Alles offen: Der Mittlere Osten ohne Supermacht

Kein Friedensabkommen wird die Ergebnisse des Siedlungsbaus grundsätzlich negieren können. Wenn sie jedoch unter Berufung auf die viertausend Jahre alte Verbindung zwischen jüdischem Volk und jüdischem Land gerechtfertigt werden, wird jeder Friedensschluss unter den Vorbehalt dieses höheren historischen Rechts gestellt bleiben, also keinesfalls als dauerhaft gelten können. Foto: OnlyWonder Lizenz: CC-BY-NC-SA Quelle: Flickr

16. Juni 2011
Joscha Schmierer
Von Joscha Schmierer

Die Regierung von Präsident George W. Bush hegte die Vorstellung, gleichzeitig die Demokratisierung des Greater Middle East vorantreiben und die Vorherrschaft der USA zementieren zu können. Der Status quo sei nicht zu halten und müsse unter Führung der USA überwunden werden. Eine Stabilität, die auf despotischen Regimen beruhte, wurde auf einmal als bloße Fiktion wahrgenommen. Der Sturz von Saddam Hussein und die Besetzung des Irak durch US-Truppen auf Grund der solitären Entscheidung der USA wurden als Initialzündung eines breit angelegten Regime Change propagiert. Die Durchsetzung universeller Werte in der Region, für die die USA immer gestanden hatten und Vorbild blieben, musste, so die Vorstellung, auch die hegemoniale Rolle der USA stärken. Die Selbsttäuschung, als einzig verbliebene Supermacht zum Promoter der globalen Ordnung berufen zu sein, verband sich mit der Vision eines Greater Middle East, der je demokratischer er würde, desto enger an der Seite der USA stünde. Demokratie und Hinwendung zu den USA erschienen als die zwei Seiten einer Medaille. Es ist alles ein bisschen anders gekommen.


Neue amerikanische Zurückhaltung

Um die verheerende Wirkung der selbstherrlichen und zugleich illusorischen Außenpolitik der Bush-Regierung zu kompensieren, sah sich der neue Präsident genötigt, die Beziehungen mit den Staaten der Region zu entspannen und das hieß auch, die herrschenden Regime als Gesprächspartner zu akzeptieren. Wenn die USA unter der Regierung Bush auf Regime Change setzten, dann setzten sie auf die eigene Macht, die nicht zuletzt auf überlegenen Mitteln der Gewaltanwendung beruhte. Wenn die Regierung Obama begann, die amerikanische Machtprojektion wieder in den Rahmen der realen Möglichkeiten und Kräfteverhältnisse zurück zu führen, bedeutete dies auch eine neue Zurückhaltung gegenüber den herrschenden Regimen.

Hatte die Bush-Regierung mit ihrer Hegemonialpolitik die inneren Voraussetzungen demokratischer Massenbewegungen eher konterkariert, dürfte die Zurückhaltung der Obama-Regierung ihnen zwar zur Entfaltung verholfen haben, ließ die USA aber als merkwürdig unentschieden und passiv erscheinen, wenn es um die Unterstützung demokratischer Massenproteste gegen die Regime im Iran, und dann in Tunesien und Ägypten ging. Während die Bush-Regierung verbal von Regime Change gar nicht genug haben konnte, wurde die Obama-Regierung durch die realen Massenbewegungen überrascht und erst einmal sprachlos gemacht.

Tatsächlich gibt es eben keine Übereinstimmung zwischen amerikanischer Hegemonialstellung und demokratischer Entwicklung im Mittleren Osten. Amerikanische Hegemonie war zwangsläufig in die Tradition vergangener europäischer Kolonialherrschaft geraten, während die Protestbewegungen mit Demokratie immer auch Abwehr äußerer Einmischung meinen.

