Frau Unmüßig, schon seit Jahrzehnten gibt es Debatten rund um die Endlichkeit unserer Ressourcen bzw. rund um das Thema wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit. Trotzdem scheinen wir diesbezüglich keine Fortschritte gemacht zu haben. Im Gegenteil: Häufig erhält man den Eindruck, dass wir in unserem Streben nach Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in theoretischen Konzepten stecken geblieben sind. Täuscht dieser Eindruck?
Nein, der Eindruck täuscht nicht. Bereits in den 1960er- bzw. 1970er-Jahren fand eine kritische Reflexion über die Endlichkeit von Ressourcen statt. Der Bericht des CLUB OF ROME, dessen Prognosen sich jedoch nicht alle bewahrheitet haben, war nur eines von vielen Beispielen dieses Diskurses. Damals haben Wissenschaftler und Akteure der Zivilgesellschaft begonnen, Alarm zu schlagen. Einige wenige Ökonomen haben auch begonnen, sich mit alternativen ökonomischen Modellen zu befassen. Der Umweltschutz und das Umweltbewusstsein insgesamt haben einen großen Schub erfahren und spätestens mit der Ausdünnung der Ozonschicht und dem Klimawandel begriff man, dass die Umweltfolgen unserer Wirtschaftsweise global sind. Die Rio-Konferenz 1992 stand für den Versuch, das Klima und die biologische Vielfalt über globale Abkommen zu schützen. Die Tragik dabei: Es wurde viel zu wenig Augenmerk darauf gelegt, wie wir mit einem geringeren Ressourcenverbrauch Wege aus der globalen Armut finden können, auch wenn es diesbezüglich natürlich entsprechende verbale Forderungen gab. Tatsache ist aber: Die Entwicklung der Schwellen- und Entwicklungsländer basiert nach wie vor auf fossilen Rohstoffen wie Kohle, Gas und Erdöl – und das, obwohl es die eigentliche Intention von Rio war, eine Entwicklung entkoppelt von fossiler Energie zu betrachten. Schon damals hätte es auch in den Schwellenländern viel größere Innovationsschübe für erneuerbare Energien geben können, wenn der Norden durch eine entsprechende Technologieunterstützung zur Seite gestanden hätte.
Und trotzdem muss man sagen: Es hat ein Wachstum stattgefunden, das vielen Ländern aus ihrer Armut geholfen hat.
Ja. Es ist unbestritten, dass wir es insgesamt mit einer Verdoppelung des Weltbruttosozialprodukts zu tun haben. Über den sogenannten „Trickle-down-Effect“ sind auch viele Menschen aus der Armut herausgekommen. Aber ein BSP-Wachstum sagt nichts über die Verteilungsgerechtigkeit aus. Vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer gehören zu jenen Ländern mit den größten sozialen Unterschieden innerhalb der Bevölkerung.
Trotz der weltweiten BSP-Erhöhung muss man sagen: Dieses Wachstum ist nicht zukunftsfähig! Das chinesische Entwicklungsmodell stößt an massive ökologische Grenzen: Luft- und Gewässerverschmutzung nehmen Dimensionen an, die man definitiv nicht mehr hinnehmen kann. Überall auf der Welt ist klar, dass unser Wirtschaftswachstum mit ökologischen Schäden verbunden ist, die auch in die BSP-Berechnungen mit einbezogen werden müssten. Wir wissen längst, dass wir von der Substanz – und nicht für die Zukunft – leben. Der menschliche ökologische Fußabdruck liegt mit über 44 Prozent weit über den Kapazitäten und Fähigkeiten des Planeten, sich zu erneuern und Emissionen zu absorbieren. Über diese Tatsache kann auch unser effizienztechnologischer Fortschritt nicht hinwegtäuschen. Denn dieser „Fortschritt“ wird von der quantitativen Ausdehnung unseres Ressourcenverbrauchs wieder aufgefressen.
Die große Denkaufgabe lautet also: Wie kann es gelingen, ein Leben in Würde, Wohlstand und Gerechtigkeit zu schaffen, ohne dass man dafür permanent die Wachstumsmaschine anwerfen muss?
Wenn wir noch einmal auf die Konferenz 1992 in Rio zu sprechen kommen: Sie sagten, der reiche Norden hätte über bestimmte Technologien und Investitionen einen anderen Ansatz forcieren müssen und dass es dazu aber nicht kam. Wo genau lagen die Schwierigkeiten?
