Der israelisch-palästinensische Konflikt ist vielleicht nicht der gefährlichste internationale Konflikt, sicher aber der komplizierteste. Mit der Spaltung der Palästinenser und der politischen Loslösung des Gazastreifens von der palästinensischen Administration im Westjordanland einerseits und mit der Dynamik der israelischen Siedlungsprojekte wird eine Lösung immer schwieriger. Man kann den Konflikt nicht im Schnelldurchgang und auf den letzten Drücker einer amerikanischen Präsidentschaft zu lösen versuchen. Dafür ließ man ihn viel zu lange schwelen. Mit ihren Last-Minute-Einsätzen als Friedensstifter sind Bill Clinton und Bush jeweils eindrucksvoll gescheitert. Bushs Ansatz mit der Annapolis-Konferenz und der Absichtserklärung noch vor Ende seiner Amtszeit eine Vereinbarung zwischen Israel und der PLO zustande zu bringen, war ohnehin mehr als Flankendeckung des Irakkriegs gedacht.
Gerade, weil eine Lösung immer schwieriger wird, verlangt sie eine entschlossene und zugleich ausdauernde Anstrengung. Zu ihr hat sich Präsident Obama gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft bereit erklärt. In seiner Kairoer Rede hat er die existenzielle Verbundenheit der USA mit Israel unterstrichen und zugleich einen sofortigen Siedlungsstopp gefordert.
Befristeter Baustopp?
Von israelischer Seite wäre ein Siedlungsstopp der entscheidende Schritt, um einen Verständigungsprozess in Gang zu bringen. Zwar nannte Barack Obama gegenüber dem ägyptischen Präsidenten unter einigen „ermutigenden Anzeichen“ für Fortschritte im Nahen Osten auf dem Weg zu einer Friedensvereinbarung Berichte, dass seit März keine neuen Genehmigungen für Siedlungen im Westjordanland mehr erteilt worden seien. Doch diese Mitteilung wurde auf doppelte Weise sofort in Frage gestellt. Einerseits erhob sich inner- und außerhalb der Regierung heftiger Protest gegen einen angeblichen Siedlungsstopp. Zudem betonte Bauminister Attias, der Baustopp sei nur befristet und diene dazu, die internationale Unterstützung für den späteren Ausbau jüdischer Siedlungsblöcke zu erhalten, die Israel auch im Falle eines Friedensabkommens mit den Palästinensern weiter behalten wolle.
Andererseits bezeichnete Jariv Openheimer von Peace now die Baustopp-Berichte als einen „großen Bluff“. So würden derzeit im Westjordanland 1000 Wohnungen errichtet. Außerdem erfolgten 60 Prozent der Bautätigkeiten in den jüdischen Siedlungen mit privaten Mitteln. Selbst wenn Netanjahu einen befristeten Baustopp angekündigt habe, beträfe dies nur 40 Prozent sämtlicher Bautätigkeiten in jüdischen Siedlungen.
Thorsten Schmitz von der Süddeutschen Zeitung, dessen Korrespondenz aus Tel Aviv hier gefolgt wird (s. "Ärger über angeblichen Baustopp für jüdische Siedlungen", SZ 20.08.09), meint, man könne auch mit eigenen Augen sehen, dass in jüdischen Siedlungen wie Beit El und Beitar Illit gebaut wird. Das Büro des palästinensischen Chefunterhändlers Saeb Erekat ließ erklären, dass die bereits genehmigten Projekte von einem befristeten Baustopp nicht betroffen seien. Es werde „überall gebaut“.
Dynamik der Siedlungsbewegung
Ein befristeter Baustopp läuft also darauf hinaus, im Verlauf der Frist ungestört weiter zu bauen. Er ändert nichts an der ungebrochenen Dynamik der jüdischen Siedlungsbewegung in den seit 1967 besetzten Gebieten. 300 000 Siedler leben bereits jetzt im Westjordanland, 200 000 im arabischen Ostteil Jerusalems. Es liegt im Wesen dieser Siedlungsbewegung, dass sie sich mit der wachsenden Zahl von Siedlern beschleunigt. Jede Siedlung bildet das Zentrum von neu vorgeschobenen Außenposten, die als Pilotprojekte weiterer Siedlungsschübe wirken.
