Die Grüne Pflege-Bürgerversicherung

Fraktionsbeschluss vom 27. März 2012
SOLIDARITÄT WIRKT! DIE GRÜNE PFLEGE-BÜRGERVERSICHERUNG
Für eine gerechte, sichere und nachhaltige Finanzierung

Zusammenfassung

Die Pflegepolitik steht angesichts des demografischen und sozialen Wandels in unserer Gesellschaft vor großen Herausforderungen. Die längst überfällige Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs muss nun endlich in die Tat umgesetzt werden, um einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Betreuung und Pflege voranzubringen.

Dazu braucht es einen soliden, nachhaltigen und gerechten Finanzierungsrahmen. Mit der Grünen Pflege-Bürgerversicherung legen wir ein Konzept vor, dass diese Kriterien erfüllt. Aktuelle Berechnungen, die im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen erstellt wurden, belegen deutlich, dass Solidarität wirkt!

Mit der Pflege-Bürgerversicherung ist eine verbesserte pflegerische Versorgung bei überschaubarer Beitragsentwicklung möglich. Zudem nehmen wir damit die Herausforderung zur Finanzierung der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs an.

Die Grüne Pflege-Bürgerversicherung

  • sorgt durch die Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger sowie Einkommensarten für mehr soziale Gerechtigkeit und stärkt dadurch die Solidarität,
  • dämpft den Anstieg der Pflegeversicherungsbeiträge im Rahmen der demografischen Entwicklung,
  • sieht für die Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eine 15-prozentige Ausweitung des Leistungsvolumens und eine werterhaltende Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung vor,
  • kommt auch mit diesen deutlichen Leistungsverbesserungen bei Einführung mit einem Beitragssatz von ca. 1,75 Prozentpunkten aus und sorgt mit einem maximalen Beitragssatz von knapp über 3 Prozentpunkten in 2055 für eine überschaubare und zumutbare Beitragssatzentwicklung,
  • kommt ohne weitere Maßnahmen zur Kostenbegrenzung im demografischen Wandel aus, wie etwa einer Demografiereserve.

Einleitung: Pflegepolitische Herausforderungen

Eine umfassende Pflegereform ist seit Jahren überfällig. Die schwarz-gelbe Koalition ist daran grandios gescheitert. Sie versprach Großtaten und rief 2011 zum „Jahr der Pflege“ aus. Die Ergebnisse aber sind eine einzige Enttäuschung. Auch vergangene Bundesregierungen verzeichneten pflegepolitisch nur kleine Fortschritte. Dabei liegen die Probleme, für deren Lösung auch eine solide Finanzierung notwendig ist, auf der Hand, wie zum Beispiel:

  • Die Zahl der Pflegebedürftigen wird mit der demografischen Entwicklung weiter zunehmen. Heute sind ca. 2,3 Mio. gesetzlich und ca. 0,13 Mio. privat Pflegeversicherte pflegebedürftig. Bis zum Jahr 2055 werden es ca. 3,7 Mio. gesetzlich Versicherte und ca. 0,65 Mio. privat Versicherte, insgesamt also etwa 4,35 Mio. Menschen sein. Zugleich sinkt stetig die Zahl der Beitragszahlenden. Stehen einem Pflegebedürftigen heute ca. 24 Beitragszahlende (gesetzlich und privat Versicherte) gegenüber, so wird dieses Verhältnis bis 2060 auf etwa 1:12 zurückgehen.
  • Vor allem in strukturschwachen Gebieten steigt der Anteil alter und hochbetagter Menschen, die auf Pflege und Betreuung angewiesen sind. Auch die Zahl Alleinlebender, ohne jeden Zugriff auf familiäre Netzwerke, nimmt zu. Immer weniger Familien leben in direkter örtlicher Nähe, u.a. wegen erhöhter beruflicher Mobilitätsanforderungen.
  • Frauen tragen auch bei zunehmender Erwerbstätigkeit noch immer die Hauptlast der familiären Pflege. Der Spagat zwischen Familie, Pflege und Beruf wird insbesondere für sie immer schwieriger.
  • Die Zahl von Menschen mit dementiellen Erkrankungen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen wird sich von heute ca. eine Million Betroffenen bis zum Jahr 2050 verdoppeln. Doch schon heute ist diese Personengruppe in der Pflegeversicherung unterversorgt.
  • Die Pflegeversicherung zielt zu sehr auf körperliche Einschränkungen. Sie ist nahezu blind für die Teilhabebedürfnisse pflegebedürftiger Menschen. Pflegerische Prävention und Rehabilitation stehen viel zu wenig im Fokus des Leistungsgeschehens.
  • Es gibt eine zunehmende Verschiebung von der ambulanten zur stationären Pflege. Die allermeisten Menschen jedoch wünschen sich die Versorgung in einer eigenen Häuslichkeit.
  • Mit der ungerechten Zweiteilung in Soziale Pflegeversicherung (SPV) und Private Pflegeversicherung (PPV) können sich heute ausgerechnet die wirtschaftlich leistungsstärksten und im Durchschnitt auch gesündesten Bevölkerungsgruppen dem Solidarausgleich entziehen.

