Indien im Wahlfieber: Semi-Finale vor den Parlamentswahlen

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Anhänger der Aam Aadm- Partei – zu deutsch: „Partei des einfachen Bürgers“. Sie entstand 2011 aus der Anti-Korruptionsbewegung

Am 4. Dezember hat die Bevölkerung von Indiens Hauptstadt Neu Delhi eine neue Lokalregierung gewählt. Die Wahlen in Delhi waren die letzten von insgesamt fünf Regionalwahlen, die zwischen November und Dezember in den Bundesstaaten Mizoram, Chhattisgarh, Rajasthan und Madhya Pradesh stattgefunden haben. Sie fanden nur wenige Monate vor Indiens Parlamentswahlen statt und die Ergebnisse werden von vielen Beobachtern als richtungsweisend für den großen nationalen Parteienwahlkampf erachtet. Es herrscht bereits ein heißer Wahlkampf zwischen den zwei großen Parteien, der regierenden Kongresspartei und der stärksten Oppositionspartei, der Bharatiya Janata Party (BJP). In Neu Delhi hat sich im vergangenen Jahr ein neuer politischer Mitstreiter einen respektablen Namen gemacht und den großen Parteien ihren Kampf um eine neue Politik in der Hauptstadt angekündigt: Die Aam Aadmi Partei (übersetzt: „Partei des einfachen Bürgers“), die aus der Anti-Korruptionsbewegung von 2011 entstanden ist, hat sich mit Schwungkraft als ernstzunehmenden Anwärter etabliert und eine sichtbare Unterstützung an der Basis erkämpft.

Die Aufmerksamkeit in dieser Welle von Wahlen lag insbesondere auf Neu Delhi. Indiens Hauptstadt im Norden des Landes eignet sich zwar schlecht als Durchschnittsbeispiel und ist mit seinem überdurchschnittlichen Wohlstand und Infrastruktur nicht repräsentativ für den Rest des Subkontinents; das Augenmerk wird hier auf die Chancen der regierenden Kongresspartei gelegt, im Frühjahr 2014 mit einer Mehrheit in das indische Parlament wiedergewählt zu werden. Die säkular und sozialdemokratisch ausgerichtete Kongresspartei, sowohl führende Partei in der nationalen Regierungskoalition als auch langjährige Regierungspartei Delhis, ist in den vergangenen Jahren für eine Reihe von gravierenden Unregelmäßigkeiten in der Verwaltung öffentlicher Mittel bekannt geworden. In kürzester Zeit schafften es mehrere Korruptionsskandale in die indischen Medien, in die die Regierung oder einzelne Kongressmitglieder verwickelt waren und die zu einer Welle von Protesten im Land führten. Die indische Wirtschaft hat im vergangenen Jahr dramatische Verluste verzeichnet und das Image des aufstrebenden Riesen stark beschädigt. Eine rekordverdächtige Inflationsrate und der rapide Fall der indischen Rupie verstärken das Gefühl innerhalb der indischen Wählerschaft, dass die Zeit reif ist für politische Alternativen, die das Land wirtschaftlich wieder auf die richtige Bahn bringen können.

Keine klare Mehrheit: Wer wird in Delhi regieren?

Die Wahlergebnisse, die am 8. Dezember veröffentlicht wurden sind in aller Munde und eines steht fest: Nicht nur die Wähler von Neu Delhi sondern auch in den anderen Bundesstaaten (ausgenommen von Mizoram) haben sich die Menschen eindeutig gegen die Kongresspartei entschieden. Von 43 Sitzen, die die Kongresspartei zuvor im Abgeordnetenhaus von Neu Delhi mit insgesamt 70 Sitzen innehatte, sind nur noch 8 übriggeblieben. Die BJP hat mit 32 Sitzen im Parlament vom Unionsterritorium Delhi die meisten Stimmen zu verbuchen doch fehlt ihr die absolute Mehrheit, um die Regierung zu stellen. Grund für die unklaren Verhältnisse in Neu Delhi ist der neue Herausforderer, die Aam Aadmi Partei, die in ihrem politischen Debut der BJP mit 28 Sitzen nah auf den Fersen folgt. Es spielt sich das Szenario ab, das viele vorausgesagt hatten: Aus den Wahlen geht kein klarer Sieger hervor und bisher zeigen sich nur gescheiterte Bemühungen um eine Koalitionsregierung. Die Aam Aadmi Partei hat bereits in ihrem Wahlkampf angekündigt, dass sie unter keinen Umständen mit einer der beiden anderen Parteien eine Koalition eingehen würde. Nach Veröffentlichung der Wahlergebnisse scheint sich daran nichts geändert zu haben: Die Aam Aadmi Partei sieht ihre Rolle als starke Kraft in der Opposition bestärkt – eine vernünftige Entscheidung, könnte man meinen, für die neue und unerfahrene Partei, die bisher nur eine lange Kampagne zu verbuchen hat. Eine Koalition zwischen der Kongresspartei und der BJP, den beiden Hauptrivalen in den anstehenden Parlamentswahlen im Frühjahr, ist schwer vorstellbar. Die BJP hat bisher große Schwierigkeiten, ihre Mehrheit zu sichern und ihr Spitzenkandidat in Neu Delhi, Harsh Vardan hat in einer ersten Pressemitteilung nach Bekanntgabe der Ergebnisse der AAP den Vortritt für die Regierungsbildung gegeben. Die Abgeordneten der Kongresspartei haben sich wiederum für eine Koalition mit der Aam Aadmi Partei ausgesprochen. Sollte sich in den nächsten Tagen keine Koalition zusammenschließen, und damit rechnen viele, könne man von Neuwahlen ausgehen.