Rio war eigentlich auf Konvergenz ausgerichtet. Die Idee war: Der Norden ändert seinen Lebens- und Produktionsstil und entwickelt ein neues Leitbild, indem wir weniger globale Ressourcen nutzen, indem wir unseren Energieverbrauch verringern und indem wir weniger biologische Vielfalt zerstören. Das wäre das Versprechen des Nordens gewesen. Leider wurde dieses Versprechen gebrochen und das macht es heute dem „Süden“ umso leichter zu sagen: „Jetzt sind WIR dran.“ Diese Argumentationsfigur prägt und blockiert heute die multilateralen Verhandlungen.
Seit Rio 1992 ist sehr viel Zeit vergangen. Mit Rio+20 hat man zwanzig Jahre später die Idee auch wieder aufgegriffen. Trotzdem sind die Erfolge bescheiden. Woran liegt das?
Wenn wir eine Antwort auf diese Frage finden möchten, dann müssen wir über unsere kapitalistische Produktionsweise sprechen, bei der die Notwendigkeit von Wachstum inhärent ist: Man muss Rendite erwirtschaften, um Investitionen zu refinanzieren und um neue Produkte zu erfinden. Lebende Beispiele für diese Produktionsweise sind für mich die großen Energie-, Pharma-, Nahrungsmittel- und Unterhaltungskonzerne, die alle nichts anders tun, als einen stetigen Bedarf nach neuen Bedürfnissen und Ressourcen zu schüren und zu bedienen. Wir wissen, dass statt 60.000 Medikamenten 1.500 sichere, nützliche und zuverlässige Präparate ausreichen würden, um die Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten. Trotzdem wird mit Milliardensummen geforscht, obwohl dabei nur noch graduelle Fortschritte erzielt werden, mit dem Argument: „Wir brauchen Forschung, um innovativ zu bleiben!“
Da stimmt aus meiner Sicht die gesamte Logik schon lange nicht mehr. Es müsste längst um die Frage gehen: Wie viel brauchen wir? Dabei geht es mir nun aber nicht darum, Innovationen abzuwürgen! Es geht mir auch nicht darum, Bedürfnisse, die wir definitiv haben, nicht mehr zu bedienen und zu erfüllen! Ich wende mich auch nicht prinzipiell gegen Forschung und Innovation. Im Gegenteil! Aber es geht sehr wohl um die Frage: Was versteht man unter einem „Wirtschaften mit Maß“? Was ist das Ziel allen Wirtschaftens? Gewinn und Macht? Oder Wohlstand für Mensch und Natur?
Ich weiß natürlich um die politische Zwangslage. Wir müssen auf Gedeih und Verderb wachsen, sonst geht es uns wie den Griechen oder Spaniern. Fällt das Wachstum aus, werden Abermillionen arbeitslos. Und genau das sind die Themen, vor denen auch die Politik zurückschreckt: Sie setzt keine Rahmenbedingungen des Weniger. Sie setzt keine Grenzen. Warum tut sie das nicht? Weil die große Angst besteht, dass jede Grenzziehung, die in einer bestimmten Schärfe vollzogen wird, zu einer Destabilisierung in Form von politischen bzw. sozialen Unruhen führt. Und dann geht es natürlich auch um die Angst vor einem politischen Machtverlust. Das muss man ganz klar benennen.
Wie könnte nun eine Postwachstumsökonomie aussehen? Wie kann eine Entkopplung von Natur- bzw. Ressourcenverbrauch und Wachstum gelingen? Wie kann eine Entkopplung von Wachstum und Umverteilung erfolgen? Welchen Beitrag leistet hier die Heinrich-Böll-Stiftung?
Wir brauchen ein ökonomisches, soziales und kulturelles Umdenken. Deswegen nehmen wir als Heinrich-Böll-Stiftung die Aufgabe wahr, uns für eine soziale, kulturelle und ökologische Transformation einzusetzen. Der Begriff beschreibt einerseits sehr schön, dass wir in der Menschheitsgeschichte lange Phasen des gesellschaftlichen Wandels kennen – vom Mittelalter bis hin zur Renaissance. Andererseits macht dieser Begriff klar, dass es nicht um eine Art „Kosmetik“ geht, sondern um einen tiefgreifenden Wandel. Gleichzeitig haben wir angesichts des Klimawandels und Ressourcenschwunds aber auch keine Zeit für lange Anpassungsphasen und für „Transformationen“ im klassischen Sinn. Das heißt: Wir müssen schnell handeln. Und diesbezüglich gibt es zahlreiche neue Denkansätze, die wir unterstützen und die sich rund um diese Frage drehen: Wie sieht eine Ökonomie des „Genug“ aus?
