Die Aam Aadmi Partei: Ein demokratischer Aufstand gegen die alte politische Ordnung

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Anhänger der Aam Aadmi Partei (Normalbürgerpartei) halten ihr Parteisymbol, den Besen, hoch während sie den Sieg ihrer neuen Partei nach den Regionalwahlen am 8. Dezember 2013 in Neu Delhi feiern

Auf dem riesigen Versammlungsgelände Ramlila Maidan inmitten der indischen Hauptstadt wimmelt es am 28. Dezember nur so von Menschen, denen der plötzliche Wetterwechsel ebenso wie ein Wunder vorgekommen sein muss wie die Leistung der Aam Aadmi Partei (übersetzt die „Partei des einfachen Mannes“) bei den Regionalwahlen in Delhi.

Nach tagelang bedecktem Himmel brach plötzlich die strahlende Sonne durch die Wolkendecke und bestärkte noch das triumphierende Gefühl der geschätzt 60.000 Unterstützer der Aam Aadmi Partei (AAP) bei der Vereidigung Ihres Anführers Arvind Kejriwal als Regierungschef des Stadtstaats sowie der von sechs weiteren Politikern als Minister.

Es war zweifellos ihr Sieg, denn ohne ihren Einsatz wäre die AAP nicht in der Lage gewesen, die Mehrheit der Kongresspartei und der Bharatiya Janata Party (BJP), den zwei großen politischen Parteien Indiens, im direkt gewählten Parlament von Delhi zu verhindern. Die AAP platzierte sich auf dem zweiten Rang und bildete die Regierung mit der Unterstützung der abgeschlagenen Kongresspartei. Dadurch wurde landesweit eine Welle der Begeisterung ausgelöst, nicht nur aufgrund des Wahlerfolgs der AAP nach nur knapp einem Jahr seit der Parteigründung, sondern auch weil dadurch Hoffnung auf eine politische Alternative aufgekommen ist.

Die AAP hat Hoffnungen geweckt, denn bei ihrem Wahlkampf in Delhi brach sie mit einigen schamlosen Gepflogenheiten der indischen Politik und deckte  gravierende politische Missstände auf. Erstens hat sie den Wahlkampf nur mit einem Bruchteil der Gelder finanziert, die politische Parteien sonst ausgeben. Sie hat die Namen all ihrer Spender veröffentlicht und sich nicht hinter einem Gesetz versteckt, dass eine solche Offenlegung tatsächlich erst bei Zahlungen ab 20.000 Rupien (ca. 230 Euro) verlangt. Meist profitieren Großunternehmen von dieser gesetzlichen Regelung, die esihnen erlaubt, Parteien umfassend über eine lange Kette von Teilzahlungen von weniger als 20.000 Rupien zu unterstützen und damit ihren politischen Einfluss zu verschleiern.

Zweitens hat die AAP keine Unruhestifter engagiert, um die Wähler in den Slums einzuschüchtern.Drittens gehören keine ihrer Kandidaten Familien an, die bereits seit zwei Generationen Wahlpolitik betreiben. Tatsächlich hatte nur eines ihrer 70 Mitglieder schon früher Wahlkampferfahrung auf regionaler oder nationaler Ebene sammeln können. Viertens wurden die Kandidaten nicht durch parteiinterne Ränkespiele ausgewählt, sondern durch die AAP-Mitglieder  in ihren Wahlbezirken. Und fünftens wurden keine Kandidaten aufgestellt, die wegen ruchloser Verbrechen vor Gericht stehen – etwas, das nicht-indische Leser wohl zu Recht als eine nicht besonders  bemerkenswerte Leistung erachten würden. Doch sie sollten bedenken, dass 14 Prozent der Mitglieder der Lok Sabha (auch Haus des Volkes genannt), dem Unterhaus im indischen Zweikammerparlament, eine solche kriminelle Vergangenheit besitzen.

