LGBTI-Bewegung in Russland: Filmfestival der "nicht-traditionellen Lebensweisen"

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Überschattet von täglichen Bombendrohungen fand Ende November in St. Petersburg das schwullesbische "Side by Side"-Festival statt. Filmemacher Jochen Hick war vor Ort und berichtet von seinen Erlebnissen sowie der Stimmung in der russischen Community.

Am Flughafen empfängt mich Veronica. Sie ist eine der Gästebetreuerinnen des Festivals und spricht perfekt deutsch. Etwas Wichtiges hätte sie mir gleich zu Anfang mitzuteilen. Es gab zur Eröffnungsveranstaltung gerade eine Bombendrohung. Das Kino sei evakuiert worden. Ob ich erst ins Hotel wolle oder direkt dorthin? Nun dann direkt dorthin, denke ich, vielleicht bekomme ich dann doch noch etwas von der verzögerten Eröffnung mit.

Das Multiplex-Kino befindet sich in einem Shoppingcenter am Rande des Stadtzentrums. Polizeiautos versperren die Zufahrten. Wir parken auf dem Parkplatz des Supermarkts nebenan. Aufpassen müssten wir nun, meint meine Begleiterin, denn Homophobe und Neonazis seien auch vor Ort. Als wir im Kino ankommen, ist von den Gegendemonstranten nichts mehr zu sehen. Die Veranstaltung hat gerade mit eineinhalbstündiger Verzögerung im größten Saal begonnen. Manche Gäste sind nach Stunden des Wartens in der feuchten Kälte bereits nach Hause gegangen, aber viele sind geblieben. Die Zeit reicht nun nicht mehr, um alle Unterstützer_innen des Festivals auf die Bühne zu bitten: den Konsul der Niederlande, die Direktorin des Goethe-Instituts und viele mehr, alles mit Übersetzung ins Englische.

Der niederländische Eröffnungsfilm ist klug ausgewählt. "Matterhorn" hatte zuvor auf dem Moskau Film Festival die meisten Preise gewonnen - inklusive eines Publikumspreises, was angesichts der homophoben Stimmung im Land als kleine Sensation zu werten ist: Der Film, den man sowohl als perfekte Ironie, als auch als moralisches Lehrstück in Sachen Homosexualität und Gesellschaft lesen kann, handelt von zwei im Wesen gegensätzlichen Männern in der pietistischen Provinz. Nach dramatischen Einschnitten in ihren Leben und ihrer Ehefrauen verlustig geworden, entdecken sie die Vorzüge mann-männlich-häuslicher Gemeinschaft. Die Umgebung verteufelt sie als Sodom und Gomorrha. Einer der Männer bereut, seinen vermeintlich schwulen Sohn aus dem Haus gejagt zu haben, um ihn schließlich als inbrünstigen Travestiesänger auf der Bühne eines Nachtclubs im Stil der westeuropäischen Endsiebziger wiederzufinden.

Nach der Vorführung gibt es einen kleinen Empfang in der Kino-Bar mit dem Hinweis, dass die Polizei die Gäste nach etwa dreißig Minuten zur nächstgelegenen Metrostation geleiten werde. Pünktlich nach einer halben Stunde verlassen alle artig und gut gelaunt das Gebäude. Drei Polizeiautos mit Blaulicht fahren auf der Straße nebenher. Solche „feigen Bombendrohungen“ könne es theoretisch nun jeden Abend geben um das Festival kaputt zu machen, meint Veronica.

Das Festival wird massiv gestört

Um es kurz zu machen: Ihre Vorahnung bestätigt sich. An fünf Abenden des Festivals gibt es eine Bombendrohung mit nachfolgender Evakuierung. Das Programm kann nur verzögert, teilweise oder gar nicht gezeigt werden. Das Festival hat vier verschiedene Spielstätten organisiert, doch jeweils nach einer Bombendrohung kündigen zwei der Spielstätten die darauffolgenden Festivalvorführungen im Hause. Fast täglich müssen sich die Veranstalterinnen Gulya Sultanova und Manny de Guerre nach neuen Räumen umsehen. Ein Festivaltag fällt komplett aus, aber die Festivalmacher halten durch. Die Orte sind mehr oder weniger von Homophoben und Neonazis belagert.