Die Obama-Regierung steht nun im Mittleren Osten vor einer neuen Situation: Während die Vorherrschaft der USA schwindet, entwickeln sich demokratische Bestrebungen in der Bevölkerung, vor allem in der Jugend und in den Städten. Wenn Hegemonie Kontrollfähigkeit beinhaltet, ist es mit der amerikanischen Hegemonie im Mittleren Osten vorbei, obwohl die Demokratiebewegung im Aufschwung ist. Während Massenproteste in den arabischen Staaten ein Regime nach dem anderen erschüttern, geraten die USA immer mehr in die Rolle des interessierten Beobachters. Es ist ziemlich sicher, dass es in der amerikanischen Öffentlichkeit noch zu heftigen Auseinandersetzungen darüber kommen wird, wer für diesen Machtverlust verantwortlich ist. Es ist eben schwer einzusehen, warum die befreiende Wirkung der Auflösung des Sowjetimperiums und damit des Blockgegensatzes Hand in Hand geht mit dem Machtverlust der einzig verbliebenen Supermacht.


Lehrstunden in Public Diplomacy

Die schwindenden Einflussmöglichkeiten der USA und damit auch des Westens zeigen sich nicht zuletzt in der Unfähigkeit, den Friedensprozess im Nahen Osten wieder in Gang zu bringen. Anfang Mai gab Senator George Mitchell sein Mandat als Sonderbeauftragter des US-Präsidenten für die Vermittlung zwischen Israel und der PLO zurück. Er hatte schon länger wenig Hoffnung auf einen Erfolg seiner Bemühungen erkennen lassen. Offensichtlich sah Präsident Obama nun die Notwendigkeit, die Folgerungen der amerikanischen Politik aus den jüngsten Entwicklungen im Mittleren Osten und im Nahen Osten einer internationalen Öffentlichkeit darzulegen. So versuchte er die Initiative zurück zu erlangen, um beim bevorstehenden Besuch des israelischen Ministerpräsidenten nicht ins diplomatische Hintertreffen zu geraten.

Netanjahu war zu einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses geladen. Zuvor noch sollten Obama und Netanjahu auf der Konferenz des American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) sprechen, wo es der eine schwerer haben musste als der andere. Es war also höchste Zeit für eine politische Botschaft des amerikanischen Präsidenten.

Auf palästinensischer Seite hatten die Gespräche zwischen Al Fatah und Hamas in Kairo zu einer ersten Einigung geführt. Zugleich hatte die Führung der PLO aus der Erfolglosigkeit der Gespräche mit der israelischen Regierung die Konsequenz gezogen und für den Herbst angekündigt, den palästinensischen Staat einseitig auszurufen, um dann in der Vollversammlung der UN seine Anerkennung und die Aufnahme in die UNO zu erreichen. Große Demonstrationen im Westjordanland und in Gaza hatten die Einigung der palästinensischen Organisationen gefordert. Zugleich kam es am Jahrestag der Niederlage gegen Israel 1948 zu großen Massenprotesten, wobei insbesondere die Versuche, die israelischen Grenzbefestigungen auf den Golanhöhen zu durchbrechen eine neue Qualität zeigten und die israelische Armee völlig überraschten. Bisher hatte das syrische Regime solche Proteste immer im Vorfeld der Waffenstillstandslinie unterbunden. Offensichtlich waren die Proteste durch die Massenbewegungen in den arabischen Staaten inspiriert. Die israelische Armee setzte Schusswaffen ein. Bis heute ist die Zahl der Toten und Verletzten umstritten.

Der israelische Hinweis, dass das syrische Regime, als es die Proteste Anfang Mai wie dann erneut Anfang Juni zuließ, nur von der blutigen Unterdrückung der eigenen protestierenden Bevölkerung ablenken wollte, stimmt natürlich, ändert aber nichts daran, dass die Demonstrationen selbst keine bloße Inszenierung des syrischen Regimes waren. Es zeigt sich aber, welche Manipulationsmöglichkeiten der israelisch-palästinensische Konflikt einem seine Existenz kämpfenden despotischen Regimen nach wie vor bietet.

