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Paschtunen in Pakistan: Warum der Krieg gegen den Terror verloren geht

Die Paschtunen stellen im Grenzgebiet von Pakistan zu Afghanistan die ethnische Mehrheit, doch die pakistanische Regierung kümmert sich nur wenig um ihre Belange. Im Kampf gegen den Terror fühlen sie sich als Kanonenfutter. 

„Selbstmordanschläge in den Siedlungsgebieten der Paschtunen produzieren nur Tote. Greift ihr hingegen Ziele in Islamabad an, bringt euch das euren Zielen näher.“ So der Tenor dessen, was ein paschtunischer Journalist vor fünf Jahren in einem Telefongespräch zu Qari Hussain sagte, einem gefürchteten Ausbilder von Selbstmordattentätern. Qari hatte den in Peschawar arbeitenden Journalisten vom angrenzenden Süd-Wasiristan aus angerufen, dem Zentrum des Terrorismus in Pakistan, um sich zu einem Terroranschlag in Peschawar, der Hauptstadt der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bekennen.

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Warum würde ein Journalist einem Terroristen vorschlagen, Ziele in der Hauptstadt seines Landes anzugreifen? Als Reaktion auf meinen verblüfften Gesichtsausdruck verteidigte der Journalist seine Position. „Die Militanten terrorisieren das gesamte paschtunische Siedlungsgebiet, aber die Mächtigen im Land schert das nicht,“ beklagte er. „Käme es hingegen zu ein paar Anschlägen im Landeszentrum, würde der Terrorismus zu einem nationalen Thema.“ Der zitierte Journalist, ein Freund, lebt nicht mehr, aber seine Worte sind mir noch sehr gegenwärtig. Ähnliche reaktionäre Ansichten, wie mein Freund sie äußerte, sind unter paschtunischen Nationalisten weit verbreitet, glauben sie doch, sie seien nichts als Kanonenfutter im US-geführten Krieg gegen den Terror.

Als die USA 2001 Afghanistan angriffen, floh ein bunter Haufen von Tausenden ausländischen Kämpfern über die Durand-Linie – die 2.640 Kilometer lange, durchlässige Grenze, die die paschtunischen Gebiete zwischen Afghanistan und Pakistan durchschneidet – und verteilte sich auf die sieben Bezirke der Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (FATA). Im Laufe der nächsten Jahre vernetzten sich die Neuankömmlinge mit örtlichen radikalen Gruppen von Paschtunen, und gemeinsam übernahmen sie die Kontrolle über die halbautonomen FATA-Gebiete. Seit dieser Zeit sind die paschtunischen Gebiete (die Paschtunen, die größte ethnische Gruppe Afghanistans, sind in Pakistan noch zahlreicher als im Nachbarland) zu dem wichtigsten Anwerbungsgebiet für Terroristen geworden, und haltlose Jugendliche aus ganz Pakistan strömen hier hin, um sich von örtlichen „Gotteskriegern“ im bewaffneten Kampf ausbilden zu lassen und dann jenseits der Grenze die „ungläubigen“ ausländischen Truppen in Afghanistan anzugreifen. Den Taliban ist es so gelungen, den Stammesgürtel Pakistans zum Ausbildungszentrum für Radikale zu machen.

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Zum Auftakt ihrer Terrorherrschaft zerschlugen die Militanten zuerst die politische und gesellschaftliche Ordnung in den bergigen Stammesgebieten und ermordeten gezielt über 8.000 gegen die Taliban eingestellte Anführer und sogenannte Stammesälteste. Im Jahr 2007 nahm die Gewalt in den FATA-Gebieten noch weiter zu. Die ersten Einheiten arbeitsloser Jugendlicher waren soweit ausgebildet, dass sie den Terror in die angrenzenden Gebiete von Pakhtunkhwa tragen und die afghanischen Taliban jenseits der Grenze unterstützen konnten. Die Terroristen hatten fünf Jahre Zeit, von den abgelegen Stammesländern aus alle paschtunischen Gebiete in Pakistan und Afghanistan zu erobern, während die Regierenden in Islamabad wegschauten.

Für die Eliten Pakistans war dieser Krieg ein Bastard, den ihnen die USA untergeschoben hatten. Erste militärische Aktionen gab es in den FATA-Gebieten zwar bereits 2002, Boden wurde dadurch jedoch kaum gewonnen. Immerhin aber kamen so ausländische Gelder ins Land, und der Druck, den die USA ausübten, ließ zumindest vorübergehend nach. Die Folge war, dass Paschtunen überwiegend den Eindruck gewannen, bei den Militäraktionen in den FATA-Gebieten ginge es weder darum, sie zu schützen, noch die Militanten entscheidend zu schlagen, sondern allein darum, der Welt zu zeigen, dass Pakistan etwas gegen Terroristen tut.