An einem Tag schmuggelt sich ein homophober Politiker unter die Kinobesucher. Der britische Konsul hält eine Rede, in der er für Toleranz wirbt. Plötzlich ruft jemand, es seien Minderjährige im Kino. Zwei sechzehnjährige Mädchen – von denen andere Besucher berichten, sie seien nur im Vorraum gewesen – behaupten mit Eifer, man habe sie beim Einlass nicht nach ihrem Alter gefragt. Das Festival müsse verklagt werden. Aber da es auch schon wieder eine Bombendrohung gibt, werden erst einmal alle etwa 200 Zuschauer umständlich über Stiegen, Kellergewölbe, labyrinthische Flure und Gänge und ein Tropenhaus mit Papageien zu einem Hinterausgang geführt, um dem grölenden Mob um den Schwulenhasser und Abgeordneten Vitaly Milonov („Schwule Männer verdienen es verprügelt und getreten zu werden!“) zu entgehen, der gerade vor dem Kino wartet. Die beiden Mädchen werden später als Mitglieder einer nationalistischen Jugendorganisation identifiziert.

Es ist interessant, wieder einmal in Russland zu sein. Irgendwie überrascht mich das alles nicht wirklich. Hatte ich doch damit gerechnet, dass das Festival im letzten Moment wegen widriger Umstände ganz abgesagt würde. Noch vor einem Jahr wurde das Festival Side by Side (russ: Bok-o-Bok), sowie Gulya Sultanova, eine der Organisatorinnen nach einem neuen Gesetz als „ ausländische Agenten“ zu hohen Geldstrafen verurteilt. Der Verein musste geschlossen werden, wegen Verfahrensfehlern wurde das Urteil aber vorläufig aufgehoben.

Umso bemerkenswerter bleibt die Unaufgeregtheit der Organisatorinnen, die alle existenziellen Probleme des Festivals täglich aufs Neue abarbeiten. Ein queeres Festival in aggressiv-repressiver Umgebung zu veranstalten, das ist schon etwas ganz spezielles. Sechs Jahre zuvor hatte ich in Moskau mit kleinem Team den Dokumentarfilm "East/West - Sex& Politics" gedreht, der unter anderem die lesbisch-schwule Szene in Moskau porträtiert und die niedergeschlagenen Versuche, dort CSD-Demonstrationen zu veranstalten. Auf den Demonstrationen liefen Gegendemonstrant_innen zum Teil mit Messern herum und es gab sehr viel offene Gewalt. Wir fühlten uns damals bei den Dreharbeiten weit ungeschützter, waren aber auch vorsichtiger.

Auf das diesjährige Side-By-Side-Festival sind wir mit unserem Dokumentarfilm "Out in Ost-Berlin - Lesben und Schwule in der DDR" eingeladen Nach der Vorführung sitzen wir auf dem Panel einer der drei Diskussionsveranstaltungen des Festivals mit dem Titel: „Die LGBT Community in totalitären Staaten und die Möglichkeiten des Widerstands.“ Wie passend. Obwohl wir für uns feststellen, dass die DDR mit dem Russland von heute auf den ersten Blick eher wenig gemeinsam hatte, so dass man die Strategien der damaligen DDR-LGBT-Bewegung schwer auf heute übertragen kann. In beiden Staaten gab es die Verdrängung der Homosexualität aus der Öffentlichkeit und den Wunsch vieler Homosexueller, das jeweilige Land zu verlassen. Wegen xenophober Zwischenfälle kam die DDR im Gegensatz zum heutigen Russland erst gegen Ende ihrer Existenz in die Schlagzeilen. Zuvor hatte man Russ_innen und andere Ausländer_innen eher von der DDR-Bevölkerung ferngehalten. Und prominente reaktionär-religiöse Ansichten gab es in der DDR ebenfalls kaum, entgegen der Rolle der heutigen orthodoxen Kirche Russlands. Zudem fühlen wir uns als Ausländer_innen am wenigsten berufen, auf dem Festival zu Russland Stellung zu nehmen. Umso gespannter sind wir auf die Diskussion und die Fragen.