Nicht zuletzt hat die AAP den Wähler als Bürger angesprochen und nicht als Angehörigen einer Kaste, einer religiösen oder  regionalen oder linguistischen Gruppe. Sie hat eher versucht, die Wähler bei wichtigen Fragen – wie der Wasser- und Stromversorgung, Gesundheit, Bildung, Arbeit und Sicherheit – zu vereinen, und nichtan die Ängste und Hoffnungen archaischer Gruppenidentitäten appelliert. Dabei sicherte sich die Partei mit ihrer Politik der Interessen die Treue diskriminierter Randgruppen des Kastensystems in Delhi.

Vielleicht ist der Erfolg der AAP ein Zeichen für das Hervortreten eines neuen indischen Bürgers, zwar nicht unbedingt in ganz Indien, aber zumindest in den großen Städten. Der neue Wähler ist bereit, die Klassen-, Kasten- und Religionszugehörigkeit in den Hintergrund zu stellen und sich einfach als Bürger an der Politik zu beteiligen. Er will, dass demokratische Ideale hochgehalten werden und dass sich die Anführer zu Anständigkeit und Gesetzmäßigkeit verpflichten.

Diese Hoffnung auf eine politische Alternative ermunterte Scharen von Menschen dazu, der AAP beizutreten, wodurch sowohl die Mitgliederzahlen als auch die Parteikasse um Millionen anwuchsen. Das Streben der Partei ist es, diese Ressourcen zu aktivieren, um die Wahlen für das Unterhaus (Lok Sabha) im April / Mai erfolgreich zu bestreiten. Es ist absehbar, dass die AAP wohl keine Mehrheit in der Lok Sabha erzielen wird, deren 543 Abgeordnete über die indische Regierungsbildung entscheiden. Doch die Begeisterung entspringt dem Wissen, dass seit 1989 keine Partei die absolute Mehrheit errungen hat, was zur Bildung vonKoalitionen undeinmal einer Minderheitsregierung geführt hat. AAP-Sympathisanten hoffen, dass die Partei genügend Sitze im fragmentierten Parlament erringt, um Einfluss auf das politische System ausüben zu können.

Diese Hoffnung wäre vollkommen unrealistisch gewesen, hätte der Regierungschef der AAP, Arvind Kejriwal, am 28. Dezember nicht eine so ergreifende Rede gehalten. Seine Ansprache, die immer wieder auf verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt wurde, war nicht weniger wirkungsvoll als die des amerikanischen Präsidenten Barack Obama bei der Versammlung der Demokratischen Partei in Chicago im Juli 2004. Kejriwal, wie Obama ein Außenseiter, ließ die Bürger an seinem Traum teilhaben und beflügelte ihre Fantasie. Er verkündete: „Bei den Wahlen zum Regionalparlament in Delhi haben die Menschen bewiesen, dass Politik auch ehrlich betrieben werden kann und dass man den Wahlkampf mit Ehrlichkeit führen und gewinnen kann.“ Weiter sagte er: „Wir sind nicht hier, um an die Macht zu kommen, sondern um die Staatsführung wieder in die Hände der Menschen zu legen. Jetzt regieren 15 Millionen Menschen in Delhi.“

Diese rhetorisch ausgeschmückten Ausführungen von Kejriwal bestimmten auch die Agenda der AAP: saubere und transparente Regierungsführung und die Einführung einer partizipativen Demokratie. Diese Ideen haben Ihre Wurzeln in einer Volksbewegung namens India AgainstCorruption (IAC), die hauptsächlich zwischen 2011 und 2012 aktiv war.Sie gewann große Tragweite durch die in den Medien veröffentlichten Anschuldigungen gegen einige Minister, diese hätten das wirtschaftliche Liberalisierungsprogramm  manipuliert, um Konzerninteressen zu dienen.

