Die Tageszeitung Haaretz bezeichnet in ihrem Leitartikel die neue Koalitionsregierung als „dysfunktional“, zerrissen zwischen den gleich starken Vertretern des israelischen Mittelstandes (Yair Lapid mit seiner Zukunftspartei Yesh Atid) und der Siedlerbewegung (Naftali Bennett und sein Jüdisches Haus Habayit Hayehudi) und geführt von einem geschwächten Premierminister. Zahava Gal-On, die Vorsitzende der linken Meretz-Partei, in ihrer Antwort auf Netanjahus Antrittsrede in der Knesset, sieht sie dominiert von den Rechten.
Die großen Gewinner seien die Siedler und es sei zu erwarten, dass die wirtschaftlichen Entscheidungen und der Siedlungsbau jenseits der Grünen Grenze weiter gefördert würden. Doch nicht nur die Linke kündet der neuen Regierung den inneren Frieden auf. Die Abgeordneten der ultra-orthodoxen United Torah Judaism (UTJ) verließen während Netanyahus Regierungsrede demonstrativ den Saal. Bereits während der Koalitionsverhandlungen war ein Kulturkampf entbrannt.
Diese „Regierung des Bösen“, wie das Sprachrohr der Ultraorthodoxen Yated Ne’eman („loyal“) titelte, sei bereit, das religiöse Erziehungssystem, die heiligen Dinge Israels und alles, was dem Judentum heilig sei, in Frage zu stellen. Es geht einmal um die Abschaffung des sogenannten Tal Law, das bisher die Befreiung der Ultraorthodoxen vom Militärdienst regelte, die soziale Privilegierung der Ultraorthodoxen und um die Subventionierung und inhaltliche Ausrichtung des religiösen Erziehungssystems.
Entsprechend reagieren die Religiösen: so äußerte einer der wichtigsten spirituellen Autoritäten Rabbi Aharon Leib Shteinman, dass die Haredim nun Verfolgungen ausgesetzt seien und dass es für einen Haredi, einem strenggläubigen Vertreter des Judentums, unmöglich sei, seine Identität in der Armee aufrecht zu erhalten.
Wie sehen die Vorschläge aus, die zurzeit auf dem Tisch liegen?
Einig sind sich die beiden Parteien, dass sie einen allgemeinen Wehrdienst haben wollen. Umstritten ist die Zahl der weiterhin vom Wehrdienst befreiten Religiösen, die als besonders gelehrt gelten: Lapid setzte die Grenze bei 400 Männern fest, geeinigt hat man sich auf 1.800. Glaubt man den in den letzten Tagen getroffenen Abkommen zwischen den Koalitionären, so wird es in dieser Regierung zu einem historischen Durchbruch kommen und das Tal Law wird abgeschafft. Zugleich soll es Erleichterungen geben, um die ultraorthodoxen Männer in die Arbeitswelt zu integrieren.
Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Vorhaben jetzt durchgesetzt werden, hat sich durch die neue Regierung deutlich erhöht, allerdings sehen Kommentatoren das Hauptproblem in der Durchsetzung und der Implementierung des Gesetzes. Yesh Atid und allen voran sein Vorsitzender Lapid hat wenig Erfahrung in den Finessen der parlamentarischen Arbeit.
Der zweite Bereich, in dem sich die Veränderungen abzeichnen, ist das Erziehungssystem. Ein Blick in die Koalitionsverhandlungen zeigt, dass zwar eines der zentralen Anliegen von Habayit Hayehudi, die Unterstützung des religiösen Zionismus nun festgeschrieben wird: die finanziellen Zuwendungen für die privaten religiös-zionistischen Schulen werden erhöht, u.a. durch die Vergabe von Stipendien. Lapid wiederum konnte durchsetzen, dass ausländische Studenten in den religiösen Schulen nicht weiter vom Staat gefördert werden.
Diese Vereinbarungen sind im Umkehrschluss der Beweis für das dichte Subventionsnetz, das jede Partei entsprechend ihrer jeweiligen Klientel durchzusetzen versucht. Das Entsetzen, das die Ultraorthodoxen nun erfasst, begründet sich u.a. auch in der Erwartung aus längerfristig keinen Einfluss mehr auf diese Verteilungspolitik zu haben. Hinzu kommt, dass neue Vorgaben für das Erziehungssystem formuliert werden: für alle Schulsysteme verbindliche Curricula, die Grundanforderungen an die Schulausbildung stellen.
Die Vertreter der religiösen Schulen werten diese Erweiterung der Schulausbildung mit Elementen moderner Wissensvermittlung als eine Kriegserklärung: Und erkennen darin nicht nur eine Intervention ihrer bisherigen Erziehungsfreiheit, sondern auch den Zweck, dass dadurch die ultraorthodoxen Mitglieder ihrer „yeshivot“ (religiösen Gemeinschaften) auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen, ein weiteres Vorhaben der neuen Regierung, um die Lasten in der Gesellschaft gleichmäßiger zu verteilen.
Die Erwartung, dass diese Regierung instabil ist, beruht auch auf der Tatsache, dass die beiden neuen Parteien, Yesh Atid und Habayit Yehudi, von sehr unterschiedlichen Interessen geleitet werden: Lapid gilt als der Vertreter des städtischen säkularen Mittelstandes, der sich um seinen Lebensstandard sorgt und dessen Gleichheitsvorstellungen sich vor allem gegen die Subventionierungen der Ultraorthodoxen richten.
Bennett, der selbst in einer Siedlung in der Westbank lebt, hingegen steht für einen rechten Zionismus, der sich in der Siedlerbewegung manifestiert. Die Ernennung weiterer Minister, die für die Interessen der Siedler stehen, treibt die Israelische Linke um. Als besonders beunruhigend wird gewertet, dass das Bauministerium mit Uri Ariel, einem Siedler, besetzt wurde. Was die Situation aus dieser Perspektive weiter verschärft, ist die Tatsache, dass auch die Fraktion des Likud durch Vertreter der Siedler dominiert wird.
Gilt Bennett bisher als Gewinner der Wahl, wird es von dem Geschick und der Belastbarkeit von Yair Lapid abhängen, ob dies so bleibt. Und wie lange die Koalition hält. Lapid der Jüngere, der das öfteren mit seinem Vater Tommy Lapid verglichen wird, sollte sich in diesem Fall besser beweisen. Auch sein Vater war mit seiner Shinui-Partei in einer Koalition, die ein säkulares Programm durchsetzen wollte. Er hat weder den Einfluss noch die Privilegien der Ultraorthodoxen beschränken können noch hat er die nächste Wahl überstanden.
Auch jetzt ist nicht zu erwarten, dass dieser Kulturkampf eindeutig entschieden werden wird. Zu sehr beanspruchen die Religiösen das Judentum zu repräsentieren, die Grundlage der Existenz des Staates, dessen Grundaussagen sich auch der säkulare Lapid verbunden fühlt. Inwieweit die Privilegien, die den Religiösen seit den Gründerjahren des Staates zuerkannt wurden, überhaupt in Frage gestellt werden, ist abzuwarten und hängt nicht zuletzt von dem parlamentarischen Geschick Lapids ab und der Durchsetzungskraft der jeweiligen divergierenden Interessen innerhalb der israelischen Gesellschaft.