Hier gibt es zahllose gesellschaftspolitische Experimente wie die „Global Transition Movements“, die „Commons-Bewegungen“ oder die Idee des „Buen Vivir“ . Bei all diesen Bewegungen geht es unter anderem darum, wie man Gemeinschaftsgüter schützen oder sich wieder aneignen kann. Einige Ökonomen beschäftigen sich schon lange mit theoretischen Ansätzen für ein ökologisches Wirtschaften. Sie suchen Antworten auf Fragen wie: Wie kann eine Steady-Ökonomie organisiert werden? Wie funktioniert eine echte Kreislaufwirtschaft, sodass Stoffe und wertvolle Ressourcen nicht mehr neu eingespeist werden müssen? Was können wir von der Natur selbst lernen? Es geht also um Recycling und vor allem um das Cradle-to-Cradle-Konzept : Die Idee „Von der Wiege in die Wiege“ grenzt sich in dieser Form vom industrie¬kapitalis¬tischen Gedanken des „Cradle to Grave“ – also „Von der Wiege ins Grab“ – ab.
Das sind nur einige wenige Beispiele. Wir als Heinrich-Böll-Stiftung unterstützen also Denkansätze, damit gesellschaftliche Innovationen bekannt und weiterentwickelt werden können. Es geht um die Frage: Welche politischen Rahmenbedingungen braucht es, damit diese Ansätze aus der Nische kommen können? Denn Innovationen – auch gesellschaftliche – wachsen häufig aus einer Nische heraus. Es braucht Pionierinnen und Pioniere! Es braucht Menschen, die nicht dem Mainstream entsprechen und Neues ausprobieren. Wir verstehen uns als Ort, wo gedacht, gesponnen und ausprobiert werden kann.
Wenn Sie von Transformation sprechen: Wie soll diese vonstattengehen? Ausgehend von unten – also aus der Bevölkerung? Denn schlussendlich geht es um die Konsumenten, die auf alternative Angebote reagieren und diese annehmen und kaufen müssen. Oder muss eine Transformation von oben durch eine entsprechende Gesetzgebung auferlegt werden?
Meiner Meinung nach ist eine Transformation nur dann möglich, wenn es diesbezüglich eine Konvergenz gibt. Einerseits muss es natürlich eine Nachfrage nach anderen Konzepten geben. Das Car-Sharing-Konzept zum Beispiel funktioniert nur, wenn es Menschen gibt, die sich sagen: „Ich möchte zwar auf mein individuelles Auto verzichten, nicht aber auf die Mobilität, die mir ein Auto bietet!“ Das bedeutet ein Umdenken des Individuums und setzt wiederum einen psychologisch-kulturellen Wandel voraus, sodass die Nachfrage gestärkt werden kann. Andererseits kann ein Entkommen aus dem unsinnigen und sozial unverträglichen Produzieren nur dann gelingen, wenn die Politik auch Grenzen und Rahmenbedingungen setzt. Für mich lautet der Dreiklang eines echten, nachhaltigen Wirtschaftens daher wie folgt:
Effizienz, Konsistenz, Suffizienz.
Nun ist es aber so, dass unser „unkontrolliertes“ Wachstum insbesondere auch durch Innovationen hervorgerufen wird; man denke nur an das iPhone und den damit ausgelösten Wachstumshype in der Kommunikationsbranche. Wie sehen Sie derartige Entwicklungen? Denn durch die Multifunktionalität, die mit diesen Technologien möglich ist, kommt es einerseits zu „Einsparungen“: Uhr, Kamera, Fotoapparat, Aufnahmegeräte, MP3-Player ... Das alles braucht man nicht mehr wirklich, denn wir haben es „all in one“. Andererseits gibt es bezüglich der Ressourcen und der Arbeitsbedingungen bei der Herstellung dieser Hightech-Produkte auch eine wachsende und berechtigte Kritik. Wie sehen Sie solche Innovationen?
