Die Grenzen nach Gaza öffnen!

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John Ging in einem Fernsehinterview, Januar 2009. Bild von gw1. Diese Aufnahme steht unter einer Creative Commons-Lizenz

 

28. Mai 2010
Ein Interview mit John Ging, Leiter der UN-Hilfsorganisation für die Palästinenser (UNRWA) im Gazastreifen. John Ging, der streibare Leiter der UN-Hilfsorganisation für die Palästinenser (UNRWA) im Gazastreifen, steht wieder einmal unter Beschuss - dieses Mal von radikalen Islamisten, die in der letzten Woche die Zelte eines Sommerlagers der UNRWA für palästinensische Jungen und Mädchen am Strand von Gaza in Brand setzten. Sogar die Hamas-Führung, sonst durchaus kritisch im Umgang mit der UNRWA, lobte die hervorragende Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation im Gazastreifen. In einem exklusiven Interview weist John Ging, der im März 2010 auch zu den Referenten der internationalen Palästina-Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gehörte, noch einmal auf die humanitäre Krise hin, die angesichts der fortdauernden völkerrechtswidrigen Belagerung des Gazastreifens durch Israel herrscht, und beklagt die Ignoranz der internationalen Staatengemeinschaft.


Frage: In Gaza stehen wir vor einer humanitären Krise. Wie würden Sie, ein Jahr nach dem Gaza-Krieg, die Lage der Palästinenser im Gazastreifen beschreiben?

John Ging: Die Lage in Gaza ist gekennzeichnet von menschlichem Elend. Die Menschenwürde wird mit Füßen getreten, und die einfachen Menschen kämpfen Tag für Tag ums Überleben. Ursache der Tragödie ist, dass es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen ist, die Einhaltung von Grundrechten sicherzustellen – sei es die Bewegungsfreiheit, der Zugang zu Märkten und Ressourcen oder die Achtung von Individuen, die sich in einer Lage befinden, für die sie nichts können. Eineinhalb Jahre nach den Zerstörungen vom Dezember 2008 / Januar 2009 prägen diese immer noch das Leben hundertausender Menschen. Im März 2009 kam die internationale Gemeinschaft zu der Einschätzung, es werde an die 4,5 Milliarden US-Dollar kosten, die Schäden zu beheben. Rechnet man dazu die Folgen der seit drei Jahren andauernden Blockade, der am Boden liegenden Privatwirtschaft und der schwer zerstörten Infrastruktur, bekommt man eine Ahnung davon, wie die Lebenswirklichkeit von 1,5 Millionen Menschen – die Hälfte davon Kinder unter 18 Jahren – aussieht.

Was sind die wesentlichen Gründe der Krise?

Bereits vor dem Gazakonflikt von 2008/09 hatte sich die sozio-ökonomische Lage in Gaza seit einem Jahrzehnt fortlaufend verschlechtert. Seit dem Krieg wurde so gut wie kein Aufschwung, kein  Wiederaufbau zugelassen. Die gegenwärtige Lage in Gaza ist die Folge des sehr stark eingeschränkten Zugangs zu der Region – das muss sich unbedingt ändern. Anstelle der legalen, gut diversifizierten Wirtschaft gibt es heute nur noch einen Schwarzmarkt, der über illegale Tunnel an der Grenze zu Ägypten funktioniert. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) darf natürlich keine Baumaterialien auf dem Schwarzmarkt kaufen – und tut das auch nicht. Die internationale Gemeinschaft stützt diesen Zustand. Gleichzeitig jedoch sollen wir denjenigen helfen, deren Existenz zerstört worden ist – so das Mandat, das wir von der UN-Generalversammlung erhalten haben. Folglich müssen unbedingt alle legalen Wege beschritten werden, um zu helfen. Der erste Schritt dazu wäre, dass sich alle Seiten an bestehende Abkommen und an internationales Recht halten.

Vergangenes Jahr hatte die internationale Gemeinschaft zugesagt, 4,5 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau Gazas nach dem Gazakrieg bereitzustellen. Warum wurde mit den Arbeiten noch nicht begonnen?