Zur Bewältigung dieser Herausforderungen reicht eine Finanzreform allein nicht aus. Es bedarf zudem mutiger Strukturreformen und eines grundlegenden Umdenkens bei allen Akteuren, in Bund, Ländern und Kommunen, von der Politik über die Kostenträger und Leistungserbringer bis hin zu den Bürgerinnen und Bürgern. Dabei müssen die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen konsequent im Mittelpunkt aller pflegepolitischen Bemühungen stehen. Wir Grüne arbeiten beharrlich an entsprechenden Konzepten zur Weiterentwicklung der pflegerischen Versorgung.

Eine bessere Pflege wird mehr Geld kosten als heute zur Verfügung steht. Wir Grüne sagen deshalb schon lange, dass eine Erhöhung des Beitragssatzes auch in der Pflege-Bürgerversicherung kein Tabu sein darf. Wir sind davon überzeugt, dass dies von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert wird – wenn es solidarisch und sozial gerecht zugeht. Die Menschen wollen mehr, nicht weniger Solidarität. Mit der Pflege-Bürgerversicherung ist eine bessere Pflege zukunftsfähig, gerecht und mit überschaubar steigenden Beiträgen finanzierbar.

Zur Konkretisierung unseres Finanzierungskonzeptes hat die grüne Bundestagsfraktion ein Gutachten zu „Berechnungen der finanziellen Wirkungen verschiedener Varianten einer Pflegebürgerversicherung“ in Auftrag gegeben. Erstellt wurde es vom renommierten Pflegeökonomen Prof. Dr. Heinz Rothgang und seinem Team vom Zentrum für Sozialpolitik (ZES) der Universität Bremen.  Die Ergebnisse dieses Gutachtens bestätigen: Solidarität wirkt!

Die Grüne Pflegebürgerversicherung: Eckpunkte

Wie in der Krankenversicherung ist die Zweiteilung in SPV und PPV ungerecht und unbegründet. Letzteres erst recht in der Pflegeversicherung, denn SPV und PPV weisen seit jeher einen identischen Leistungskatalog auf. Auf der Leistungsseite gilt also längst eine Bürgerversicherung. Es ist daher an der Zeit, sie auch auf der Finanzierungsseite zu vollenden. Größere Probleme beim Übergang in eine Bürgerversicherung sind aufgrund der Ähnlichkeiten beider Zweige nicht zu erwarten.

Doch auch das in der SPV und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geltende Umlageverfahren weist Gerechtigkeitslücken auf. Die Finanzierung erfolgt einseitig durch Beiträge auf Löhne, Renten und Arbeitslosengeld. Dagegen bleiben Vermögenseinkommen und Gewinne beitragsfrei. Das ist ungerecht und entspricht zudem nicht mehr den Einkommensverhältnissen der Bürgerinnen und Bürger.
Deshalb gelten für die Grüne Pflege-Bürgerversicherung analog zu unserem Konzept der Kranken-Bürgerversicherung die folgenden Eckpunkte:

  • Alle Bürgerinnen und Bürger - auch Beamtinnen/Beamte, Abgeordnete und Selbstständige – werden Mitglieder der Pflege-Bürgerversicherung.
  • Alle Einkunftsarten – auch Vermögenseinkommen, Gewinne und Mieteinkünfte – werden in die Finanzierung der Pflegeversicherung einbezogen. Für kleine und mittlere Einkommensbeziehende werden Freigrenzen eingeräumt.
  • Die Beitragsbemessungsgrenze wird auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung (West) angehoben. Dies entspricht derzeit 5.600 Euro monatlich.
  • Die Beiträge auf Erwerbseinkommen aus abhängiger Beschäftigung werden weiterhin paritätisch finanziert. Der erhöhte Beitragssatz für kinderlose Versicherte bleibt in der Pflege-Bürgerversicherung bestehen.
  • Kinder bleiben kostenlos versichert. Nicht erwerbstätige Ehegattinnen/-gatten bzw. Lebenspartnerinnern/-partner müssen keine Beiträge zahlen, wenn sie Pflegeleistungen erbringen (mind. 14h/Woche) oder Kinder erziehen, die noch keinen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben. Für alle anderen Ehepaare und eingetragenen Lebensgemeinschaften wird ein Beitragssplitting eingeführt. Dabei wird das beitragspflichtige Haushaltseinkommen halbiert und auf beide Teile bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben. Damit ändert sich für Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze nichts. Besserverdienende Einverdiener-Ehen müssen dagegen auf einen höheren Anteil ihres Einkommens Beiträge entrichten.
  • Die Bürgerversicherung ist keine Einheitsversicherung. Auch weiterhin können die Versicherten ihre Versicherung frei wählen und freiwillige Zusatzversicherungen abschließen. Die Pflege-Bürgerversicherung kann auch durch private Versicherungsunternehmen angeboten werden, die sich dabei dem Wettbewerb mit den gesetzlichen Kassen stellen müssen. Die Regeln, die dabei für die Pflege-Bürgerversicherung gelten, sind: Umlagefinanzierung, einkommensbezogene Beiträge, einheitlicher Leistungskatalog, Kontrahierungszwang, Diskriminierungsverbot.