Zumindest Ehud Barak, Verteidigungsminister in der Regierung Netanyahu, scheint sich der neuen Situation bewusst zu sein. Eine Anerkennung des palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 durch die UN-Vollversammlung mag zwar zunächst nur symbolische Bedeutung haben, würde aber der Besatzungs- und Siedlungspolitik, die die israelische Regierung gern als innere Angelegenheit behandelt sehen will, wirksam durchkreuzen. Eine dritte Intifada, die von den gewaltlosen Massenaufständen in Tunesien und Ägypten gelernt hätte, würde damit einen beträchtlichen internationalen Resonanzboden finden. In einem Interview mit dem Christian Science Monitor vom 20. Mai machte Barak keinen Hehl daraus, dass die israelische Regierung noch keine Vorstellung hat, wie sie einer solchen Entwicklung begegnen soll.


Obamas Aufschlag

Präsident Obama hatte also gute Gründe, eine eigene Sichtweise der Entwicklung in den arabischen Staaten und im Nahostkonflikt der internationalen Öffentlichkeit darzulegen, um dem Eindruck entgegenzutreten, die US-Politik sei durch den Gang der Ereignisse überrollt und bleibe nach dem Rücktritt Mitchells zur Passivität verurteilt.

In seiner Rede vom 19. Mai meinte Obama zunächst, das State Department sei ein passender Ort, um ein neues Kapitel der amerikanischen Diplomatie aufzuschlagen. Über sechs Monate sei man nun Zeuge einer außerordentlichen Veränderung im Mittleren Osten und in Nordafrika. Platz für Platz, Stadt für Stadt, Land für Land habe sich das Volk erhoben, um fundamentale Menschenrechte einzufordern. Zwei Führer seien abgetreten. Andere könnten folgen. Obwohl die Länder weit weg erscheinen könnten, wüssten die USA doch, dass ihre eigene Zukunft mit dieser Region verknüpft sei durch wirtschaftliche Faktoren und Sicherheitsfragen, durch Geschichte und Glauben. Er wolle über die Veränderungen sprechen, über die Kräfte, die sie vorantrieben, und darüber, „wie wir auf sie in einer Weise antworten können, die unsere Werte verbreitet und unsere Sicherheit stärkt.“

Die USA hätten schon viel getan, um ihre Außenpolitik umzuorientieren, die durch ein Jahrzehnt zweier kostspieliger Konflikte geprägt war. Angesichts der neuen Ereignisse reiche es nicht mehr aus, sich eng an Kerninteressen zu halten, die die USA in der Region verfolgten: den Kampf gegen den Terror, die Verbreitung von Atomwaffen zu stoppen, den freien Handel zu sichern und auf die Sicherheit der Region zu achten; für die Sicherheit Israels einzustehen und den arabisch-israelischen Frieden anzustreben. All das werde man auch weiter tun in der festen Überzeugung, dass amerikanische Interessen nicht im Gegensatz zu den Hoffnungen der Völker stünden, sondern für sie wesentlich seien. Die USA – das habe er schon in seiner Kairoer Rede vor zwei Jahren gesagt – müssten ihr auf gegenseitige Interessen und Respekt gegründetes Engagement aber erweitern: Sie sollten sich nicht allein auf die Stabilität der Staaten, sondern auf die Selbstbestimmung der Individuen konzentrieren.
Indem er vor allem auf die historischen Chancen der Entwicklung abhob, diente dieser Teil seiner Rede als Einleitung, um in einem kürzeren zweiten Teil die beiden Seiten des Nah-Ost-Konflikts zu ermahnen, auch hier nicht auf dem Status quo zu bauen. Die scheinbar doppelseitige Ansprache richtete sich in der Sache vor allem an den erwarteten Gast, den israelischen Ministerpräsidenten. Auf palästinensischer Seite gibt es ja keinerlei Grund, auf den Status quo zu vertrauen, der Tag für Tag zu ihren Ungunsten wirkt.


