Das indische Wachstumswunder: Errungenschaften und Herausforderungen

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Ein Ziegenhirte zieht mit seinen Ziegen vorbei an unfertigen Wohnungsblöcken in der Stadt Noida in Uttar Pradesh

Ashish Kothari ist Gründungsmitglied der Umwelt-NRO Kalvapriksh. Er unterrichtete am Indian Institute of Public Administration und koordinierte den indischen Prozess für eine nationale Biodiversitätsstrategie und den entsprechenden Aktionsplan. Er hat sich in mehreren zivilgesellschaftlichen Bewegungen engagiert und mehr als 30 Bücher geschrieben oder herausgegeben. Er ist Co-Autor des Buches «Churning the Earth: The Making of Global India» (Penguin Books India 2012), einer Kritik der Entwicklungsstrategie Indiens, in der er für eine radikalökologische Demokratie plädiert, die auf den Prinzipien ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Einkommenssicherheit basiert.

 

Das «indische Wachstumswunder» hat international viel Beachtung gefunden. Wie beurteilen Sie die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte?

Ashish Kothari: In den vergangenen fünf Jahrzehnten, insbesondere aber in den letzten 20 Jahren, wurde Wirtschaftswachstum in Indien quasi mit Entwicklung gleichgesetzt, und auch die politischen Entscheider waren darauf fokussiert. Jeden Tag konnte man in der Zeitung lesen, ob das indische Wirtschaftswachstum gerade ein halbes Prozent anstieg oder sank. Es scheint, als ob Wachstum, eigentlich ein Mittel zum Zweck, zu einem Zweck an sich geworden ist. Niemand spricht mehr über die Auswirkungen, die fünf oder zehn Prozent BIP-Wachstum mit sich bringen. Heute sind wir schon so weit, dass wir denken, ein Wachstum von lediglich fünf Prozent sei ein Problem. Gleichzeitig mussten wir jedoch in den vergangenen Jahrzehnten erkennen, dass die Menschen, insbesondere die Armen, nicht per se von Wachstum profitiert haben. Warum müsste die Regierung ansonsten ein Programm auflegen, das 75 Prozent der Bevölkerung mit Lebensmittelhilfe unterstützt? Das ist offensichtlich mehr als eine Frage der Umverteilung: Es wird oft argumentiert, dass Wachstum schnellstmöglich erfolgen soll, damit die Güter dann über Programme wie das Rural Employment Guarantee Scheme1 fair verteilt werden können. Es ist jedoch ein strukturelles Phänomen, dass diese Form des Wachstums, insbesondere wenn es durch die Privatwirtschaft angetrieben wird, unvermeidlich zu noch größerer Ungleichheit, zu Entbehrungen und zur Entrechtung bereits marginalisierter Menschen führt. Aber da ist noch ein zweiter, ebenso wichtiger Aspekt: Es gibt ganz klare Anzeichen, dass das Wachstum nicht nachhaltig ist. Erkennt man an, dass es ökologische Grenzen gibt, ist das Konzept des «nachhaltigen grenzenlosen Wachstums» ein Widerspruch in sich. Ganz gleich, wie effizient die Technologie ist, sie wird immer ökologische Auswirkungen haben. Die indische Regierung behauptet zwar, nachhaltige Entwicklung sei der primäre Fokus ihrer Pläne, tatsächlich aber gibt es keine Ansätze, die die Wachstumslogik mildern.

Können Sie unseren internationalen Lesern erläutern, was genau 1991 geschah, da Sie in Ihrem Buch dieses Jahr als einen Wendepunkt für die Menschen und die Umwelt in Indien beschreiben?

Vor 1991, oder vielmehr in den späten 1980er-Jahren, als einige der neoliberalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen initiiert wurden, war das vorherrschende Wirtschaftsmodell im Großen und Ganzen sozia- listisch geprägt. Ein Großteil der Produktion, aber auch der Forschung und Entwicklung, erfolgte im öffentlichen Sektor. Das galt und gilt immer noch besonders für zentrale Bereiche wie die Landwirtschaft. Darüber hinaus spielte die Binnenwirtschaft eine wesentlich größere Rolle als die Außenwirtschaft, und man unternahm Anstrengungen, um eine gewisse Autarkie zu erreichen. Da wir jedoch immer noch von Öl- und Gasimporten abhängig waren, brauchten wir einige Exporte als Gegengewicht. Die Autarkie wuchs in der Tat, das heißt aber nicht, dass es keine Probleme gab: Eine auf den Staat konzentrierte Regierungsführung, Ineffizienzen und Korruption waren an der Tagesordnung. Aber zumindest wurden einige Bemühungen in Richtung Selbstversorgung mit einer starken Dienstleistungs- und Wohlfahrtskomponente unternommen. Das änderte sich mit der Öffnung der Wirtschaft im Jahr 1991 ganz wesentlich. Jetzt spielte der Außenhandel – Exporte und Importe – eine viel größere Rolle, die Wirtschaft orientierte sich viel stärker nach außen. Zahlreiche Sektoren, auch die Landwirtschaft, wurden sowohl für die indische als auch die internationale Privatwirtschaft geöffnet, und Anreize für ausländische Direktinvestitionen wurden geschaffen. Verfassungsrechtliche und andere gesetzliche Vorschriften, die in den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden waren, zum Beispiel im Hinblick auf die Gebiete indigener Völker oder auf die Umwelt, wurden wieder zurückgenommen, und die Rolle des Staates wurde zurückgefahren.

