ermordeten, Polen, Russen und letztlich auch deutsche Juden (die ja auch nicht als „Deutsche“ wahrgenommen wurden), haben wir vor allem unsere eigenen Leute umgebracht, und das Bewusstsein weigert sich diese Tatsache anzuerkennen.
Beim historischen Gedächtnis vom Terror sind wir nicht in der Lage die Hauptrollen zu verteilen, wir können für die Personalpronomen „wir“ und „sie“ nicht den richtigen Platz finden. Diese Unmöglichkeit, sich vom Bösen zu entfremden ist die wichtigste Hürde bei der Bildung eines vollwertigen historischen Gedächtnisses vom Terror. Sie vertieft seinen traumatischen Charakter und wird so zu einem der Hauptgründe, weshalb es an den Rand gedrängt wird.

Zweite Eigenschaft

Zweitens: Auf einer bestimmten Ebene, der Ebene persönlicher Erinnerungen ist das historische Gedächtnis ein verschwindendes Gedächtnis. Es gibt noch Zeugen, aber das sind die letzten. Sie gehen, und mit ihnen geht das Gedächtnis als persönliche Erinnerung und als persönliches Durchleben.

Dritte Eigenschaft

Damit hängt auch das Dritte zusammen:

Das Erinnerungs-Gedächtnis wird von einem Gedächtnis abgelöst, das eine Sammlung kollektiver Vorstellungen der Vergangenheit ist, die schon nicht mehr von persönlichen oder familiären Erinnerungen geprägt sind, sondern durch unterschiedliche soziokulturelle Mechanismen. Einer der wichtigsten dieser Mechanismen ist die Geschichtspolitik, das heißt zielgerichtete Anstrengungen der politischen Eliten zur Schaffung einer ihnen genehmen Vorstellung von der Vergangenheit. Derartige Anstrengungen beobachten wir schon seit den 1990er Jahren, als die politische Macht sich anschickte, für die eigene Legitimität eine Grundlage in der Vergangenheit zu suchen. Während aber die Staatsmacht ein Legitimitätsdefizit spürte, so fühlte die Bevölkerung nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Identitätsdefizit. Beide, sowohl die Staatsmacht als auch die Bevölkerung versuchten die als Defizit empfundenen Leerräume mit der Vorstellung eine Großen Russland zu füllen, dessen Nachfolger das heutige Russland sein soll. Die Vorstellungen einer „hellen Vergangenheit“, die von Seiten des Staates vorgeschlagen wurden – Stolypin, Peter der Große usw. – wurden von der Bevölkerung nicht angenommen: Sie waren vom heutigen Russland zu weit entfernt und mit ihm zu wenig verbunden. Schrittweise und fast unbemerkt wuchs die Konzeption des Großen Russland mit der sowjetischen Periode zusammen, darunter auch die Stalinistische Epoche.

Die Nach-Jelzin-Führung des Landes erspürte diese Bereitschaft zur neuerlichen Rekonstruktion der Vergangenheit und nutzte sie in vollem Umfang aus. Ich will damit nicht sagen, dass die Staatsmacht in den 2000er Jahren vor hatte, Stalin zu rehabilitieren. Sie wollte lediglich ihren Mitbürgern die Idee eines Großen Landes vorlegen, das in jeder Epoche groß bleibt und ehrenhaft aus allen Versuchungen hervor geht. Die Vorstellung einer glücklichen und ruhmreichen Vergangenheit war für sie notwendig zur Konsolidierung der Bevölkerung, zur Wiederherstellung der unanfechtbaren Autorität der staatlichen Macht, zur Stärkung der eigenen „Vertikale“ usw. Aber unabhängig von diesen Absichten und vor dem Hintergrund des erneut auftauchenden Bildes einer Großmacht, die, heute wie gestern, von „Feinden umzingelt“ ist, erschien das schnurrbärtige Profil des großen Führers. Diese Entwicklung war unvermeidbar und folgerichtig.

Beide Vorstellungen der Stalinistischen Epoche gerieten in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf miteinander: Die Vorstellung des Stalinismus, das heißt die Vorstellung eines verbrecherischen Regimes, auf dessen Gewissen Jahrzehnte staatlichen Terrors liegen, und die Vorstellung einer Epoche ruhmreicher Siege und großer Errungenschaften. Und natürlich an erster Stelle das Bild des größten Sieges, des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg.