Netanjahus Return

Ins Zentrum der Auseinandersetzung rückte dann Obamas Bemerkung: „Wir glauben, dass die Grenzen zwischen Israel und Palästina auf den Linien von 1967 beruhen und einige wechselseitig vereinbarte Verschiebungen einschließen sollten, so dass für beide Staaten sichere und anerkannte Grenzen gezogen werden.“

Die Abfuhr, die sich der Präsident dafür durch Netanjahu vor den beiden Häusern des amerikanischen Kongresses einfing, war überdeutlich. Israel werde nicht zu den Grenzen von 1967 zurückkehren, die nicht verteidigt werden könnten. Präsident Obama hatte schon zuvor darauf hingewiesen, dass die neuen Grenzen wegen der ausgehandelten Verschiebungen nicht mit der Linie von 1967 übereinstimmen würden. Es gebe hier keine Differenz in der Substanz. Die gäbe es freilich nur dann nicht, wenn sich die USA die Sicht Netanjahus zu Eigen machten.

Netanjahus Interpretation des Slogans „Land für Frieden“ beinhaltet nicht die Rückgabe von besetztem Land an die Palästinenser, sondern den Verzicht auf Teile angestammter jüdischer Heimat. Unter dem großen Beifall der beiden Häuser, betonte er, was die Zuhörer zu verstehen hätten: „In Judäa und Samaria sind die Juden keine fremden Besatzer.“ Er fuhr fort: „Wir sind nicht die Briten in Indien, wir sind nicht die Belgier im Kongo. Dies ist das Land unserer Vorfahren, das Land Israel, wohin Abraham die Idee eines Gottes brachte, wo David sich Goliath entgegen stellte und wo Jesaia die Vision des ewigen Friedens hatte. (…) Keine Geschichtsklitterung kann die 4000 Jahre alte Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem jüdischen Land leugnen.“ Da brandete erneut anhaltender Beifall der beiden Häuser auf.

Unter Berufung auf historisches Recht wird jede Verständigung mit den Palästinensern zu einem großmütigen und jedenfalls nicht einklagbaren israelischen Zugeständnis. In dieser Sichtweise muss jeder Kompromiss zudem die „dramatischen demographischen Veränderungen, die sich nach 1967 ereignet haben“, berücksichtigen. Der Hinweis auf die Demographie meint hier den ausgreifenden Siedlungsbau, nicht eine bei immer eingeschränkterem Bewegungsraum weiter wachsende palästinensische Bevölkerung.

Kein Friedensabkommen wird die Ergebnisse des Siedlungsbaus grundsätzlich negieren können. Das ergibt sich aus den Fakten. Wenn sie jedoch unter Berufung auf die viertausend Jahre alte Verbindung zwischen jüdischem Volk und jüdischem Land gerechtfertigt werden, wird jeder Friedensschluss unter den Vorbehalt dieses höheren historischen Rechts gestellt bleiben, also keinesfalls als dauerhaft gelten können.

Tosender Beifall als Kompensation eigener Schwäche

Die schwindende Macht der USA in der Region zeigte sich nicht zuletzt in der Unfähigkeit, einen Siedlungsstopp als unerlässliche Bedingung erfolgreicher israelisch-palästinischer Verhandlungen durchzusetzen. Der Beifall für die Rhetorik Netanjahus im amerikanischen Kongress scheint einem gefährlichen, aber durchsetzungswilligen Selbstbewusstsein zu gelten, von dem die USA nicht länger zehren können und große Teile ihrer Politiker dennoch weiter träumen. Leicht hat es Präsident Obama nicht.

Als oppositioneller israelischer Beobachter zeigte sich Avraham Burg befremdet durch ein Amerika, das politischer Sturheit applaudierte und blind war für die beleidigenden Gesten des Gastes. Die Araber hätten gesehen, „wie der Kongress jubelte, als Netanjahu Jerusalem für unteilbar erklärte, und besonders applaudierte, als er ausrief, der Friedensprozess sei tot“. (SZ 8.6.11) So kann äußerer Kontrollverlust in Verlust der Selbstkontrolle umschlagen. 

Joscha Schmierer

Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.