Die Lösung der IAC war es, den in Vergessenheit geratenen Vorschlag zur Gründung eines nationalen Ombudsmanns, der im Parlament seit über vier Jahrzehnten in der Schwebe hing, wieder aufleben zu lassen. Die IAC forderte einen von der Regierung vollständig unabhängigen Ombudsmann, der außerdem volle Kontrolle über die Ermittlungsbehörden haben sollte, welche Korruptionsvorwürfe gegen Beamte, angefangen vom Sachbearbeiter bis hin zum Minister, prüfen.

Doch die politische Klasse wies die Forderungen der IAC nach einem vom Regierungseinfluss abgeschirmten Bürgerbeauftragten ab und bestand auf das Recht des Parlaments, die gesetzlichen Bestimmungen auszuarbeiten. Ein Teil der IAC-Führung sah ihre einzige Hoffnung für die Einführung eines systematischen Wandels in der Machtgewinnung durch Wahlen. Diese Gruppe der IAC gründete die AAP.

Aus der Debatte über das Gesetzzum Bürgerbeauftragten entstand die Idee, das Konzept der Bürgerschaft neu zu definieren und eine partizipative Demokratie einzuführen. Die AAP ist der Meinung, dass die Rolle des Bürgers nicht allein darin besteht, alle fünf Jahre seine Stimme abzugeben, sondern dauerhaft sein sollte. Dazu muss ihnen ein Mechanismus zur Verfügung stehen, der es ermöglicht, den Erlass von Rechtsvorschriften zu fordern, diese mitzugestalten,   ihre Meinung zur Regierungspolitik zu äußern und die Abberufung von Abgeordneten, deren Leistung sie für unzureichend erachten, zu beantragen. Weiterhin fordern sie, die Macht zu dezentralisieren und die Menschen an der Basis zu ermächtigen, über durchzuführende Entwicklungsprojekte zu entscheiden und die Aufsicht über deren Umsetzung zu haben.

Prägnant ist, dass die AAP der kommunalen Ebene Vorrang über die nationale gibt, denn auf dieser Ebene spielt sich das Leben Indiens ab und werden staatliche Dienstleistungen, wie Wasser, Strom, Gesundheit und Bildung in Anspruch genommen. Und genau hier trifft die lange Kette der Korruption den einfachen Bürger, der keinen Einfluss auf das System hat und nicht zurückfordern kann,  was rechtmäßig ihm gehört. Die AAP Agenda der partizipativen Demokratie, auch swaraj oder Selbstregierung genannt, unterscheidet diese Bewegung von der Kongresspartei oder der BJP, deren Kampagnen auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet sind.

Jedoch muss die AAP ihre große wirtschaftliche Vision noch genau erklären. Doch einige Hinweise auf ihre Vorstellungen kann man dem Interview entnehmen, das ich im November mit dem Parteiideologen Yogendra Yadav geführt habe: „In der Wirtschaftsdebatte der 60er und 70er gab es eine große Konfusion um die Mittel und Ziele. Das Ziel war und muss weiterhin der einfache Mensch sein. Doch ob der einfache Mensch durch die Regierung mit bestimmten Waren und Dienstleistungen versorgt werden sollte oder ob besser jemand anderes mit diesen Aufgaben zu betrauen ist, diese Entscheidung müssen wir der Vernunft überlassen auf der Grundlage von Fakten und Erfahrungen.“

Die Antwort Yadavs lässt darauf schließen, dass die AAP sozialdemokratisch ausgerichtet ist und bereit ist, in der sozialistischen, sich schnell zum Kapitalismus entwickelnden Wirtschaft zu arbeiten. Dies konnte bisher jedoch nicht die Befürchtungen des Unternehmenssektors und der konservativen Ökonomen besänftigen, die viele der AAP-Chefs misstrauen, die sich durch die Verteidigung von Landrechten, Menschenrechten, Recht auf Information, Umweltschutz usw. einen Namen gemacht haben. 

