Es ist wieder passiert, gleich mehrfach. Im November log Wladimir Putin Angela Merkel im Kreml ins Gesicht, Pussy Riot sei an „antisemitischen Aktionen“ beteiligt. Schon damals stellten sich viele die Frage, ob Putin nun schlecht informiert war oder bewusst (und unverschämt) gelogen hat. Und nun im ARD-Interview schon wieder. Gleich ein paar Mal:
- Insgesamt 654 russische NGOs hätten allein in den vergangenen vier Monaten knapp eine Milliarde US-Dollar aus dem Ausland erhalten;
- die „NGO-Prüfungen“ seien etwas ganz Normales, sozusagen Alltägliches und verliefen streng nach Recht und Gesetz;
- das sogenannte NGO-Agentengesetz diene ausschließlich der Transparenz, die vorher nicht gewährleistet gewesen sei;
- die USA hätten das gleiche Gesetz mit dem FARA Act von 1938.
Man könnte die Liste fortsetzen, aber es geht mir hier nicht um Vollständigkeit. Ich möchte weiter unten anhand zweier Beispiele zeigen (der Milliarde und der angeblichen bisherigen Intransparenz), dass Putin die Unwahrheit sagt. Doch zuerst zur Frage: Lüge oder Lapsus?
Lüge oder Lapsus?
Mit Sicherheit lässt sich diese Frage wohl nicht beantworten. Zumindest früher war Putin ein Faktenfreak, der seine Gesprächspartner öfter auch mit gutem Detailwissen an die Wand spielte. Das ist in letzter Zeit, besser gesagt seit er erneut Präsident ist, schlechter geworden. Mag sein, dass die Zeit zu guter Vorbereitung nicht mehr reicht. Vielleicht ist auch ein gewisser Hochmut hinzugekommen. Auch ein großer Teil der engen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nicht mehr der gleiche wie früher. Es gibt eine ganze Reihe von Äußerungen, Putin sei auch deshalb schlechter beraten als früher, weil es nur noch Ja-Sager in seiner engen Umgebung gebe. Der ehemalige Kremlberater Gleb Pawlowskij drückte das auf seiner Facebookseite einmal so aus: Niemand sei im Kreml mehr in der Lage (oder niemand wage es mehr), Putin zur Seite zu nehmen und zu sagen „Wolodja, das solltest Du lieber nicht machen!“ Das ist die eine Seite.
Die andere ist weniger spekulativ. Schon lange handelt der Kreml propagandistisch nach dem Motto: „Irgendetwas wird schon hängen bleiben!“ Das ist auch die Hauptaufgabe des „NGO-Agentengesetzes“. Die Wirkung dieses Propagandatricks lässt sich sogar in Umfragen ablesen. Die Zahl der Menschen in Russland, die bei NGOs an „Feinde“, „Spione“ oder ähnlich unangenehme Dinge denken, hat sich seit dem vergangenen Sommer verdoppelt. Ähnlich dürfte die Überlegung bei der Pussy-Riot-Antisemitismus-Äußerung vom Herbst gewesen sein. Und nun wieder bei der angeblichen Milliarde US-Dollar aus dem Ausland für NGOs. „Eine Milliarde“ klingt griffig, unheimlich viel und bleibt leicht im Gedächtnis.
Die NGOs werden nun überall erklären (müssen), dass das nicht stimmt. Das werden sie nur im Internet oder in kleinen oppositionellen Zeitungen machen können. Die Putinsche Milliarde ging aber zur besten Sendezeit über alle großen Fernsehsender - die ARD eingeschlossen. Mit der Behauptung der Intransparenz der NGO-Finanzierung in Russland funktioniert es genau so.