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Die Veranstaltung findet in einem mehrstöckigen trendigen Veranstaltungszentrum statt. Es ist der zweite Abend des Festivals und einer der wenigen ohne Zwischenfälle. Die deutsche Konsulin in St. Petersburg ist unter den Zuschauern, eine Geste, die in Russland immer auch Signalwirkung haben kann. Mein Co-Regisseur Andreas Strohfeldt, der bereits bei "East/West" mitarbeitete ist ebenso dabei wie Bettina Dziggel, eine der Protagonistinnen aus unserem Film. Porträtfotos und Statements der Gäste sind groß im Katalog zu sehen, auch im Internet und im Festivaltrailer. Gesicht zeigen ist wichtig für die Veranstalter und wir wissen zumindest, dass uns auch Leute auf der Straße wiedererkennen könnten, die uns weniger wohl gesonnen sind. Aber darauf kann man sich bei nur vier Tagen Aufenthalt einstellen.

Schwule und Lesben als Sündenböcke

Nach der Vorführung des auf Englisch und Russisch untertitelten Films fragt man uns bald nach unseren Einschätzungen zur Situation im Russland von heute. Wir weisen darauf hin, dass wir nur eine begrenzte Außenperspektive haben können: Russland befände sich allerdings derzeit aufgrund der Glaubwürdigkeitskrise vieler westlicher Demokratien und der USA zumindest außenpolitisch in einer äußerst robusten Verfassung, so dass sich das Land kaum Ratschläge geben lassen werde. Insofern sei von den mehr oder weniger moralischen Appellen aus dem Westen nicht zu viel zu erwarten. Auch wegen der unterschiedlichen Ausgangspunkte meinen wir, sei vielleicht auch weniger vom Westen zu lernen, als vielleicht von Überlebensstrategien in Staaten mit größerer Repression. Aber man lebe in Russland doch in einer Demokratie und einem wirtschaftlich erfolgreichen und prosperierenden Land, bekommen wir mehrfach zu hören. Nur mangele es der Bevölkerung an Bildung, um das Richtige zu wählen.

Nicht dem von der russischen Duma abgesegneten Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht-traditioneller Beziehungen“ laste man den schlechten internationalen Ruf des Landes an, sondern den Lesben und Schwulen. Es sei die Gruppe, die aufgrund der internationalen Presse das Bild der schönen Winterspiele in Sotschi kaputt mache. Zugleich gibt aber auch die Befürchtung in der Szene, dass nach Sotschi auch das internationale Interesse an Lesben und Schwulen in Russland zu Ende sein wird.

Die Betroffenheit der russischen Diskussionsteilnehmer_innen auf der Veranstaltung ist so groß, dass man zum Themenpunkt „Strategien“ kaum vordringen kann. Es häufen sich die Fragen an uns, ob es in Russland noch schlimmer werden könne als jetzt schon. Wie viel sie denn noch ertragen müssten. Alles kulminiert dann in der verzweifelten Frage eines Besuchers, ob wir meinen, dass es in Russland bald Progrome gegen Schwule und Lesben geben würde.

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Nach der Veranstaltung fragt mich ein Besucher, ob in Deutschland die Menschen denken würden, Homosexuelle hätten zu Recht in KZs gesessen. Schwierige Frage: Ich weiß nicht, was die Leute denken. Aber zumindest wirke der öffentliche Konsens heute so, dass kaum jemand lautstark diese Meinung vertrete. Doch hat die Bundesrepublik Deutschland bisher verhindert, dass die meisten homosexuellen KZ-Opfer bis heute eine angemessene oder überhaupt eine Entschädigung bzw. Rehabilitation erhalten haben.

Von der eigenen Geschichtsschreibung und Identitätsfindung scheint die russische LGBTI-Community weiter entfernt denn je, ist von Staats wegen doch selbst Peter Tschaikowskys Homosexualität ein gesellschaftliches Tabuthema. Es gibt kaum historische Daten oder Zeitzeugendokumente zu Lesben und Schwulen in der ehemaligen Sowjetunion oder in den Gulags. Igor Kon, der letzte Sexologe Russlands mit einem immensen Wissen über sein Land, starb vor wenigen Jahren. Als wir ein Interview mit ihm führten, hatten Neonazis ihm gerade den Judenstern an seine Wohnungstür in Moskau gesprayt. In Russland entstehen bis heute kaum Filme oder Publikationen zu LGBTI-Themen – und so landen auf dem Side by Side Festival aus russischer Produktion meist nur kleinere Kurzfilme.