Die Angst vor einem „Ersatzsozialismus“ erklärt zum Teil die heftige Debatte zum Entschluss der AAP-Regierung, die Strom- und Wasserversorgung zu subventionieren, was Kejriwal nur wenige Tage nach Amtsantritt ankündigte. Die Stromkosten für Haushalte, die bis zu 400 Einheiten im Monat verbrauchen, wurden halbiert, doch die alten Tarife gelten weiter, sofern der Verbrauch nur eine Einheit darüber liegt. Dieser Tarif gilt für drei Monate, in denen die Energieversorgungsunternehmen (Discoms) geprüft werden.

Hierzu gibt es eine  Hintergrundgeschichte, die man kennen sollte: Anfang 2013 trat Kejriwal in den Hungerstreik und forderte die Überprüfung der Discoms, die er beschuldigte, die Kosten auf fragwürdige Weise nach oben zu treiben, um mehr Geld von den Verbrauchern zu kassieren.

Die Vorgängerregierung zeigte sich hilflos und argumentierte, dass die Discoms nicht bereit wären, eine Buchprüfung durchführen zu lassen.Dann solle man ihre Lizenzen stornieren, erwiderte Kejriwal, dessen Antrag auf Überprüfung vom Gericht auf Grund eines Gesuchs der Discoms abgelehnt wurde. Die Regierung ist der Meinung, dass sich mit der Buchprüfung die Subventionen automatisch reduzieren würden, die sich für drei Monate auf 610 Mio. Rupien (ca. 7 Mio. Euro) und auf 2,4 Mrd. Rupien (ca. 28 Mio. Euro) pro Jahr belaufen.

Die Wasserversorgung der Haushalte, die bis zu 20 Kiloliter pro Monat verbrauchen, soll kostenlos sein, wird aber kostenpflichtig, sobald diese Grenze überschritten wird. Dies wird die Regierung 1,65 Mrd. Rupien pro Jahr kosten. Von dieser Maßnahme sollen 800.000 von 1,9 Mio. Haushalten, die über einen Wasseranschluss mit Zähler verfügen, profitieren. Es wird argumentiert, dass eine kostenlose Wasserversorgung die Menschen veranlasst, Wasserzähler zu installieren, und dass vor allem Angestellte der Versorgungsunternehmen aus Angst vor Korruptionsverfolgung Menschen darin hindern würden, Wasser zu verbrauchen, ohne dafür zu zahlen.

Das Streben der indischen Elite nach dem Status einer Supermacht erscheint wie ein Hohn, wenn man sieht, dass fünf Millionen Menschen in Delhi, die größtenteils in Slums leben, kein fließendes Wasser haben und auf die Versorgung aus Wassertankwägen angewiesen sind. Eine Wasser-Mafia hat die Kontrolle über die Versorgungskette übernommen und macht Profit mit einer Dienstleistung, die eigentlich kostenlos sein sollte. Das Wahlprogramm der AAP verspricht, Wasserleitungen in diesen Slums zu installieren, doch es würde Monate dauern, um die Infrastruktur dafür aufzubauen. Bis dahin ist geplant, die laufende Versorgung zu optimieren, doch es ist noch zu früh, um sagen zu können, wie wirkungsvoll dies sein kann.