Zahlen fernab der Realität
Natürlich ist die von Putin genannte Summe absurd hoch. Die russischen NGOs wären hocherfreut, ja sie würden geradezu jubilieren, hätten sie auch nur einen Bruchteil dieser riesigen Summe Geld zur Verfügung. Putin behauptet, 654 russische NGOs hätten binnen der vergangenen vier Monate knapp eine Milliarde US-Dollar (31,6 Milliarden Rubel) aus dem Ausland erhalten. Und zwar legal über Konten. Das wären auf das Jahr gerechnet drei Milliarden Dollar, also pro NGO im Schnitt knapp 4,6 Millionen Dollar. Im Jahr! Für jede! Allein das ist schon fantastisch. Übrigens sagt Putin nichts darüber, in welchen Themenbereichen diese NGOs arbeiten. Viel Geld stammt von UN-Organisationen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Soziales, Flüchtlinge, welches aber meist zusammen mit regierungsnahen Organisationen ausgegeben wird.
Schauen wir uns nun aber als erstes nur die NGOs an, die soweit ich das verstehe unter die Putinsche Kategorie „mischen sich in Innenpolitik ein“ fallen könnten. Ich nehme als Beispiel Memorial, weil die Heinrich-Böll-Stiftung Memorial seit vielen Jahren unterstützt, wir alljährlich dort eine Wirtschaftsprüfung vornehmen lassen und uns mit den Memorial-Finanzen entsprechend gut auskennen. Das Jahresbudget von Memorial in Moskau (mit Ausnahme des Menschenrechtszentrums, das ein eigenes Budget hat) betrug 2009 eine knappe Million Dollar. Das ist im Übrigen auch im Memorial-Bericht an das Justizministerium nachzulesen. Dieses Budget stammt aber eben aus dem Jahr 2009, d.h. bevor sich die Ford Foundation, der größte private Geldgeber für NGOs - und damit auch für Memorial -, im Zuge der Finanzkrise aus Russland zurückzog, und auch bevor USAID ihre Arbeit in Russland einstellte. Es war auch vor dem Rauswurf von USAID im vergangenen Herbst.
Nun mag es vielleicht noch eine Handvoll, maximal aber ein Dutzend NGOs in Russland geben, die mehr Geld bekommen als Memorial. Die große Masse muss mit weit weniger Geld auskommen. Die meisten unserer Partnerorganisationen (die unter Putins 654 NGOs sein müssen, weil sie offen und legal von der Heinrich-Böll-Stiftung und damit ausländisches Geld bekommen) haben Budgets von meist weit unter 100.000 Dollar im Jahr.
Die Geberseite schrumpft
Schauen wir uns nun einmal die Geberseite an: Die Behörde USAID, die seit vergangenem Herbst nicht mehr in Russland tätig ist und somit auch nicht in Putins Rechnung auftaucht, hatte zuletzt ein Russlandbudget von rund 70 Millionen Dollar. Der größte Teil davon war technische Hilfe, die ganz unterschiedlichen russischen Regierungsagenturen, manchmal auch direkt Ministerien zu Gute kam. Dies alles auf der Basis eines im vergangenen Herbst von russischer Seite nicht mehr verlängerten Regierungsabkommens. NGOs aus ganz unterschiedlichen Sektoren von Menschenrechten bis Soziales bekamen zusammen weniger als ein Fünftel des USAID-Geldes. USAID war bei weitem die größte einzelne ausländische NGO-Finanzierungsquelle. Die EU gibt zum Beispiel jährlich rund fünf Millionen Euro für NGOs über zwei Programme. Einzelne EU-Länder, darunter die Niederlande und Schweden, haben ebenfalls, allerdings schrumpfende Programme. Die früher sehr aktive Schweiz hat sich schon vor Jahren fast völlig zurück gezogen. Auch Kanada gibt kaum mehr Geld. Es verbleibt noch CAF aus Großbritannien, die aber vor allem “Charity Aid” machen, sowie das französische Kulturinstitut, das eher dem Goethe-Institut ähnelt, der British Council und eben das Goethe-Institut.