Hier handelt es sich um eine Produktinnovation, die unser gesamtes Kommunikationsverhalten weltweit verändert hat – mit all den damit verbundenen Vorteilen. Gleichzeitig muss man aber auch sagen: In den Handys stecken unglaublich viele kostbare Metalle wie Tantal, Lithium und Gold – um nur einige zu nennen. Diese Produkte sind erfunden worden, ohne dass man sich den Kopf darüber zerbrochen hat, was mit all den knappen Ressourcen passiert: Sie landen innerhalb kürzester Zeit auf dem Schrotthaufen. Jetzt – 20 bis 30 Jahre nach der Erfindung der ersten Handys – fängt man langsam an, sich darüber bewusst zu werden, dass man die Abertausenden von Tonnen Gold, die in diesen Geräten stecken, wiederverwerten könnte, anstatt auf hohe ökologische und menschliche Kosten weiter Gold-Bergbau zu betreiben. Seltene Erden werden in China und in der Mongolei zu Arbeitsbedingungen aus der Erde geholt, die nichts mehr mit Menschenwürde und nachhaltigem Wirtschaften zu tun haben. Im Gegenteil: Es ist unverantwortlich!
Wenn man aber den Grundgedanken von Nachhaltigkeit ernst nimmt, dann würde das bedeuten, dass jede Firma in ihrem betriebswirtschaftlichen Kalkül den Nachweis erbringen muss, wie sie „von der Wiege hin zur Bahre“ mit ihren menschlichen und natürlichen Ressourcen umgeht. Natürlich gibt es diesbezüglich Vorreiterunternehmen, die versuchen effizient und sozial zu sein. Manche aus Überzeugung; andere aus einem betriebswirtschaftlichem Kalkül heraus, um Kosten durch die Einsparung von Energie und Ressourcen zu reduzieren. Und hier bin ich wieder bei der Politik angelangt: Man kann ökologische und soziale Verantwortung nicht alleine an die Unternehmen delegieren, sondern man muss politische Anreize schaffen, die zu einem Umsteuern beim Ressourcenverbrauch und beim Emissionsausstoß führen.
Das Konzept der planetarischen Grenzen, „The Planetary Boundaries“, vom Stockholm Resilience Centre verdeutlicht die Dringlichkeit: Es besagt, dass wir die planetarischen Grenzen in vielen Bereichen schon weit überschritten haben: beim Klimawandel, beim Wasser, bei den Böden. Insbesondere zu den Böden muss man sagen: Wir sind dabei, die Grundlage unserer Nahrungsproduktion zu zerstören, denn es gibt nur noch eine ganz dünne Humusschicht. Und zum Thema Klimawandel muss man sagen: Der Versuch, Grenzen bei den CO2-Emissionen zu ziehen, scheitert politisch komplett. Wir scheitern, weil die Politik den Interessen der großen Industrielobbys folgt. Deshalb wird im Moment auch auf „Teufel komm raus“ jede letzte fossile Reserve aus dieser Erdrinde herausgepresst.
Wir verfolgen zwar eine „Doppelstrategie“. Das heißt: Wir haben einerseits ein Wachstum der Erneuerbaren Energien, auch in den Schwellenländern, weil Länder wie China und Indien diesbezüglich die Nachfrage nach oben getrieben haben und chinesische und indische Firmen heute weltmarktkompetitiv sind und z. B. deutsche Solarfirmen aufgekauft haben. Wir haben aber andererseits ein neues Wachstum der Kohle, weil diese plötzlich so billig ist, dass das betriebswirtschaftliche Kalkül bzw. die Frage „Woher bekomme ich billige Kohle für meine Produktion?“ überwiegt. Und hier funktioniert nur eine Politik, die ganz klare Grenzen zieht und Kohle und andere fossile Energieträger verteuert: über einen echten und nicht verwässerten Emissionshandel, über CO2-Steuern und über politische Vorgaben, die da lauten müssen: Wir dürfen die Kohlenstoffintensität in der Atmosphäre nicht über 400 ppm (parts per million) überschreiten.
Was würde Ihrer Meinung nach passieren, wenn eine Region der Welt klare politische Vorgaben machen würde? Denn sobald etwas Derartiges auch nur angedacht wird, wird im nächsten Atemzug behauptet, dass man im internationalen Vergleich nicht mehr wettbewerbsfähig sei – mit der Konsequenz der „Androhung“ einer Verlagerung von Produktionsstätten. Wie sehen Sie diese Problematik?