Bieten diese strukturellen Veränderungen des Jahres 1991 auch eine Erklärung für die derzeitige Wirtschaftskrise Indiens?

Ja. Als die globale Wirtschaft im Jahr 2008 in die Krise geriet, war die indische Wirtschaft davon etwas weniger als viele andere Volkswirtschaften in Mitleidenschaft gezogen. Bis dahin hatte die indische Regierung immer wieder behauptet, die Öffnung Indiens zur globalen Wirtschaft sei ja so positiv. Dann sagte sie auf einmal, Indien sei deshalb relativ wenig von der Krise betroffen, gerade weil es noch Schutzmechanismen gebe und unsere Wirtschaft noch nach innen orientiert sei. Aber das war nur eine kurze Phase. Im August dieses Jahres erklärte der Premierminister mehr oder minder offen, dass wir keine Kontrolle mehr hätten. Der Wechselkurs hatte innerhalb von wenigen Monaten 10 bis 15 Rupien gegenüber dem US-Dollar verloren. Das war eine noch nie da gewesene Entwicklung. Es ist klar, dass die Regierung entweder die Kontrolle verloren hat – oder die Kontrollegar nicht will.

Indien wählt 2014 eine neue Regierung. Im aktuellen Wahlkampf spielen wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum eine zentrale Rolle. Wo sehen Sie in diesem Wahlkampf Raum für das Thema «ökologisch nachhaltige Entwicklung»?

Die Diskussionen und Debatten im Wahlkampf werden immer stark vereinfacht geführt, und daher ist es schwierig, das Thema Nachhaltigkeit anzusprechen. Aber «Land» ist zum Beispiel ein großes politisches Thema geworden. Wir müssen den Menschen verständlich machen, dass das aktuelle Entwicklungsmodell unglaubliche Mengen an Land benötigt und dass die Weiterführung dieses Modells auf die Dauer einfach nicht möglich oder nicht wünschenswert ist, da es die Vertreibung rechtloser Menschen verlangt – was die Öffentlichkeit verstärkt hinterfragen wird. In den indischen Zeitungen sind Tag für Tag Beispiele dafür zu lesen, dass Menschen sich gegen Vertreibung und Zwangsräumungen wehren. Wir müssen unbedingt Alternativen zum aktuellen Modell aufzeigen. Die Verabschiedung der Land Acquisition Bill2 zeigt, dass die Frage des Landerwerbs starkes Interesse hervorruft. Auch das Thema Gesundheit bietet eine weitere Möglichkeit, um Nachhaltigkeit im Wahlkampf aufzugreifen. Immer mehr Eltern sind besorgt wegen Pestiziden und Luftverschmutzung und deren Auswirkungen auf ihre Kinder. Wir müssen diese Sorgen mit dem derzeitigen Entwicklungsmodell in Verbindung bringen. Die Weltbank hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, demzufolge umweltverbundene Schäden, insbesondere Schäden an der menschlichen Gesundheit, Indien fünf Prozent des BIP kosten. Das bedeutet, effektiv beträgt das Wachstum null Prozent. Solche Botschaften müssen Eingang in den Wahlkampf finden. Wenn nicht in diesem, dann unbedingt in den nächsten.

Wenn westliche Medien über das indische «Wachstumswunder» berichten, wird zumeist das angebliche Anwachsen der Mittelschicht betont. Inwiefern ist diese Darstellung zutreffend, und wie groß ist diese Mittelschicht tatsächlich?

