Adnan rief um 12 Uhr zehn an

Anfang Januar 2009

Um zehn Minuten nach 12 Uhr klingelte mein Mobiltelefon und riss mich aus meiner Mittagsruhe am Shabbat. In der Leitung war Adnan Za’in, mein Freund aus Beit Hanoun im nördlichen Gazastreifen. Er klang aufgeregt und ängstlich. Von ihm hörte ich vom Beginn der Luftangriffe. Adnan hielt das Telefon ans Fenster und gab mir damit die Möglichkeit, das Dröhnen der Flugzeuge oben und die Explosionen in der Nähe zu hören. Das Gespräch verlief angespannt und kurz, um die Batterie zu schonen. – es gibt keine Elektrizität in Beit Hanoun, so dass es unmöglich ist, das Mobiltelefon aufzuladen. Adnan musste zu seinen weinenden Kindern zurück, um sie zu beruhigen.

Ich schaltete das Fernsehen an. Parallel zu den flimmernden Bildern von den Leichenbergen auf der palästinensischen Seite, sendeten verschiedene Kanäle auf der anderen, der israelischen Seite Geschichten der Angst und der Spannung von denen, denen der Raketenbeschuss bekannt ist. Die Bewohner an der Grenze zum Gazastreifen konnten das nicht länger ertragen. Wer kann ihnen dafür Vorwürfe machen? Welcher souveräne Staat kann dieses Attribut für sich in Anspruch nehmen, wenn er für die Sicherheit seiner Bürger nicht sorgen kann? Verrückte Systeme. Die Kriegstrommeln sind auf dem „Marsch der Blinden“ wieder hervorgeholt worden, der schließlich nur Blut, Leiden und Tränen bringt.

Hätte es anders sein können? Ist die Frage bedeutsam, wer angefangen hat? Wichtiger ist die Feststellung: Wer auf die Zivilbevölkerung schießt, ob sie von Hamas, dem Islamischen Djihad oder vom israelischen Militär kommen, begeht Kriegsverbrechen. Der Krieg bewegt sich nicht nur zwischen palästinensischen und israelischen Bürgern. Der Kampf findet zwischen jenen statt, die sich für die Lösung „zwei Staaten für zwei Völker“ einsetzen, und jenen – auf beiden Seiten –, die für den Sieg des Hasses und für das Blutvergießen kämpfen. Zwischen jenen, die die Würde anerkennen und sein Recht auf Leben und Unabhängigkeit, und jenen, die nur ein Nullsummenspiel kennen. Möge Gerechtigkeit geschehen, auch wenn der Himmel einstürzt.

Es ist an der Zeit, dass die Vernünftigen beider Seiten gemeinsam das Feuer austreten, das uns alle zu vernichten droht. Es ist an der Zeit, die Tatsachen anzuerkennen: Hamas ist ein Teil des palästinensischen Volkes. Kein Frieden ohne Hamas. Doch es kann keinen Frieden mit ihr geben – wenn sie dem Terror nicht abschwört. Israel muss die Blockade aufheben und die Übergänge für die Lieferung von Lebensmitteln, für Medikamente und für humanitäre Hilfsmaßnahmen öffnen. Hamas muss Gilad Shalit freilassen im Austausch für die großzügige Freilassung von palästinensischen Sicherheitsgefangenen, einschließlich jener mit Blut an den Händen.

Und vor allem ist das Folgende wichtig: Auf beiden Seiten fehlen der Wille und das Vermögen, die festgefahrenen Gedanken um 180 Grad zu wenden.

Deshalb ist es an der Zeit, dass israelische und palästinensische Bürger gemeinsam zu einem aktiven internationalen Eingreifen in Gaza und in der Westbank aufrufen, für ein glaubwürdiges und zeitlich begrenztes Regime unter dem Schutz eines Mandats des UN-Sicherheitsrates. Dieses Mandat sollte aus Angehörigen der Nato, der Türkei, Jordaniens und Ägyptens bestehen und gleichzeitig auf den Prinzipien der arabischen Friedensinitiative (von 2002/2007) gründen. Dies ist die einzige Chance, das mörderische Krebsgeschwür zu besiegen, das das Leben in unserer Region bedroht.


Prof. Dr. Dan Jacobson lehrt Organisationsmanagement an der Universität Tel Aviv. Er ist Mitglied der Leitung in der Partei Meretz, gehört zur Leitung von Peace Now sowie zum Rat der Friedensinitiative. Der Beitrag erschien Anfang Januar 2009 auf der hebräischen Website „Auf der linken Seite“ und auf deutsch zuerst auf  www.reiner-bernstein.de. Übersetzung von Reiner & Judith Bernstein.

 
 
 

Dossier

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