In einer Besprechung von David Shulmans Aufzeichnungen „Dark Hope: Working for Peace in Israel and Palestine“ bezieht sich der israelische Philosoph Avishai Margalit auf den Versuch, diese Dynamik zu beschreiben. Mit „intricate machine“ werde das Zusammenwirken verschiedener Regierungsbehörden, darunter Armee und Polizei, und der zivilen Verantwortlichen bei der Verwaltung der West Bank auf den Begriff gebracht . Unter Berufung auf Shulmans Erfahrungen macht Margalit mit der Generationenfolge unter den Siedlern auf ein weiteres Moment der Dynamisierung aufmerksam: Die junge Generation von Siedlern, die isoliert in den Siedlungen aufgewachsen sei, hätte erfolgreich ihre Eltern radikalisiert. Diese seien nun bereit, sich der Polizei und der Armee in einer Weise zu widersetzen, wie sie es aus ideologischen Gründen früher nicht gewagt hätten. Das Straßennetz und die Sicherheitszonen um die Siedlungen und Außenposten bewirkten, dass die Ausweitung der israelischen Kontrolle nicht von der Zahl der Siedler, sondern vom Ausmaß der Schutzzonen, von denen Palästinenser ausgeschlossen sind, abhängig sei. So hat sich ein außerstaatlich-staatliches strategisches Vorfeld gebildet, das gerade wegen der Verwicklung von staatlichen Maßnahmen und gesellschaftlicher Bewegung nur unter größten Schwierigkeiten und innerisraelischen Erschütterungen zurückgenommen werden könnte.
US-Politik bleibt umstritten
Wie mit den jüdischen Siedlungen umzugehen sei, ist auch in der amerikanischen Politik unklar. Barack Obama hatte in seiner Kairoer Rede zwar einen sofortigen Siedlungsstopp verlangt, aber darauf verzichtet, die Siedlungen als illegal zu bezeichnen. Die früheren Stabsangehörigen des Nationalen Sicherheitsrates Flynt Leverett und Hillary Mann Leverett sehen in dieser Unterlassung die Fortsetzung der jahrzehntelangen erfolglosen Bemühungen, einen israelisch-palästinensischen Frieden herbeizuführen. Ihren Ausgangspunkt hätten sie in der Entscheidung der Reagan-Regierung von 1981, die israelischen Siedlungen auf besetzten arabischen Gebieten nicht länger als „illegal“ zu bezeichnen. Damit sei der Boden der Genfer Konvention aufgegeben und der rechtlichen Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet worden. So fehle auch der Roadmap der klare Wegzeiger.
Die entgegen gesetzte Kritik kommt etwa von Steven J. Rosen, einem früheren außenpolitischen Direktor des American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) und heutigem Direktor des Washington Project at the Middle East Forum. Er hält die Forderung nach einem sofortigen Siedlungsstopp für kontraproduktiv, weil sie Netanjahu jede Manövrierfähigkeit nehme. Stimme Netanjahu zu, verlöre er sein parlamentarisches Mandat. Netanjahu wisse, dass er in Fragen der Siedlungen Kompromisse machen müsse, er könne das aber nur, wenn auch Obama Kompromisse mache . In dem Maße, wie sich Obama hier nachgiebig zeigt, entzieht er der Kompromissbereitschaft auf palästinensischer Seite die Basis. Alle am Friedensprozess beteiligten Seiten stehen vor einem verteufelten Dilemma. Frömmigkeit hilft nicht heraus.
Ein deutscher Moralphilosoph nimmt das Wort
Der Rat Robert Spaemanns, eines philosophischen Fachmanns in Fragen der Moral, ließ nicht lange auf sich warten. Der Schlüssel liege in Amerika. Der Frieden in Nahost komme nicht zustande, „weil hier ein Grundgesetz des politischen Lebens ständig missachtet wird, das Gesetz des Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam.“ Weil die USA ihren Schutz bedingungslos gewährten, bleibe es letztlich allein Sache der israelischen Regierung, ob sie die Ratschläge der Schutzmacht befolge oder nicht. „Wenn sie es nicht tut, setzt sie ihre Existenz nicht aufs Spiel.“ Und so könne Israel handeln wie ein „Halbwüchsiger, der deshalb nie erwachsen wird, weil, was auch immer er anrichtet, der Papa es schon richten wird und er nie die Suppe auslöffeln muss, die er sich eingebrockt hat. Nur Amerika kann Israel dazu verhelfen, erwachsen zu werden und den Realitäten ins Auge zu sehen.“ Das Wort „bedingungslos“ hätte im politischen Raum nichts verloren.
Hindernisse für den Frieden seien die Besetzung fremden Territoriums und die völkerrechtswidrigen Siedlungsbauten, die nicht nur gestoppt, sondern auch beseitigt werden müssten. Außerdem müsse Israel auf die „ethnische Selbstdefinition“ verzichten, die jeden Nichtjuden zum Fremden macht.