Ab Juni 2007 wurde der Krieg gegen den Terror für Pakistan aber zu einer Frage des Überlebens, nachdem ein kleinerer Aufstand in der Koranschule der Roten Moschee (Lal Masjid) die Hauptstadt Islamabad lahm legte. Die Menschen in Pakistan konnten live im Fernsehen verfolgen, wie gewalttätige religiöse Extremisten öffentliches Eigentum beschädigten und mit Waffen in der Hand die Einführung des Scharia-Rechts forderten. Diese Ereignisse rüttelten die Menschen wach. Schließlich belagerte das Militär die Rote Moschee und beendete die seit 18 Monaten andauernden Studentenunruhen. Bewaffnete Studenten, die sich widersetzten, wurden beschossen, und bei der Erstürmung kamen an die hundert Besetzer in der Moschee ums Leben.  Als Reaktion griffen Radikale aus anderen Koranschulen sowie Dschihadisten den pakistanischen Staat an. Von El Kaida unterstütze Radikale innerhalb der Stammesgebiete hatten auf eine solche Gelegenheit nur gewartet.

Nachdem die Sicherheitskräfte insgesamt neun militärische Operationen starteten – allesamt auf vorwiegend paschtunischem Gebiet – wurde Pakistan zu einem Schlachtfeld. Der Versuch der Staatsmacht, Gewalt mit Gegengewalt zu beenden, führte so zu noch mehr Gewalt. Eines allerdings machte diese tragische Episode klar, religiöser Extremismus war keine Eigenheit der paschtunischen Kultur (wie man zuvor in Pakistan geglaubt hatte). Vielmehr hatte die jahrelange offizielle Duldung des Dschihadismus dazu geführt, dass religiöse Akademien und Gruppen von „Gotteskriegern“ sich ausbreiteten und es in Pakistan wie Afghanistan zu einer umfassenden Radikalisierung kam.

Der Einsatz gegen die Rote Moschee beschwichtigte fortschrittlich gesinnte Paschtunen, die lange schon gefordert hatten, hart gegen die Radikalen im Land vorzugehen. Während des dreißig Jahre andauernden Krieges in Afghanistan und durch die Unterstützung, die die Mudschaheddin von CIA und ISI erhielten, gelang es zwar die Sowjetunion zu besiegen, aber viele Paschtunen kostete das ihr Land und ihre Jugend. Aufgrund der geografischen Nähe dienten die paschtunischen Gebiete Pakistans während des von 1979 bis 1989 dauernden Krieges als Basislager für Angriffe auf sowjetische Truppen. Als nach 2001 El Kaida-Kader in die Stammesgebiete kamen, fürchteten paschtunische Nationalisten und Stammesälteste, das Gespenst des Krieges könne zurückkehren. Hinzu kam dass die Taliban eine sehr strenge Auslegung des Islams vertreten, die sich mit der paschtunischen Kultur nicht verträgt. Aus diesen Gründen wehrten sich in den ausgedehnten Stammesgebieten national und fortschrittlich gesonnene Paschtunen gegen die Taliban und El Kaida. Sie mussten jedoch viel durchmachen, bevor Anfang 2009 Sicherheitskräfte die Taliban im Swat-Tal entscheidend schlugen.

Anfangs hatte der örtliche Geistliche Maulana Fazlullah, der einem stammesbasierten, mit El Kaida verbundenem Netzwerk angehört, mit einigem Erfolg das malerische Tal mit Hilfe seines UKW-Senders radikalisiert. Nach drei Jahren intensiv geführter Kämpfe wurde die Herrschaft der Radikalen dann im Oktober 2007 durch eine Militäroperation beendet. Seither wird der Kampf gegen die radikalen Taliban speziell in den paschtunischen Siedlungsgebieten, aber auch im Rest des Landes geführt. Im letzten Jahrzehnt sind bei diesem Kampf 38.000 Zivilisten und dreitausend Angehörige der Sicherheitskräfte ums Leben gekommen; der Anteil der Paschtunen an den Toten lag bei etwa 70 Prozent. Pakistan war schließlich dazu gezwungen, die Zahl seiner Truppen entlang der westlichen Grenze zu Afghanistan auf 150.000 zu erhöhen. Der Krieg gegen die Militanten ist aber noch lange nicht vorbei.

Warum haben die Entscheidungsträger in Pakistan so lange dabei zugesehen, wie Zivilisten getötet und das Land an den Rande des Abgrunds gebracht wurde? Es gibt dazu unterschiedliche Erklärungen, nicht zuletzt auch Verschwörungstheorien. Einig sind sich die meisten Fachleute, dass ein wesentlicher Grund die einseitige Ausrichtung von Pakistans Sicherheitspolitik auf Indien ist. An der Westgrenze des Landes zu Afghanistan gab es hingegen vergleichsweise wenige Ressourcen, und Maßnahmen wurden kaum aufeinander abgestimmt.  