Die Aam Aadmi Partei: politischer Newcomer mit Antikorruptionsagenda

Gegründet im November 2012, nachdem die Forderungen der Zivilgesellschaft nach einem effektiven Anti-Korruptionsgesetz von der Regierung überhört wurden, hat sich die Aam Aadmi Partei von Grund auf neu etabliert und im vergangenen Jahr eine imposante Mobilisierung an der Basis demonstriert. Die Anhänger der Aam Aadmi Bewegung in Delhi erkannte man im Wahlkampf an ihren weißen Kappen mit der Aufschrift „Main Aam Aadmi Hun“ (übersetzt: Ich bin ein Normalbürger) und am Parteiensymbol, dem Handbesen; Wahlplakate waren an vielen Autorikschas angebracht und in den letzten Wochen sah man ganze Gruppen, die in den Nachbarschaften Delhis von Tür zu Tür gingen, um für ihren Kandidaten Arvind Kejriwal zu werben. Kejriwal, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Antikorruptionsbewegung von 2011 und Vertrauter von Protestführer Anna Hazare, gründete 2012 die Aam Aadmi Partei. Korruptions- und Armutsbekämpfung sind die zentralen Themen, mit denen die Partei in den Wahlkampf in Neu Delhi gezogen ist, darüber hinaus spricht sich Kejriwal für mehr direkte Demokratie und somit für mehr politische Selbstbestimmung des Volkes aus. Bisher war die AAP in ihrer politischen Reichweite auf Neu Delhi fokussiert, jetzt, nach ihrem mitreißenden Erfolg in der Hauptstadt planen ihre Mitglieder nun eine Ausweitung ihrer politischen Kampagne auf andere Landesteile. Welche Rolle die AAP in den Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 spielen wird, ist abzuwarten. Ihr Erfolg in Delhi macht deutlich, dass die Menschen politische Alternativen begrüßen, und eine transparentere und saubere Politik und mehr Mitspracherecht einfordern.

Kongresshochburg Delhi: Das Ende einer Ära

Neu Delhi wurde bisher als Hochburg der Kongresswähler betitelt: Seit 15 Jahren und insgesamt drei Legislaturperioden saß Sheila Diskshit fest im Sattel der Ministerpräsidentin und konnte sich bisher auf ihre Popularität im eigenen Wahlkreis verlassen. Ihr wird vor allem der Ausbau einer modernen Infrastruktur in der Hauptstadt hoch angerechnet, die eine effektive Antwort auf die vielen Entwicklungsprobleme der Millionenmetropole gewesen ist. Die Einführung einer High-Tech U-Bahn, der Ausbau besserer und klimafreundlicher öffentliche Transportmittel und die Fortschritte in den Bereichen Bildung und Gesundheit sind Beispiele ihrer Errungenschaften. Die vergangene Legislaturperiode von Frau Dikshit blieb jedoch von Fehlern nicht verschont und spiegelte die Defizite der Kongresspartei auf nationaler Ebene wider. Die Vorbereitungen der Commonwealth-Spiele waren nur so von korrupten Auftragsvergaben übersät und zuletzt enttäuschte sie ihre Wählerschaft durch unzureichendes Handeln nach dem prominenten Vergewaltigungsfall im Dezember 2012, der ganz Indien und die Welt erschütterte. Dass sie jüngst keine Lösung für die rapide steigenden Zwiebelpreise parat hatte, hat dem Vertrauensschwund der Wähler den letzten Schub gegeben.