Zunächst einmal umfasst der Begriff Mittelschicht ein ungeheuer breites Spektrum, sowohl wirtschaftlich als auch in Bezug auf andere Faktoren. Wahr ist, dass es eine Bevölkerungsgruppe von etwa 50 bis 100 Millionen Menschen gibt, die in den letzten 15 bis 20 Jahren einkommensmäßig profitiert hat. Betrachtet man die obere Mittelschicht, also diejenigen, die in ein Einkaufszentrum gehen und ausländische Waren kaufen können, sieht das indische Wachstumswunder wie ein großartiger Erfolg aus. Betrachtet man allerdings die reale Kaufkraft der breiten Mittelschicht, hier sprechen wir von vielleicht 200 Millionen Menschen, dann sieht man, dass diese Gruppe ernstliche wirtschaftliche Probleme hat. Viele Mittelschichtfamilien können sichzum Beispiel Hülsenfrüchte, Linsen oder die meisten Obstsorten nicht mehr leisten. Oder die Werte haben sich so verschoben, dass sie lieber Konsumgüter kaufen. Diese Mittelschicht möchte im Grunde in die Oberschicht aufsteigen. Dadurch hat sie sich bewusst – oder unbewusst – von der Milliarde Menschen distanziert, die den sozialen Aufstieg nicht geschafft haben. Das heißt, Armut ist ein Thema, mit dem sich die Mittelschicht nicht konfrontieren will oder kann. Natürlich gibt es Ausnahmen, und wir müssen daran arbeiten, dass mehr Menschen in der Mittelschicht über ihre eigene Situation und über ihren eigenen Status hinausblicken können.

Weltweit, auch in Indien, sind es nicht die am meisten konsumierenden Schichten, die die ökologischen Kosten des Konsums tragen. Diejenigen, die die externalisierten Kosten des Konsums tragen, sind ökonomisch, geografisch und sozial von den Konsumenten getrennt. Wie kann Ihrer Meinung nach diese Lücke geschlossen werden?

Zunächst einmal müssen die Gemeinschaften, deren Ressourcen verbraucht werden, in die Lage versetzt werden, «Nein» zu sagen. In unserem Buch nennen wir das «direkte Demokratie»: Jede Gemeinschaft hat ein wesentliches Mitbestimmungsrecht darüber, was mit ihrem Wasser, ihrem Land, ihren Ressourcen passiert. Das bedeutet, dass die reichen Städter ihren gewohnten Fernzugriff auf Ressourcen verlieren. Es gibt viele Beispiele von protestierenden Gemeinschaften in Indien, die sich ihre Entscheidungsmacht zurückerobert haben. Zweitens müssen sich die reichen städtischen Verbraucher viel stärker über die Auswirkungen ihres Konsums bewusst werden. Ihr Bewusstseinsniveau ist diesbezüglich sehr niedrig. Das beste Zielpublikum in dieser Hinsicht sind wahrscheinlich die Kinder, und die Bildungsinstitutionen sollten sich bemühen, die Kinder anzusprechen. Aber es gibt noch weitere Möglichkeiten. Ich plädiere seit Langem für eine gesunde oder eine nachhaltige Konsumgrenze. Genauso wie wir eine Armutsgrenze haben, über der die Menschen leben sollten, brauchen wir eine Obergrenze, die den Verbrauch von Wasser, Strom, Erdöl usw. definiert. Natürlich darf das nicht nach dem Prinzip «Wer zahlt, der bekommt» funktionieren, weil wir uns das ökologisch einfach nicht leisten können.

In Ihrem Buch beschreiben Sie das Konzept des Umweltimperialismus. Da Sie auch davon sprechen, dass Indien ein Mikrokosmos der Welt sei: Wie sieht der Umweltimperialismus in Indien aus?

Umweltimperialismus ist ein verengter ökologischer Blick, den ich keinesfalls teile. Aus diesem Blickwinkel wird versucht, die Umwelt zu schützen, indem die Menschen als Feinde betrachtet werden und mit dem Finger auf diejenigen gezeigt wird, die am wenigsten privilegiert sind. Ein Beispiel: Seit Jahren marginalisieren wir die Menschen in Naturschutzgebieten, denn die Schutzmaßnahmen sind so gestaltet, dass sie die Menschen nicht mit einbeziehen oder sogar ganz aus ihrem Habitat verbannen. Ein weiteres Phänomen, das wir bei einigen städtischen Umweltschützern beobachten, ist die Tatsache, dass sie vor Slums, Schmutz und Müll die Augen verschließen. Sie fordern – oder tolerieren – die Vertreibung von Menschen aus den Slums. Große Teile der Umweltbewegung verstehen diese Problematiken nicht.

In Ihrem Buch schlagen Sie eine radikalökologische Demokratie als Alternative vor. In diesem Modell kommt der lokalen Ebene eine große Bedeutung zu. Welche Rolle spielt der Staat in einem solchen Szenario, insbesondere im Hinblick auf nachhaltige Entwicklung?