Die Debatte über die subventionierte Wasser- und Stromversorgung dreht sich hauptsächlich um die wirtschaftliche Belastung Delhis. Es wurde außer Acht gelassen, dass sich die Subventionierung auf den Verbrauch und nicht auf das Einkommen bezieht, wodurch die bekanntermaßen verschwenderische Mittelschicht von Delhi wohl nicht davon profitieren wird, da sie ihren Verbrauch drastisch reduzieren müsste. Vielleicht könnte der beabsichtigte Anreiz, Wasser und Strom zu sparen, die unteren Bevölkerungsschichten veranlassen, ihren Verbrauch einzudämmen und dabei Geld zu sparen. Doch ein umweltschonender Verbrauch stand nicht wirklich im Mittelpunkt der Debatte, die im Sand versickerte, sobald feststand, dass die jährlichen Subventionen insgesamt 4,05 Mrd. Rupien (ca. 47 Mio. Euro) von den 400 Mrd. Rupien (ca. 4,6 Mrd. Euro) des Regierungshaushalts Delhis ausmachen würden. Es zeugt von der Scheinheiligkeit der Subventionsgegner, dass sie über die Milliardenschulden des Unternehmenssektors bei den staatlichen Banken schwiegen und auch den Umweltschutz in der Debatte außer Acht ließen. Diese Themen hätten womöglich größeren Anklang in der Bevölkerung gefunden.

Das leidenschaftliche Engagement der AAP für eine Antikorruptionspolitik führte zur Einrichtung einer Beratungs-Hotline, welche die Bürger nutzen können, um sich gegen Schmiergelder fordernde Beamte zur Wehr zu setzen. Dadurch wurden bisher zehn Beamte überführt. Die hohe Inanspruchnahme der Hotline veranlasste die Regierung dazu, mehrere Nummern einzurichten, was sowohl den Zuspruch der Bevölkerung als auch das Ausmaß der Korruption widerspiegelt.

Solche Eingriffe führen aber auch zu Erschütterungen des Machtgefüges an der Basis und können eine Gegenreaktion provozieren. Es könnte auch eine bedrohliche Kultur der Selbstjustiz entstehen. Diese zusammenhängenden Themen – Gegenreaktion und Selbstjustiz – nähren eine andauernde Kontroverse und droheneinen Teil der Anhänger aus der Mittelschicht der AAP zu entfremden.

Diese Kontroverse nahm ihren Lauf als der AAP-Justizminister Somnath Bharti der Bitte von Anwohnern einer Siedlung in seinem Wahlbezirk nachkam, eine nächtliche Polizeirazzia in einem Haus des Viertels durchzuführen, angeblich ein Ort für Prostitution und Drogengeschäfte. Bharti bat die zuständige Polizeidienststelle einen Beamten vorbeizuschicken, der jedoch nicht rechtzeitig auftauchte. Bharti und die Anwohner riefen deshalb eine mobile Polizeistreife herbei. Ein sich als Freier ausgebender Lockvogel machte einen Sex-Deal, doch der später dazugekommenen Beamte der zuständigen Polizeidienststelle lehnte eine Razzia des Hauses ab, da ihm keine richterliche Anordnung vorlag. Während der darauf folgenden Auseinandersetzung, traf ein Auto mit vier ugandischen Frauen ein, welches von den Anwohnern umzingelt wurde. Daraufhin ließ die Polizei die Frauen in einem Krankenhaus auf einen eventuellen Drogenmissbrauch testen. Das Ergebnis war negativ.

In den Medien machte die nächtliche Razzia Schlagzeilen, die als Akt der Selbstjustiz geschildert wurde, verwoben mit rassistischer Diskriminierung und angeblichen sexistischen Bemerkungen von Bharti. Doch die Anwohner hielten dagegen und beschuldigten die Polizei trotz anhaltender Klagen nichts zu tun und kriminelle Aktivitäten in der Siedlung zu verschleiern. Das rief wiederum Frauenrechtsgruppen auf den Plan, die das patriarchalische Verhalten der Siedlungsbewohner und ihre Intoleranz gegenüber anderen Lebensstilen verurteilten. Die Frauenrechtler meinten, dass die Anwohner die unkonventionellen Uganderinnen einfach für Sexarbeiterinnen hielten  und forderten die selbsternannten Experten der alternativen Politik auf, Bharti aus dem Amt zu entlassen.