Wirtschaft funktioniert – so wie wir sie kennen – entlang der komparativen Vorteile. Aber was genau ein komparativer Vorteil ist, muss viel differenzierter betrachtet werden. Hier fließen viele Faktoren ein. So einfach ist es nämlich nicht, zu sagen, man geht dorthin, wo die Arbeitskräfte und Ressourcen am billigsten sind. Das ist vor allem dann nicht der Fall, wenn es um Produkte geht, die ein hochqualifiziertes Know-how voraussetzen. Dass die Textilindustrie in China, Südostasien und Bangladesch angesiedelt ist, wo aufgrund der vereinfachten Produktionsabläufe billige Näherinnen eingestellt werden können, ist ein anderes Thema. Hochdiffizile technologische Produkte werden aber nach wie vor hier bei uns produziert, weil es dafür ein entsprechendes Know-how und gut ausgebildete Arbeitskräfte braucht. Und zur Infrastruktur gehört ja noch viel mehr, auch dass es z. B. sauberes Wasser gibt oder eine durchgängige Stromversorgung – und davon profitiert die Wirtschaft hier bei uns. Politische Stabilität ist ein anderer sehr wichtiger Standortfaktor. Es gibt also sehr viele „Zutaten“, die benötigt werden, damit es sich tatsächlich um einen komparativen Vorteil für eine Investition handelt.
Das heißt: Dieses „Erpresserargument“, woanders hinzugehen, führt für mich zu folgender Schlussfolgerung: Erstens: Genau hinschauen, ob die Argumente überhaupt stimmen. Zweitens: Wir brauchen globale Regeln, dann greift die Erpressung nicht mehr. Wir brauchen Rahmenbedingungen bzw. entsprechende soziale und ökologische Mindeststandards. Der Wettbewerbsvorteil „billige Produktionskosten“ muss dringend schrumpfen, damit sich solche Katastrophen wie in Bangladeschs Textilfabriken nicht wiederholen. Das „race to the bottom“ – dieser Wettbewerb, der mit dem Abbau von Standards wie Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards einhergeht, muss aufhören. Daher muss es im Rahmen einer Welthandelsorganisation, im Rahmen eines Klimaabkommens, im Rahmen von Menschenrechtsabkommen, universale gemeinschaftliche Standards geben, auf die sich die Menschheit in Form von Leitlinien fürs Wirtschaften einigt.
Daraus ergibt sich für mich auch der Rahmen meiner Arbeit – es geht um das Gleichgewicht dieses Dreiklangs: Natur, Gesellschaft, Wirtschaft.
Sehen Sie, dass inzwischen globale Standardentwicklungen erfolgen?
Die Hoffnung in den 1990er-Jahren und zum Teil auch noch in den Nuller-Jahren war, dass diese Standardsetzung multilateral erfolgt. Das sieht derzeit aber eher deprimierend aus. Wir haben nur Rückschläge erlitten. Die WTO ist noch sehr jung. Sie wurde 1994 erfunden und forcierte sehr stark die Liberalisierung der Märkte. Mein Motiv wäre ein anderes gewesen: Mir ginge es darum, ein Level Playing Field für alle globalen Player zu schaffen. Das heißt: Alle müssen sich an bestimmte Arbeitsstandards und an die Menschenrechte halten. Es muss Schutzrechte für bestimmte heimische Produzenten geben und für besonders vulnerable Bevölkerungen. Aber das Ziel der Standardsetzung ist nie erreicht worden. Es ist gescheitert entlang unterschiedlichster Interessenskoalitionen. Es gibt zwar zahlreiche bilaterale Abkommen und Zollabkommen. Die WTO jedoch dümpelt vor sich hin und bringt nichts mehr zustande. Dasselbe gilt für das UN-Klimaabkommen. Wir haben es aufgrund der globalen Machtverschiebungen noch mehr mit einem zerlöcherten und auch selektiven Multilateralismus zu tun, der dieser dringend benötigten Standardsetzung nicht nachkommt. Und das ist ein großes Problem. Denn das hat zur Folge, dass dann doch wieder jeder versucht, über bilaterale Handelsabkommen ein Schlupfloch zu finden, um daraus Vorteile zu erzielen!
Wir brauchen mehr Initiativen, die sich auch politisch engagieren!