Nationale Politikmaßnahmen behindern aktuell die Regionalisierung und die ökologische Demokratie, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Ein Aspekt der starken Zentralisierung ist hier das staatliche Verteilungssystem für billige, subventionierte Lebensmittel für die Armen. Nicht nur die Verteilung ist zentralisiert, sondern auch die kulturell sehr eng gefasste Entscheidung, dass nur Weizen und Reis für die Verteilung in Betracht kommen. Beide Produkte stammen aus einigen wenigen Provinzen des Landes mit hoher Produktion. Aufgrund unserer Erfahrungen empfehlen wir jedoch, die Regionalisierung des Lebensmittelverteilungssystems, indem die Bauern vor Ort Anreize erhalten, lokal und biologisch anzubauen. Eine Änderung des aktuellen Systems könnte wesentlich zu einer nachhaltigen Nahrungsmittelerzeugung beitragen. Ähnliche Regionalisierungsanstrengungen sollten in Bezug auf Wasser, Energie, Wohnraum und politische Entscheidungen unternommen werden. Unserer Meinung nach sind solche politischen Entscheidungen auf Bundesebene, wie das oben erwähnte System der Nahrungsmittelverteilung, unerlässlich für die Transformation hin zu einer radikalökologischen Demokratie. Trotz der Bedeutung, die der Dezentralisierung in einer radikalökologischen Demokratie zukommt, muss die Zentralregierung mittelfristig in mindestens drei Bereichen eine wesentliche Rolle spielen: bei der flächendeckenden Infrastruktur wie Eisenbahn oder Post, den Sozialleistungen zur Abfederung der weitverbreiteten Armut und der Förderung von sozialer Gerechtigkeit durch Schutzmaßnahmen. Aus unserer Erfahrung reicht Regionalisierung per se nicht aus, um die tiefen gesellschaftlichen Gräben entlang Klassen-, ethnischen und Geschlechtergrenzen zu überbrücken.

Welche Rolle weisen Sie der globalen Ebene angesichts der Tatsache zu, dass viele Umweltprobleme grenzüberschreitend sind? Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit in Richtung Nachhaltigkeit sehen Sie insbesondere innerhalb von Asien?

Eine Ebene der Zusammenarbeit ist die der Governance, sei es in der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), in der South Asian Association for Regional Cooperation, in Asien als Ganzem oder in der G-77 der Vereinten Nationen. Ich bin froh, dass einige Regierungen, etwa in Bolivien und Ecuador, das Thema Nachhaltigkeit ansprechen und das Wachstumsparadigma infrage stellen, nicht nur in ihrer Region, sondern weltweit. Insbesondere die Regierungen von Indien und China müssen sich dieses Themas viel stärker annehmen. Aber ich bin sicher, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit kommen wird, allerdings zunächst eher auf der Ebene der Menschen. Je mehr wir die Solidarität und das Voneinander-Lernen der zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Südasien stärken können, zum Beispiel indem sich die Gruppen zur nachhaltigen Landwirtschaft zusammentun, desto mehr können wir die gesamte Region in Richtung Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung lenken.

Welche abschließende Botschaft haben Sie an die Leser in Europa oder speziell in Deutschland? Wie kann Europa die grenzüberschreitende Zusammenarbeit unterstützen?

Das Einfachste wäre die finanzielle Unterstützung dieser Zusammenarbeit, auch für Austauschprogramme oder damit Menschen in anderen Ländern arbeiten können. Leider ist es ja nach wie vor so: Ganz gleich, wie viel wir von «aufstrebenden Ländern» sprechen, die finanziellen Ressourcen befinden sich anderswo. Komplexer wäre natürlich die Erarbeitung von Nachhaltigkeitswegen, indem Beziehungen geknüpft werden, zum Beispiel zwischen der Degrowth-Bewegung in Europa und der Nachhaltigkeitsbewegung in Indien. Die dritte und zweifellos schwierigste Aufgabe ist es, den Deutschen und Europäern die Auswirkungen ihres Konsums verständlich zu machen. Angesichts des begrenzten ökologischen Raums auf der Erde muss Europa aufhören, ein unverhältnismäßig großes Stück zu besetzen. Das ist die einzige Möglichkeit, um von Indien glaubwürdig verlangen zu können, über Wachstum als Hauptziel hinauszublicken. Geschieht dies nicht, ist die Forderung verständlich, dass für die Mehrheit der Menschen in Indien der Kuchen größer werden muss, damit auch sie eine Chance bekommen, die Armut zu überwinden.