Ähnlich sieht es mit privaten US-Stiftungen aus: Die Ford Foundation zog sich 2011 zurück. So verbleiben noch als größere Stiftungen Soros, McArthur, Mott und die kanadische Oak-Foundation. Das Carnegie Center und ähnliche Institutionen, auch wenn sie vor allem als Think Tanks arbeiten, müssen auch gezählt werden. Hinzukommen einige europäische Stiftungen, wie z.B. der schwedischen Sigrid-Rausing-Trust mit Sitz in London, die Bosch-Stiftung und die Bertelsmann-Stiftung. All sie halten sich von Menschenrechten und ähnlich politisch heiklen Themen eher fern, engagieren sich in Jugendarbeit, in der Bildung, in Begegnungen und ähnlichem. All das zusammen mag sich vielleicht, sehr großzügig geschätzt, auf 50 Millionen Dollar im Jahr summieren, sicher nicht mehr.
Bleiben die vergleichsweise niedrigen Summen der deutschen politischen Stiftungen: Böll, Ebert, Adenauer, Naumann, Luxemburg und Seidel. Sie kommen zu sechst zusammen in Russland auf ein von mir geschätztes Budgetvolumen von maximal fünf Millionen Euro, von dem aber wieder nur ein kleiner Teil letztlich NGOs zu Gute kommt.
Habe ich was vergessen? Vielleicht die Chinesen? Aber das ist dann doch eine ganz andere Baustelle.
Vorwurf der illegalen NGO-Finanzierung
Wie ich auch immer zähle, ich komme nicht einmal in die Nähe dieser fantastischen Milliarde. Jedenfalls nicht durch offene und legale Quellen, von den Putin ausdrücklich gesprochen hat. Die kremlnahe Nachrichtenagentur Interfax berichtet heute von illegaler NGO-Finanzierung. Tranchen von 10 bis 15 Millionen Dollar sollen, so sagen es angeblich die Geheimdienste, bar (in Koffern?) über die Grenze gebracht werden. Wenn dem so wäre, wäre dies ohnehin illegal, und damit also Sache eben dieser Geheimdienste und anderer „Rechtsschutzorgane“ und hätte nichts, aber auch gar nichts mit dem „NGO-Agentengesetz“ zu tun.
Für die NGOs und darunter auch die Heinrich-Böll-Stiftung wird wohl nichts bleiben, als von Putin die Veröffentlichung seiner Liste der 654 NGOs zu fordern und selbst die eigenen Finanzen noch einmal zusammenfassend zu veröffentlichen.
Die seit Wochen ausschwärmenden Staatsanwälte berufen sich bei ihren „Prüfungen“ auf das NGO-Gesetz von 2006 und nicht auf das „NGO-Agentengesetz“. In diesem schon recht repressiven Gesetz von 2006 steht alles schon drin. Alle NGOs müssen jährlich dem Justizministerium einen Finanz- und einen Sachbericht schicken. Dort müssen und werden aus dem Ausland stammende Zuwendungen extra ausgewiesen. Diese Berichte werden auf der Website des Justizministeriums veröffentlicht.
Das Justizministerium führt jährlich Dutzende Prüfungen bei den NGOs durch. Bei Memorial so zum Beispiel zuletzt im Januar diesen Jahres, bei Transparency International im Februar, bei der Ökologischen Baikalwelle im vergangenen Herbst. Alle Prüfungen endeten mit mehr oder weniger grundlegenden Beanstandungen durch die Prüfenden. In keinem einzigen Fall betrafen diese Beanstandungen die Frage der Transparenz ausländischer Zuwendungen. Auch deshalb wohl wollte das Justizministerium bisher nicht so recht an das „NGO-Agentengesetz“ heran und musste nun von der mächtigeren Staatsanwaltschaft zum Jagen getragen werden.
Jens Siegert ist Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Dieser Beitrag erschein zuerst auf dem Russlandblog.