Ein Mitarbeiter des Schwulen Museums Berlin regte 2006 bei der russischen Aufarbeitungsorganisation Memorial an, künftig in den standardisierten Fragebögen für Lageropfer auch nach Wissen über Lesben und Schwulen in den Gulags zu fragen. Doch selbst bei dieser größten russischen Menschenrechtsorganisation spürten wir 2007 noch Vorbehalte. So bestätigte eine verantwortliche Mitarbeiterin damals zwar, dass man sofort protestieren würde, wenn einem Schwulen auf der Straße ein Messer in den Rücken gerammt würde - ein Vorfall, der sich wenige Wochen zuvor in Moskau ereignet hatte. Aber es kamen auch Vorbehalte: Schwule unterhielten im russischen Fernsehen eine Art Mafia, sie seien zu laut. Und ihre Großmutter habe ihr von schrecklichen Erlebnissen im Gulag berichtet, die durch eine Schreckensherrschaft vermeintlich lesbischer Lagerinsassen bzw. –leiterinnen ausgelöst wurden. Überhaupt müsse man nicht auf der Straße CSDs veranstalten – es gäbe weitaus Wichtigeres im Land. Z.B. die Witwen und Mütter der getöteten Soldaten im Tschetschenienkrieg.

Ob sich diese Einschätzungen angesichts des heutigen Klimas in Russland verändert haben, lässt sich zumindest hinterfragen. Immer wieder hört man von Widerständen, wenn Aktivisten anderer russischen Bürgerrechtsgruppen zur Solidarität mit der LGBTI-Community aufrufen. Aber gleichzeitig berichten Russ_innen von jugendlichen Oppositionsbewegungen im ganzen Land, die sich mit der LGBTI-Community solidarisieren und für deren Rechte auf die Straße gehen.

Nur wenige engagieren sich

Einen einschlägigen Club in der Nähe sollten wir besuchen, schlägt mir der Mann vor, der zuvor nach deutschen KZs fragte. Das sei ein ganz anderes Erlebnis als das Festival. Und schließlich enden wir Stunden später in einem von außen unbeleuchteten, unscheinbaren Club namens "Cabaret". Einen Tanzsaal gibt es dort ebenso wie einen weitläufigen Raum mit großer Bühne. Vor der Show um 2 Uhr früh sind bereits hunderte Gäste, vorwiegend Männer anwesend.

Die meisten mit denen wir sprechen, haben nichts vom Filmfestival gehört oder waren nicht dort gewesen. Alles sei super in St. Petersburg, erzählt uns ein polyglotter Russe, der mit einer Frau verheiratet ist. Er hätte einen schwulen Freund, sie eine lesbische Freundin und beide gemeinsam ein Kind. Was der Westen sich dabei denken würde, bei CSDs die eigene Sexualität anderen Menschen ins Gesicht zu strecken. Was wohl passieren wird, wenn ein weiteres angedachtes Gesetz in Russland in Kraft tritt, infolge dessen man Kinder ihren lesbisch-schwulen Eltern wegnehmen darf, fragt meine Protagonistin Bettina. Und dann beginnt eine melodramatische Travestie- und Stripshow, bei der man sich in den altmodischen Club aus dem Film "Matterhorn" zurückversetzt fühlt.

In meinem Film "East/West - Sex& Politics" äußert ein Protagonist, es sei komisch, dass eine Handvoll Aktivist_innen in der Moskauer Innenstadt demonstriert, während gleichzeitig eintausend Schwule am Strand der Moskva liegen und sich sonnen. Irgendwie scheint sich daran bis heute nicht bedeutend viel geändert zu haben. Am Regierungssitz Moskau, der größten Stadt Europas, soll es zurzeit keine einzige eingetragene LGBT-Organisation geben. In Sankt Petersburg gibt es immerhin derzeit mindestens fünf: darunter die HIV-Präventionsorganisation LaSky, die Jugendorganisation Coming Out, das Festival Side by Side, das LGBT-Network und sogar eine „Allianz Heterosexueller für LGBT-Gleichberechtigung“.