Wahlbeteiligung und die NOTA-Option

In Delhi haben dieses Mal mehr Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben als jemals zuvor in der Hauptstadt. Mit 67 Prozent Wahlbeteiligung konnte die Wahlkommission einen Rekord vermelden, der für die traditionelle „Nichtwählerstadt“ eine gute Nachricht ist. 2008 gaben in Neu Delhi nur 58 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Ein mangelndes politisches Interesse innerhalb der urbanen Mittelschicht wurde in der Vergangenheit oft als Grund hierfür genannt. Gründe für einen Aufschwung in der Wahlbeteiligung lassen sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Zum Einen hat die indische Wahlkommission in den vergangenen Jahren vermehrt Kampagnen zum Aufruf der demokratischen Stimmabgabe geführt. Wenige Tage vor der Wahl veranstaltete die Wahlkommission zum Beispiel ein großes Festival am India Gate, dem Wahrzeichen der Stadt, an dem tausende Menschen teilnahmen. Die Prozesse für die Wählerregistrierung haben sich seit 2008 ebenfalls um einiges vereinfacht: komplizierte und langwierige Registrierungsverfahren hatten zuvor tausende, vor allem die junge Generation, vom Wählen abgehalten. Die indische Wahlkommission wurde kürzlich auch dafür gelobt, eine Enthaltungsoption auf den Wahlzetteln eingeführt zu haben. In den fünf Regionalwahlen im vergangenen Monat wurde die sogenannte „NOTA“ Option (none of the above) zum ersten Mal getestet. Sie soll unentschlossenen Bürgern einen Anreiz zum Wählen geben, in der Hoffnung dass die Wahlbeteiligung steigt. Dass die NOTA-Option in Neu Delhi kaum genutzt wurde, die Stadt dennoch eine relativ hohe Wahlbeteiligung erzielen konnte, hat wahrscheinlich auch mit der AAP zu tun. Sie hat den Wählern eine Alternative geboten, die das politische Gegengewicht zwischen der Kongresspartei und der BJP ins Wanken gebracht hat und ist für viele zum Hoffnungsträger für eine neue Dynamik in Indiens Politik geworden.

Ausblick auf die Parlamentswahlen 2014

Sind die Regionalwahlen in Rajasthan, Chhattisgarh, Madhya Pradesh, Mizoram und zuletzt in Neu Delhi wirklich als Semi-Finale vor den großen Wahlen im Frühjahr zu verstehen? Sollte es so sein, müsste man davon ausgehen, dass der Verlierer dieser Regionalwahlen, die Kongresspartei, aus dem Rennen ist. Die Kongresspartei hat im sogenannten „Hindi Heartland“, also in den Hindi-sprachigen Regionen, durchaus große Verluste verzeichnet, die auf einen Vertrauensschwund ihrer Wählerschaft zurückzuführen ist. Profiteur ist vor allem die BJP, die mangels Alternativen die Stimmen vieler desillusionierter Kongresswähler gewonnen hat. Der wahre Gewinner der Wahlen in Delhi war die AAP, die für eine neue Politik steht und für die Bürger eine greifbare Alternative darstellte. Sollte die AAP ihren Handlungsspielraum ausweiten, was abzusehen ist, und vor den Parlamentswahlen an politischem Einfluss gewinnen, könnte sie schnell zur populäreren Alternative zur Kongresspartei werden als die BJP. Die Wellen, die die BJP mit der Kampagne ihres umstrittenen Spitzenkandidaten Narendra Modi schlagen, begrenzen sich außerdem auf die Hindi-sprachigen Bundesstaaten im Norden. Außerhalb dieser Regionen gibt es noch eine Reihe weiterer Landesteile, deren Wahltendenzen von den Bundesstaaten im Norden stark abweichen: Südindien, Westbengalen und der Nordosten, sowohl als auch Kaschmir und der Nordwesten sind Regionen, in denen die BJP bisher kaum politischen Einfluss hat. Wer nach den Parlamentswahlen Indiens Regierung stellen wird, bleibt also noch offen.

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Hinweis:

Aus Anlass der Parlamentswahlen im Frühjahr wird die Heinrich Böll Stiftung im Frühjahr ein Webdossier veröffentlichen und eine Veranstaltungsreihe beginnen. Beide Formate werden Analysen zu den Wahlen und vertiefende Hintergrundinformationen zu gesellschaftspolitischen Themen anbieten.