Vierte Eigenschaft

Viertens: Die Erinnerung an den Stalinismus als Erinnerung an den Krieg. Die Erinnerung an den Krieg wurde zum tragenden Teil der Konstruktion, anhand derer die nationale Selbstidentifikation umgebaut wurde. Über dieses Thema wurde bereits viel geschrieben. Ich möchte nur eins anmerken: Das, was heute die Erinnerung an den Krieg genannt wird, entspricht nicht ganz dieser Bezeichnung. Die Erinnerung an die Leiden im Krieg, an den Kriegsalltag, an das Jahr 1941, an die Kriegsgefangenschaft, an die Evakuierung, an die Opfer des Kriegs, diese Erinnerung war in der Chruschtschowschen Epoche scharf anti-stalinistisch. Zu jener Zeit war sie auf natürlich Weise mit der Erinnerung an den Terror verflochten. Heute ist die Erinnerung an den Krieg durch eine Erinnerung an den Sieg ersetzt worden. Dieser Austausch begann Mitte der 1960er Jahre. Gleichzeit wurde Ende der 1960er Jahre für ganze zwanzig Jahre die Erinnerung an den Terror verboten. Dieser Austausch wurde aber erst jetzt vollendet, zu einer Zeit, in der es fast keine Frontsoldaten mehr gibt und niemand mehr die kollektiven Stereotypen mit seinen eigenen Erinnerungen korrigieren kann.

Eine Erinnerung an den Sieg ohne eine Erinnerung an den Preis des Sieges kann zweifellos nicht anti-stalinistisch sein. Und deshalb passt sie schlecht mit der Erinnerung an den Terror zusammen. Stark vereinfacht könnte man sagen, dass der Konflikt der Erinnerung etwa so aussieht. Wenn der Staatsterror ein Verbrechen war, wer war dann der Verbrecher? Der Staat? Der an seiner Spitze stehende Stalin? Aber wir haben doch im Krieg gegen das Absolute Böse gewonnen. Also können wir doch nicht Untertanen eines Verbrecherregimes gewesen sein, sondern eines großen Landes, der Verkörperung alles Guten, was es auf der Welt gibt? Wir haben Hitler unter der Führung von Stalin überwunden. Diese beiden Vorstellungen sind nicht überein zu bringen, wenn nicht eines von ihnen verdrängt wird oder aber zumindest eines ernsthaft korrigiert wird.
So ist es gekommen. Die Erinnerung an den Terror ist zurück gewichen. Sie ist nicht völlig verschwunden, aber sie wurde im Massenbewusstsein an den Rand gedrängt.
Unter diesen Umständen ist es überhaupt verwunderlich, dass die Erinnerung an den Terror überhaupt in irgendeiner Form überlebt und sich nicht in ein Großes Nationales Tabu verwandelt hat, dass es sie trotz allem gibt und sie sich entwickelt.

Überblick über Mechanismen und Institute der Erinnerungsgestaltung

Denkmäler

Das erste und sichtbarste Zeugnis der Erinnerung an historische Ereignisse sind Denkmäler, die diesen Ereignissen gewidmet sind.

Entgegen verbreiteter Vorstellungen gibt es in Russland einen ganze Reihe von Denkmälern oder Gedenktafeln, die an den stalinistischen Terror erinnern. Insgesamt sind es mindestens 800. Sie werden nicht zentral gelenkt aufgestellt, sondern auf Betreiben gesellschaftlicher Kräfte und von örtlichen Administrationen. Die föderative Staatsebene beteiligt sich praktisch nicht an der Memorialisierung des Terrors. Diese Erinnerung wird schlicht nicht als vorrangige staatliche Aufgabe angesehen. Wahrscheinlich spielt aber auch der Wunsch eine Rolle, ein schmerzhaftes Thema nicht zusätzlich zu legitimieren.

Alle diese Skulpturen, Kapellen, Kreuze, Gedenksteine verewigen das Gedenken an die Opfer. Aber in diesem Gedenken gibt es keine Bilder von den Verbrechen oder den Verbrechern. Es gibt die Opfer, Opfer von zerstörerischen Naturkräften oder anderen Katastrophen, deren Quellen und Gründe für das Massenbewusstsein unzugänglich bleiben.

Der größte Teil dieser Denkmäler oder Gedenktafeln steht in den Städten nicht auf zentralen Plätzen, sondern weit entfernt, dort wo die Überreste der Erschossenen vergraben wurden. Gleichzeitig tragen viele zentrale Straßen noch heute Namen von Leuten, die direkt oder indirekt am Terror beteiligt waren. Die heutigen, von der Sowjetepoche ererbten städtischen Straßen- und Stadtteilbezeichnungen und das an die Stadtränder abgeschobene Gedenken an die Opfer sind ein auffallend passendes Bild für den Zustand des historischen Gedächtnisses vom Stalinismus in Russland.