Doch wem ist es auch zu verübeln, dass sie oder er sich einer Bewegung verschreibt, die kaum sozialen Gewinn verspricht, während man zum Teil lebensgefährliche Arbeit verrichtet? Gut zwei Wochen vor unserer Ankunft haben maskierte Angreifer mit Luftgewehr und Baseballschlägern das Büro von LaSky gestürmt und mehrere Mitarbeiter verprügelt und angeschossen. Ein Aktivist verliert dabei das Augenlicht auf einer Seite. Wir treffen ihn zufällig am nächsten Abend in einem kleineren Club, in dem auch einige Festivalmitarbeiter feiern.

Die Organisation des Side-by-Side-Festivals ist perfekt. Fünf Mitarbeiter_innen und geschätzte fünfzig ehrenamtliche Helfer hat das Festival in der Stadt, geschätzte 200 über das Land verteilt. Einige Filme werden nach St. Petersburg noch in fünf weiteren russischen Städten gezeigt und zusätzlich an Orten, wo kulturelle oder soziale Organisationen sich bereit erklären, die Vorführung der Filme zu organisieren. Wenige Tage vor Beginn des Festivals können die Organisatorinnen sogar die Nachricht verkünden, der amerikanische Regisseur Gus van Sant (sein früherer Film "Good Will Hunting" war Blockbuster in Russland) wolle höchstpersönlich nach St. Petersburg reisen. Samt Drehbuchautor und Produzent Dustin Lance Black werde er seinen Film "Milkd" (über den Aktivisten Harvey Milk) am Abschlussabend des Festival zeigen. Manny de Guerre hatte ihn schon vor Jahren in den USA als Unterstützer des Festivals gewonnen.

Van Sant kommt dann auch wirklich, trotz der Bombendrohungen an den ersten Festivaltagen. Dass es zu seiner Vorführung eine erneute Bombendrohung samt Räumung des Festivalorts gibt, ist gegen Ende des Festivals schon fast nichts ungewöhnliches mehr. Eine Regenbogenflagge enthüllt van Sant auf der Bühne: „Support Russian Gays“ steht darauf geschrieben.

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"Denkt an uns"

Zu diesem Zeitpunkt sind wir schon wieder zurück in Deutschland. 1500 Zuschauer zählt das Festival am Ende, ohne die durch die Bombendrohungen verbreitete Angst wären es wohl über 3000 gewesen, meint Gulya Sultanova. Über die mangelnde Beteiligung der Mehrheit der russischen Schwulen und Lesben mag sie sich nicht ärgern. Auch im Westen sei die Bewegung immer nur von einer sehr kleinen Gruppe vorangetrieben worden. Außerdem gäbe es viel moralische Unterstützung, auch übers Internet.

Innerhalb Russlands sieht Sultanova die LGBTI-Bewegung sogar als Avantgarde, denn kaum eine andere Gruppe in Russland würde auf so vielfältige und auch international beachtete Weise für ihre Rechte kämpfen. Das was sich in den vergangenen fünf Jahren in der LGBTI-Bewegung in St. Petersburg entwickelt habe, sei enorm – insbesondere auch die Unterstützung durch Heterosexuelle betreffend. Selbst im Team des Festivals seien Lesben und Schwule fast in der Minderheit.

Sultanovas Ausblick ist eher verhalten: Wenn sich Russland zu einem totalitären Staat entwickle, werde man vielleicht im Gefängnis enden. Doch wenn das Regime wie bislang „nur“ autoritär agiere, mit politischen Wendungen und kleinen Schritten nach vorn und zurück, würde sich die Situation der LGBTI-Community auf längere Sicht verbessern. Es wachse eine neue Generation heran. Auch die jetzt noch versteckten Clubs würden für die Szene an Bedeutung verlieren, während die Situation für Lesben und Schwule immer mehr in der Öffentlichkeit diskutiert und ihre Protagonisten sichtbar würden.

Immer wieder haben wir die Frage gestellt, was man vom Westen erwarte und dieser ggf. tun könne. Veronica antwortet ebenso bescheiden wie emotional: „Dass Ihr an uns denkt und uns nicht vergesst. Und dass Ihr sagt, dass das, was wir tun richtig ist, auch wenn hier alle um uns herum behaupten, es sei falsch.“ Manny de Guerre fasst es kurz: „Bringt das Thema auf die Tagesordnung, wann und wo immer Ihr könnt!“