Im Jahr 2009 gaben zwei pakistanische Generäle der Presseagentur AP gegenüber an, dass von den 6,6 Milliarden US-Dollar, die das Land in den vergangenen sechs Jahren an amerikanischer Militärhilfe im Rahmen des Kampfs gegen den Terror erhalten hatte, nur 500 Millionen auch für diesen Zweck ausgegeben wurden. Der andere Teil floss in Pakistans „Verteidigung gegen Indien“. Die Unterstützung von Dschihadisten ist ein Teil dieser Politik. Sicherheitskreise in Pakistan haben lange Zeit radikale nicht-staatliche Kräfte dazu benutzt, außenpolitische Ziele – vor allem im Hinblick auf Indien – zu erreichen. Entsprechend betrachtet das pakistanische Militär solche radikalen Elemente als strategisches Plus.

Paschtunische Nationalisten jedoch haben eine andere Erklärung. Für sie ist das Problem die ungleiche Machtverteilung auf bundesstaatlicher Ebene, die dazu führt, dass sie an der Spitze des Staates nichts zu sagen haben. Riffat Orakzai, BBC-Korrespondent in Peschawar, erklärt es so: „Die von den Pandschabis beherrschten Sicherheitskräfte glauben, die Paschtunen lebten entlang einer geostrategischen Verwerfungslinie. Die Politik der herrschenden Eliten ist ganz auf Fragen der Sicherheit gerichtet und hat sie die Sorgen und Anliegen der Stammesangehörigen vergessen lassen.“ Eben das ist einer der Hauptgründe für die Wut vieler Paschtunen.

Woran auch immer Fachleute den Zorn der Paschtunen und der Menschen in Pakhtunkhwa festmachen, die Tatsache, dass über die Interessen der Paschtunen bislang weitgehend hinweggegangen wurde, hat für allgemeine Verwirrung und eine verzerrte Wahrnehmung geführt. Ein Beobachter drückte es so aus: „Was das Zentrum von der Peripherie will ist das Gegenteil dessen, was die Peripherie vom Zentrum erwartet.“ Vereinfacht ausgedrückt, tun die Entscheider in Islamabad in der Regel nichts und lassen der  allgemeinen Verwirrung einfach ihren Lauf, während die Menschen in den Krisengebieten glauben, in dem Chaos ein System zu erkennen. Allerdings ist der pakistanische Staat und sind Pakistanis heute deutlicher gegen die Taliban eingestellt, als noch vor vier Jahren. 

Die Sicherheitskräfte müssen aber auf eine ganze Reihe von Fragen, die von öffentlichem Interesse sind, endlich eingehen. In den vergangen sechs Jahren kam es mit Einwilligung der pakistanischen Regierung zu über 300 Drohnenangriffen in den FATA-Gebieten. Die Einzelheiten des entsprechenden Abkommens gelten jedoch als Staatsgeheimnis. Zur Verwirrung trägt weiter bei, dass jeder Versuch, hier Licht ins Dunkel zu bringen, umgehend sabotiert wird. Die Politik schiebt den Sicherheitskräften die Verantwortung zu – und diese ihrerseits der Politik. Die Folge ist, dass Tausende Paschtunen mit einer beständigen Todesdrohung über ihren Köpfen leben. „Unsere Kinder können wir nicht aus dem Haus lassen, da wir rund um die Uhr von 15 bis 20 Drohnen überwacht werden,“ so Nasir Dawar, ein vertriebener Bewohner Nord-Wasiristans. Die USA und Pakistan halten solche Angriffe jedoch für unverzichtbar, um die Führung von El Kaida und den Taliban, die sich in den FATA-Gebieten versteckt halten, auszuschalten. Aus eben diesem Grund werden auch keine Anstrengungen unternommen, zivile Opfer zu vermeiden oder deren Angehörige wenigstens so gut wie möglich zu entschädigen.

Ausgehend davon, wie sich die Zahl der Terroranschläge in den paschtunischen Gebieten entwickelt, muss man davon ausgehen, dass die Taliban immer stärker werden. Willkürliche Drohnen- und andere Luftangriffe gelten den Alliierten hier als ausreichendes Mittel – was aber nicht stimmt. Die Taliban werden stärker, da im Kampf gegen den Terrorismus viele Fehler gemacht werden und es an Abstimmung mangelt. Die Taliban macht das nur noch kühner. Wichtiger aber noch ist, dass derartige Schwächen die Kluft zwischen der Sicht der Herrschenden und der Beherrschten weiter vertieft. Paschtunische Zivilisten in den Krisengebieten glauben nicht, die Sicherheitskräfte seien gewillt ihre Gegner entscheidend zu schlagen. Die Politik ihrerseits hat nichts dafür getan, die Zivilisten ins Bild zu setzen. Wie aber soll Pakistan den Krieg gegen den Terrorismus gewinnen, wenn der Großteil seiner Bevölkerung sich auf der Verliererseite sieht?