So lange die Grenzübergänge im wesentlichen geschlossen bleiben, sind Wiederaufbau und ein Aufschwung in Gaza so gut wie unmöglich. Der Vertrag von 2005 über Bewegungsfreiheit und Zugänglichkeit zwischen Israel, der Palästinensischen Verwaltung und Ägypten sieht vor, dass Exporte und Importe von Handelsgütern über die israelisch-palästinensischen Grenzübergänge erfolgen. Ich fordere nach wie vor, dass diese Übergänge geöffnet werden, weise aber darauf hin, dass auch die internationale Gemeinschaft für das Leiden der Menschen verantwortlich ist. Wir müssen deswegen alle rechtlichen Wege prüfen, wozu auch die Möglichkeit gehört, humanitäre Hilfe auf dem Seeweg nach Gaza zu bringen.

Die UNRWA ist die wichtigste internationale Hilfsagentur im Gazastreifen. Was sind für die UNRWA die größten Hindernisse? Welche Hilfe und Unterstützung benötigt die UNRWA am dringensten?

Dem Mandat der UNRWA zufolge sind unsere Hauptaufgaben die Entwicklungshilfe und die humanitäre Hilfe. Daran, dies umzusetzen, hindert uns am meisten der fehlende Zugang zu Baumaterialien und der ständige Geldmangel. Ein Beispiel: Wegen des begrenzten Zugangs nach Gaza, sind wir nicht in der Lage, Schulen für tausende von Kindern zu bauen, die 2010/11 schulpflichtig werden. 2010 fehlen uns zudem geschätzte 90 Millionen US-Dollar, was unsere Tätigkeit stark beeinträchtigt. Die Lösung besteht aus zwei Elementen: Die UNO muss unbeschränkten Zugang nach Gaza erhalten, und die Geber müssen die entscheidenden Aufgaben der UNRWA weiter unterstützen.

Wie beeinflusst die politische Spaltung in Palästina die Arbeit der UNRWA? Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Hamas-„Regierung“ in Gaza aus?

Die UNRWA unterstützt die palästinensischen Flüchtlinge in Gaza schon seit 60 Jahren. Die Zahl der Flüchtlinge beläuft sich aktuell auf 1,1 Millionen. Wir stehen über der Politik – das wissen unsere Geber, wie auch die Empfänger. Wie in der Vergangenheit auch, ist die UNRWA für die Flüchtlinge ein Dienstleister in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Hilfsleistungen, Mikrokredite und Nothilfe. In dieser Hinsicht achten alle am Konflikt um Gaza beteiligten Seiten die Unabhängigkeit unserer Organisation. Auf keinen Fall werden wir uns in eine Lage begeben, die die Lauterkeit und die Neutralität unseres Handelns beeinträchtigt.

Internationale Beobachter und Hilfsorganisationen klagen über ernste Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Wo und wie wird im Gazastreifen gegen das Völkerrecht verstoßen? Was lässt sich dagegen tun?

Die Blockade des Gazastreifens ist eine Art von Sippenhaft für ein ganzes Volk – ein Verstoß gegen internationales Recht. Im internationalen Recht gibt es Regeln dafür, wie mit so etwas umzugehen ist. Die Menschen in Gaza unterscheiden sich nicht von Menschen anderswo auf der Welt – ganz gleich, was man häufig hört oder liest. Die Lösung ist einfach: Die Rechte der Palästinenser in Gaza müssen geachtet werden. Der erste Schritt dahin ist, dem internationalen Recht Geltung zu verschaffen.

Durch welche Art von internationaler Unterstützung kann die humanitäre Krise in Gaza beendet werden?

Es muss endlich gehandelt werden. Nach drei ganzen Jahren der Blockade ist sich die internationale Gemeinschaft darüber im Klaren, dass dieser Ansatz kontraproduktiv ist. Während wir bloß zugesehen haben, sind die einfachen Menschen ärmer und ärmer geworden. Wegen des Mangels an Schulräumen werden die Kinder mangelhaft unterrichtet. Junge, begabte Menschen können keine Arbeit finden. Für das Volk muss eine Lösung gefunden werden und zwar eine, die nicht wieder eine Abhängigkeit von Hilfsleistungen herstellt, sondern eine, die auf wirtschaftliche Eigenständigkeit setzt. Statt eingesperrt zu sein, müssen die Menschen sich frei bewegen dürfen; statt in Sippenhaft genommen zu werden, müssen die Menschen ein würdiges Leben führen dürfen, ein Leben gemäß der allgemein gültigen Menschenrechte.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.

 
 

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