Auf der Leistungsseite müssen mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs gute Leistungen für alle Pflegebedürftigen ermöglicht werden. Der Pflegebedarf muss vollständig erfasst werden und auch Teilhabebedürfnisse, den Grad der Selbstständigkeit und Potenziale zur Prävention und Rehabilitation umfassen. Zum anderen werden die gedeckelten Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen nicht ausreichend der Preis- und Lohnentwicklung angepasst. Das führt zu einer schleichenden Entwertung der Leistungen. Erst mit der Pflegereform 2008 wurde eine regelmäßige Anpassung (Dynamisierung) der Leistungen an die Inflation eingeführt. Doch auch dies gleicht den Wertverlust nicht vollständig aus. Deshalb gelten als weitere Eckpunkte:

Ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff wird schnellstmöglich eingeführt. Dabei werden rein kostenneutrale Leistungsumschichtungen zu Lasten einiger Pflegebedürftiger vermieden. Ausgehend von den Kostenszenarien des Wissenschaftlichen Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs aus dem Jahr 2009 sind wir der Ansicht, dass für eine sinnvolle Umsetzung dieser Reform eine Ausweitung des Leistungsvolumens um etwa 15 Prozent angemessen ist.

Die Leistungen der Pflege-Bürgerversicherung werden regelmäßig so angepasst, dass ein Realwertverlust der Leistungen vermieden wird. Da sich die Pflegekosten zu etwa zwei Dritteln aus Personal- und zu etwa einem Drittel aus Sachkosten zusammensetzen, werden die Leistungen regelmäßig in diesem Verhältnis an die Lohnentwicklung und die Inflation angepasst.

Die Pflege-Bürgerversicherung bleibt ein Teilabsicherungssystem, das heißt sie wird auch weiterhin nur einen Teil der gesamten pflegerischen Kosten übernehmen, allerdings auf einem insgesamt höheren, ausgewogeneren Niveau.

Solidarität wirkt! Verlässlich - sicher - nachhaltig

Effekte der Pflege-Bürgerversicherung

Das Gutachten des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen zeigt eindeutig, dass die Pflege-Bürgerversicherung nicht nur eine wohlklingende Idee ist, sondern auch zählbare positive Ergebnisse bringt. Bei Einführung der Pflege-Bürgerversicherung kann der Beitragssatz gegenüber der SPV von den derzeit geltenden 1,95 Prozentpunkten um bis zu 0,4 Prozentpunkte gesenkt werden – das heißt um etwa ein Fünftel! Den größten Effekt erzielt dabei die Einbeziehung der heute Privatversicherten. Doch auch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) und die Einbeziehung aller Einkunftsarten sorgen nicht nur für mehr Gerechtigkeit, sondern tragen wesentlich zur Senkung des Beitragssatzes in der Pflege-Bürgerversicherung bei.

Angesichts der demografischen Entwicklung reicht der Blick auf die kurzfristigen Effekte eines Finanzierungskonzeptes aber nicht aus. Auch die künftigen Wirkungen sind von zentraler Bedeutung. Dabei zeigt sich: Die Pflege-Bürgerversicherung dämpft den Anstieg der Beitragssätze auch in der Zukunft. Sie wird immer geringere Beiträge erfordern, als bei Fortführung der SPV notwendig wären. Würde man die heutigen Leistungen der Pflegeversicherung beibehalten, dann kann in der Pflege-Bürgerversicherung der Beitragssatz auch auf Dauer unter 2,0 Prozentpunkten gehalten werden. In der SPV hingegen müsste der Beitrag auf ca. 2,2 Prozentpunkte steigen.