Erinnerungsbücher

Erinnerungsbücher sind einer der Grundpfeiler der Erinnerung an den Stalinismus. Diese Bücher werden in den meisten Regionen Russlands herausgegeben und bilden heute bereits eine kleine Bibliothek mit fast 300 Bänden. Sie enthalten zusammen genommen mehr als eineinhalb Millionen Namen von Hingerichteten, zu Lagerhaft verurteilten und Deportierten. Das ist ein wichtiger Erfolg, vor allem wenn man den schwierigen Zugang zu vielen unserer Archive in betracht zieht.

Allerdings tragen diese Bücher fast nichts zur Bildung des nationalen historischen Gedächtnisses bei. Zum einen sind es regionale Bücher. Jedes von ihnen gibt mehr ein Bild des „örtlichen“ Leids als die Vorstellung einer nationalen Katastrophe. Dieser regionalen Aufspaltung entspricht eine methodologische Vielfalt: Jede Erinnerungsbuch hat seine eigenen Quellen, seine eigenen Auswahlprinzipien, seinen eigenen Umfang und sein eigenes Format, wie die biographischen Daten präsentiert werden. Der Grund liegt in der Abwesenheit eine einigenden staatlichen Programms zur Herausgabe dieser Bücher. Der Bundesstaat drückt sich auch hier vor seiner Schuld.

Zum zweiten ist das ein praktisch nicht öffentliches Gedenken. Die Bücher werden in winzig kleinen Auflagen heraus gegeben und finden oft nicht einmal in die regionalen Bibliotheken Eingang.

Vor Kurzem hat Memorial eine Datenbank ins Internet gestellt, die diese Erinnerungsbücher zusammen fast und noch durch Daten des russischen Innenministeriums und von Memorial selbst ergänzt. Dort haben wir mehr als 2,7 Millionen Namen. Im Vergleich zum Ausmaß des sowjetischen Terrors ist das sehr wenig. Wenn in diesem Tempo weiter gearbeitet wird, dann brauchen wir für eine vollständige Liste noch mehrere Jahrzehnte.

Museen

Museen. Auch hier sieht es nicht so schlecht aus, wie man hätte erwarten können. Natürlich gibt es in Russland bis heute kein nationales Museum des Staatsterrors, das eine wichtige Rolle bei der Bildung einer kollektiven Vorstellung über den Terror im Massenbewusstsein spielen könnte. Örtliche Museen, in denen der Terror das Hauptthema ist, gibt es weniger als zehn. Trotzdem existiert das Thema Terror, allerdings seltener in den Ausstellungen als im Bestand von etwa 300 Museen, verteilt im ganzen Land (vor allem handelt es sich hier um Museen auf Kreisebene und städtische Heimatmuseen). Die allgemeinen Probleme mit der Erinnerung an den Terror zeigen sich aber auch hier. In den Ausstellungen ist das Thema der Lager und der Arbeitssiedlungen meist im Thema der Industrialisierung des Gebiets aufgelöst und die eigentlichen Repressionen wie Verhaftungen, Verurteilungen, Erschießungen werden an biographischen Stellwänden und in biographischen Vitrinen behandelt. Insgesamt wird der Terror nur sehr fragmentiert dargestellt und nur bedingt in die Geschichte des Landes integriert.

Erinnerungsorte des Terrors

Erinnerungsorte des Terrors. Das sind heute in erster Linie Begrabungsstätten: Ort an denen eine große Anzahl von in der Periode des Großen Terrors Erschossenen begraben wurden und Lagerfriedhöfe. Aber das Geheimnis, das die Erschießungen umgab, war ebenso groß, wie die Zahl der Quellen, die zu diesem Thema zu finden sind, klein ist. Heute sind uns nur etwa 100 Begrabungsstätten von während des Großen Terrors 1937-1938 Erschossenen bekannt. Nach unseren Berechnungen ist das weniger als ein Drittel der Gesamtzahl. Ein Beispiel: Ungeachtet jahrelanger Anstrengungen von speziellen Suchtrupps gelingt es nicht den Ort zu finden, an dem die Opfer der berühmten „kaschketiner Erschießungen“ in der Nähe der Backsteinfabrik bei Workuta begraben sind. Bei den Lagerfriedhöfen sieht es noch schlechter aus. Wir kennen nur einige Dutzend von mehreren Tausend, die irgendwann einmal existiert haben.

So oder so sind die Friedhöfe ein Teil des historischen Gedächtnisses an die Opfer.

Objekte der Infrastruktur des Terrors in den Städten werden nicht zu Erinnerungsorten. Das sind die erhaltenen Gebäude der Gebiets- und der Kreisleitungen der OGPU (Vereinigte staatliche politische Verwaltung = Staatspolizei) und des NKWD (Innenministerium der UdSSR), Gefängnisse und Lagerverwaltungen.