Das klingt nicht sehr optimistisch, um nicht zu sagen: aussichtslos! Andererseits kann man aber genügend alternative Initiativen und Bewegungen entstehen sehen. Lässt das nicht hoffen?
Doch. Aber ich sehe hier ganz nüchtern, dass sich ein paar Dinge auch wiederholen: Wir hatten bereits in den 1970er-Jahren mit den ersten Ökologiebewegungen die Devise „Weniger ist mehr“. Das sind alles Bewegungen von unten, deren Akteure sich sagen: „Ich warte nicht mehr auf die große Politik. Ich beginne hier und heute mit Veränderungsprozessen: Ich lebe anders und verbrauche weniger. Das ist gut so – das ist absolut unterstützungswürdig! Aber ohne politische und ökonomische Strukturen, die das große Ganze verändern, werden diese Initiativen in ihren Nischen bleiben. Ich verstehe natürlich, dass die Menschen frustriert und politikverdrossen sind – häufig genug aus gutem Grund! Mit unserer Arbeit versuchen wir Brücken zu bauen: Brücken zwischen jenen, die heute anders leben, anders konsumieren und anders verbrauchen wollen ... und jenen, die in der politischen Gestaltung arbeiten wollen – für eine Wirtschaft mit Maß und Ziel bzw. für eine Gesellschaft ohne Wachstumswahn. Es braucht mehr aktive Beteiligung, die über den eigenen Tellerrand hinausgeht. Der schöne Satz von Adorno „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ bringt es für mich auf den Punkt: Man kann zwar für sich richtig im Falschen leben – wie all diese Menschen auch beweisen, die für sich stimmig leben. Aber es geht um die Frage: Wie kann ein Sprung erfolgen in das große Ganze? In das Leben! In die Gesellschaft! Und das für neun Milliarden Menschen! Das geht nur über entsprechende Strukturen und Rahmenbedingungen, die universal geschaffen werden müssen. Und dazu ist es notwendig, dass es auch Menschen gibt, die sich dafür politisch engagieren und einsetzen. Darum geht es uns auch mit der Heinrich-Böll-Stiftung.
Was genau ist der Knackpunkt? Sind es die Menschenrechte? Denn diese sind ja noch nicht überall durchgesetzt bzw. einklagbar.
Wenn die bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, die wir in den letzten 60 Jahren erarbeitet und kodifiziert haben, zumindest eineLeitlinie für wirtschaftliches Handeln wären, wäre schon sehr viel getan. Und wenn man zusätzlich die planetarischen Grenzen und die Errungenschaften dessen, was man als Demokratie bezeichnet, mit einbezieht: Partizipation, Mitsprache, demokratische Kontrolle, dann wären wir einen riesigen Schritt weiter.
All das, was wir weltweit an Menschenrechten und an sozialen Standards erstritten haben, ist über politische und soziale Kämpfe passiert. Und es geht meiner Meinung nach nicht ohne Kampf! Ich glaube nicht, dass Monopole und Oligopole – also große Machtstrukturen – Innovationen dieser Art hervorbringen, wie wir sie für einen sozialen, kulturellen und ökonomischen Wandel benötigen. Im Gegenteil: Das sind häufig die Verhinderer und Blockierer. Und deshalb bedeutet eine Auseinandersetzung mit einer sozialen und ökologischen Transformation immer auch eine Auseinandersetzung mit Machtstrukturen und mit der Frage: Wer kontrolliert uns? Hier bin ich nun wieder bei der Demokratiefrage: Wenn die großen Oligopole bzw. Monopole bestimmen, dass wir hybrides Saatgut kaufen müssen, oder weiterhin bestimmen, dass die Energiematrix hauptsächlich fossiler Natur ist, dann kommen wir nicht weiter. Dann MUSS man sich mit Machtfragen und Machtstrukturen auseinandersetzen. Das kann ich all diesen Commons- bzw. Transition-Bewegungen nicht abnehmen. Sie müssen sich in diese Machtdebatten hineinbegeben. Politik ist ja nichts anderes als die Auseinandersetzung mit Herrschaft und Macht – das war schon immer so und wird immer so sein! Das alles kann man nicht einfach auseinanderdividieren.
Und hier kommt der dritte Dreiklang, der für mich Gültigkeit hat, zum Einsatz:
Planetarische Grenzen, Menschenrechte, Demokratische Prinzipien.
Vielen Dank für das Gespräch!