Doch Kejriwal tat genau das Gegenteil: Er verteidigte nicht nur Bharti, sondern führte einen Sitzstreik an, mit dem die Entlassung von fünf Polizeibeamten  bewirkt werden sollte. Diese waren am Ort des Geschehens anwesend, führten aber keine Untersuchungen durch und verwiesen Zuständigkeiten der Stadtpolizei einfach auf die Landesebene. Doch die Nationalregierung weigerte sich, dem liberalen Intellektuellen nachzugeben, und auch die Medien wetterten gegen die AAP, die etwas verteidigte, was keine Verteidigung verdiente. So musste Kejriwal schließlich einen Rückzieher machte. Er nahm das Angebot der Landesregierung an, die Polizeibeamten zu beurlauben, und brach die Aktion ab. Doch die Debatte tobt weiter. Die AAP hält Forderungen nach Bhartis Rücktritt entgegen, dass das Filmmaterial aus der Nacht der Razzia beweise, dass es weder rassistische oder sexistische Bemerkungen gab, noch das Gesetz in die eigene Hand genommen wurde.

Fünf wichtige Trends lassen sich aus der Kontroverse erkennen. Erstens hat Kejriwal durch den Protest wahrscheinlich mehr Unterstützung in den unteren Bevölkerungsschichten gewonnen, die ein ausbeuterisches und brutales Bild von der Polizei haben. Zweitens gibt es eine Spaltung der Mittelschicht: die Konservativen, wohl die überwiegende Mehrheit, die die AAP unterstützen, und die Liberalen, deren Anschauungen geringschätzig als verwestlicht etikettiert werden und die der Meinung sind, dass der politische Newcomer die Hoffnungen auf eine politische Alternative enttäuscht hat. Drittens wird diese Kontroverse zu weiteren Streitigkeiten führen, da die Politik der AAP zu Gegenreaktionen bei  Funktionären führen wird, deren unrechtmäßiger Einfluss eingeschränkt werden soll. Viertens muss die Stärkung der Bürger auf kommunaler Ebene mit der Vermittlung eines demokratischen Bewusstseins einhergehen, sonst könnte es in einem bestimmten Bereich zur Aufzwingung von Mehrheitsansichten kommen.

Trotz allem haben die Kontroversen und politischen Entscheidungen der AAP geholfen, nicht nur in Delhi sondern im ganzen Land, viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dies ist von großer Bedeutung bei den landesweiten Wahlen in zwei Monaten, doch der besondere Charakter der AAP stellt die Partei weiter vor große Herausforderungen. Zum einen unterscheidet sich die Wählerschaft in den Städten von dervorwiegend ländlichen Bevölkerung Indiens, die mehr auf eine Politik der Identitäten eingestellt ist als auf die AAP-Politik der Interessen. Um 300 Sitze bei der landesweiten Wahl zu erreichen, bräuchte es außerdem ein Vielfaches des Budgets von 200 Mio. Rupien (ca. 2,3 Mio. Euro), das für den Wahlkampf in Delhi gesammelten wurde. Wird die Partei nach anderen Möglichkeiten zur Finanzierung ihrer Ziele suchen, auf die Gefahr hin das Image der Partei zu beschmutzen? Kann sie die Referenzen von über 300 Kandidaten, von denen viele der Parteiführung unbekannt sein dürften, überprüfen?

Abgesehen von diesen nicht absehbaren Faktoren, wird mit der AAP sicherlich in den Metropolen und Städten zu rechnen sein, die insgesamt knapp 100 Abgeordnete in die Lok Sabha schicken. Nur wenn es der AAP gelingt, 30 bis 40 Abgeordnete zu stellen, hat sie eine Chance, die nationale Politik mitzugestalten. Um diese Hürde zu meistern, müsste die AAP von einer Welle der Zustimmung getragen werden, die stark genug ist, alte Loyalitäten der Wähler zu erschüttern und sie als Anhänger zu gewinnen. Doch bislang ist von der Welle nicht mehr als ein Kräuseln zu spüren.