Das gleiche gilt für Industrieobjekte, die durch die Arbeit von politischen Gefangene aufgebaut wurden, also Kanäle, Eisenbahnen, Bergwerke, Fabriken, Kombinate und Wohnhäuser. Es wäre sehr einfach, sie zu Erinnerungsorten zu machen. Es reichte bereits, eine Gedenktafel am Eingangstor einer Fabrik oder an einem Bahnhofsgebäude aufzuhängen.

Noch ein Kanal, um das Massenbewusstsein mit historischen Konzeptionen und Vorstellungen zu versorgen ist die Massenkultur, vor allem natürlich das Fernsehen. Es gibt sehr viele und sehr unterschiedliche Fernsehsendungen über die Stalinepoche. Glamourkitsch wie die Fernsehserie „Stalin-life“ konkurriert auf gleicher Ebene mit talentierten und gewissenhaften Verfilmungen der Werke Schalamows und Solschenizyns. Die Fernsehzuschauer können sich eine ihnen genehme Interpretation der Stalinepoche auswählen. Es scheint allerdings, dass die Zahl derer, die „Stalin-life“ auswählen steigt, während die der Schalamow-Anhänger sinkt. Natürlich braucht dem Zuschauer nichts vorgesagt zu werden. Seine aktuelle Weltanschauung wird durch antiwestliche Rhetorik und endlose Beschwörungen der Größe des Landes durch Fernsehpolitologen bestimmt, eines Landes, das gleichzeitig von allen Seiten mit Feinden umstellt ist und das im Inneren durch eine fünfte Kolonne untergraben wird. Er wählt also, was dieser Weltanschauung am besten entspricht. Und keine Schalamows oder Solschenizyns können ihn davon abbringen.

Geschichtsunterricht in der Schule

Zu guter Letzt komme ich zum vielleicht wichtigsten Institut zur Konstruktion einer kollektiven Vorstellung von der Vergangenheit, dem Geschichtsunterricht in der Schule. Hier ist die staatliche Geschichtspolitik ebenso wie in einem großen Teil der publizistischen und dokumentarischen Fernsehsendungen im Gegensatz zu vielem oben Gesagtem durchaus aktiv. Ihr Charakter lässt uns im Übrigen darüber nachdenken, dass Passivität in Bezug auf das historische Gedächtnis nicht so gefährlich ist wie die Nutzung der Geschichte als Mittel der Politik.

In neueren Geschichtslehrbüchern kommt der Stalinismus als System vor. Auf den ersten Blick ist das ein Fortschritt. Aber der Terror wird dort als historisch notwendiges und alternativloses Mittel zur Lösung staatlicher Aufgaben dargestellt. Diese Konzeption schließt Mitgefühl mit den Opfern des Molochs nicht aus, aber sie leugnet die Frage nach dem verbrecherischen Charakter des Terrors und nach dem Subjekt dieses Verbrechens kategorisch.

Das ist nicht das Ergebnis einer Politik, die die Idealisierung Stalins zum Ziel hat. Das ist der natürliche Nebeneffekt einer völlig anderen Aufgabe, der Idee, dass die Staatmacht immer im Recht ist. Sie steht höher als jede ethischen und juristischen Bewertungen. Sie untersteht per definitionem keiner Gerichtsbarkeit, weil sie von staatlichen Interessen geleitet wird, die höher stehen als die Interessen von Mensch und Gesellschaft, höher als Moral und Recht. Der Staat hat immer Recht – zumindest solange er mit seinen Feinden fertig wird. Dieser Gedanke durchzieht die neueren Lehrbücher von Anfang bis Ende, nicht nur dort, wo von Repressionen die Rede ist.

Zusammenfassung

Zusammengefasst: Wie aus dem oben Gesagten folgt, können wir über ein historisches Gedächtnis reden, das zerstückelt und fragmentiert ist, das verschwindet und an den Rand des Massenbewusstseins gedrängt wird. Die Erinnerung an den Stalinismus in unserem Sinn gibt es höchstens in Kreisen der Intelligenz. Hat diese Erinnerung noch die Chance zum nationalen historischen Gedächtnis zu werden? Welches Wissen und welche Werte müssen dafür in das Massenbewusstsein Eingang finden? Was ist hier zu tun? Das ist Inhalt eines anderen Gesprächs. Klar ist, dass dazu gemeinsame Anstrengungen von Staat und Gesellschaft nötig wären. Klar ist auch, dass den Historikern in diesem Prozess eine besondere Rolle zukommt. Sie haben auch eine besondere Verantwortung.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


Übersetzung: Jens Siegert, Leiter des Russlandbüros der Heinrich-Böll-Stiftung, 14.12.08