„Entscheidend ist, wer diese Hindernisse als Hindernisse definiert. Und das kann nur der sein, der die Bestandsgarantie gibt. Amerika hat eine Verantwortung für Israel, solange Israel von Amerika abhängig ist. Und es wird dieser Verantwortung nur gerecht, wenn es Bedingungen formuliert, von deren Erfüllung es die Bestandsgarantie abhängig macht. Das allein würde in Israel zum Erwachen eines Bewusstseins für die Realitäten führen, das die Voraussetzung eines Friedens im Nahen Osten bildet.“
Diese radikale Vereinfachung eines komplizierten Problems gelingt nur durch Abstraktion von Kategorien der zwischenstaatlichen Beziehungen. Unterschiede des politischen Gewichts zwischen Staaten negieren nicht ihre Gleichheit als Staaten. „Schutz und Gehorsam“ sind eben kein „Grundgesetz des politischen Lebens“, sondern nur die extreme Form von Komplementaritäten, die im Verhältnis zwischen Staaten kategorisch ausgeschlossen ist. „Bestandsgarantie“ und gehorsame Unterwerfung widersprechen nicht nur dem Gleichheitsverhältnis unter Staaten, sondern auch dem tatsächlichen Verhältnis zwischen den USA und Israel. Es ist eine völlige Illusion, die USA bräuchten nur auf den Tisch zu hauen und das „halbwüchsige“ Israel müsse sich den Bedingungen der USA unterwerfen, wie sie Spaemann nicht nur Israel, sondern auch den USA verordnen zu können glaubt.
Was Israel fehlt
Das Grundproblem des Staates Israel ist nicht der mangelnde Gehorsam gegenüber den USA, sondern dass Israel sich damit eingerichtet hat, es im Verhältnis zu den Palästinensern nicht mit einem anderen Staat zu tun zu haben. Es gibt diesen Staat nicht und die israelische Politik will einen solchen Staat auch gar nicht. Es ist das gemeinsame Unglück dass die UN-sanktionierte Teilung Palästinas nicht mit einer parallelen Staatenbildung auf israelischer und palästinensischer Seite Hand in Hand ging. So ist die israelische Besatzung keine Besatzung fremden Staatsgebietes. So verlangt Israel zwar Gehorsam von den Bewohnern der besetzten Gebiete, sieht sich aber keineswegs gezwungen, den Schutz zu gewähren, der aus den Verpflichtungen der Genfer Konvention in Kriegen zwischen Staaten erwächst. Dass der größte Teil der Grenzen Israels keine Grenze zwischen Staaten ist, lässt Israel in den Grenzen von 1967 der israelischen Politik als Provisorium erscheinen. In diesem staatlichen Provisorium vor dem Hintergrund des mehr oder weniger ausgesprochenen zionistischen Anspruchs auf ganz Palästina entfalten sich die Siedlungsbewegung und der expansive Kontrollanspruch Israels.
Die fehlende palästinensische Staatlichkeit kann nicht durch eine illusorische arabische Staatengemeinschaft ersetzt werden, für die die palästinensischen Interessen doch immer nur Spielgeld im Konflikt untereinander und mit Israel waren und sind. Es ist also wahr: Die israelische Staatlichkeit hat etwas Provisorisches, das auf Grund der eigenen Überlegenheit in politische Unreife umschlagen kann. Es fehlt Israel die Selbstanerkennung als Staat in völkerrechtlich verbindlichen Grenzen und es fehlt ihm vor allem in Palästina an einem staatlichen Partner, mit dem Konflikte verbindlich auf dem Verhandlungsweg zu lösen wären.
Im Grunde kann sich nur Israel selbst von seinem provisorischen Charakter befreien. Mit der Losung „Land für Frieden“ strebte die israelische Friedensbewegung das auch an. Aber auch dieser Prozess verlangt einen Partner, der zunehmend staatliche Form annimmt. Und die Losung hatte auch einen Schönheitsfehler: Land zurückzugeben, das man vorher besetzt hat, klingt generöser als es ist.
Solange Israel sein provisorisches Selbstverständnis nicht überwindet, läuft es Gefahr, den ganzen Nahen Osten als Provisorium zu belassen. Israel selbst hat das Interesse, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen und über einen Siedlungsstopp die Voraussetzungen für einen weitgehenden Rückzug auf die Grenzen von 1967 zu schaffen. Diese israelische Bereitschaft ist die Basis palästinensischer Staatsbildung. Die USA und die EU können diesen Prozess ermutigen und unterstützen. Erzwingen können sie ihn kaum. Äußerer Zwang würde auch kaum die erwünschte Stabilität erzielen.
Die Zweifel an der Zwei-Staaten-Lösung werden in letzter Zeit von unterschiedlichsten Seiten geäußert. Sie werden auch geschürt. Tatsächlich setzt die Zwei-Staaten-Lösung voraus, dass Israel sich als ein Staat unter Staaten versteht und deshalb alles daran setzt, in einem palästinensischen Staat den notwendigen Partner zu finden. Es fehlt nicht an Gehorsam, sondern an Einsicht. Wo sollte das Bewusstsein stärker sein als in Israel, dass man einen Staat machen muss, um gleichberechtigt zu sein?
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.