Doch die heutigen Leistungsbedingungen der Pflegeversicherung müssen dringend verbessert werden. Durch die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eine angemessene Leistungsdynamisierung (s.o.) sind Kostensteigerungen unausweichlich. Doch selbst mit diesen deutlichen Leistungsverbesserungen läge der Beitragssatz in der Pflege-Bürgerversicherung bei Einführung mit ca. 1,75 Prozentpunkten immer noch niedriger als in der heutigen SPV und würde bis 2055 auf maximal 3,2 Prozentpunkte ansteigen.

Diesen aus unserer Sicht notwendigen Beitragsanstieg wollen wir nicht kleinreden. Das zeigt, dass man natürlich auch in der Pflege-Bürgerversicherung sorgfältig haushalten muss. Es gilt verstärkt auf die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit durch Prävention und Rehabilitation und auf die Ambulantisierung der Versorgungsstrukturen zu setzen. Dies entspricht nicht nur den Wünschen nach einem selbstbestimmten Leben, sondern ermöglicht zudem Kosten zu begrenzen und Sparpotenziale zu erschließen. Doch eine ernsthafte volkswirtschaftliche Gefährdung ist in dieser Beitragsentwicklung nicht zu erkennen. Sie ist überschaubar und zumutbar. Zudem kommen diese Mehrausgaben den Pflegebedürftigen in Form besserer Leistungen zugute. Nicht zuletzt wird dadurch die wachsende Pflegedienstleistungsbranche gefördert und damit in zukunftssichere Beschäftigung investiert.

Verteilungswirkungen der Pflege-Bürgerversicherung

Die Berechnungen des Gutachtens zeigen deutlich, dass die Pflege-Bürgerversicherung die Beitragslasten zwischen Gering- und Besserverdienern gerechter verteilt und damit die Solidarität stärkt. Tendenziell werden in der Bürgerversicherung die bisher Sozialversicherten und insbesondere einkommensschwächere Haushalte entlastet. So werden mehr als die Hälfte der sozial versicherten Haushalte unterhalb eines monatlichen Einkommens von 3.000 Euro besser gestellt. Etwa 75 Prozent aller Alleinerziehenden erfahren eine Entlastung.

Oberhalb eines monatlichen Einkommens von 4.000 Euro werden hingegen mehr als die Hälfte der Haushalte etwas mehr gefordert als bisher. Die in der Regel einkommensstärkeren Privatversicherten werden in der Bürgerversicherung tendenziell ebenfalls stärker belastet. Etwa drei Viertel aller privatversicherten Haushalte ab einem Einkommen von 1.500 Euro müssen mit Beitragserhöhungen rechnen, die zumeist aber im einstelligen oder geringen zweistelligen Bereich liegen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Privatversicherte heute zumeist wesentlich geringere Versicherungsprämien zahlen als in der SPV üblich. Das ist vor allem auf die aktuell günstige Risikostruktur in der PPV zurückzuführen. Die Bürgerversicherung beendet diese „Rosinenpickerei“.

Einbeziehung der Alterungsrückstellungen der Privaten Pflegeversicherung in die Pflege-Bürgerversicherung

Die Bürgerversicherung ist kein Bestrafungsprogramm für Privatversicherte, sondern für alle eine sinnvolle Lösung. In der PPV wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2060 aufgrund der höheren Lebenserwartung und einer anderen Altersstruktur um 281 Prozent zunehmen. In der SPV dagegen wird sie nur um 53 Prozent steigen. Die zurzeit sehr günstige Versicherten- bzw. Risikostruktur der PPV wird zum Problem, wenn die Gruppe der heute 35- bis 65-jährigen Versicherten pflegebedürftig zu werden droht. Das führt auch in der Pflege-Bürgerversicherung zu deutlichen Kostensteigerungen und trägt spürbar zu den steigenden Beitragssätzen in der Zukunft bei.

In der PPV werden angesichts dieser massiven Alterungsproblematik derzeit sogenannte Alterungsrückstellungen gebildet, die sich heute auf etwa 20,4 Milliarden Euro belaufen. Es wird kontrovers diskutiert, ob diese Rückstellungen in eine Bürgerversicherung übernommen werden können. Wir meinen, dies ist gut begründbar und sollte daher sehr ernsthaft geprüft werden. Die Pflege-Bürgerversicherung wird die massive Zunahme der Zahl von Pflegebedürftigen unter den heute Privatversicherten schultern müssen. Dafür ist das Solidarsystem da! Das heißt aber auch, dass die Alterungsrückstellungen, die zu eben diesem Zwecke gebildet wurden, in die Bürgerversicherung einbezogen werden sollten. Denn auch die heute Privatversicherten werden in der Bürgerversicherung auf die Solidargemeinschaft angewiesen sein und davon profitieren.

An der langfristigen Beitragssatzentwicklung der Bürgerversicherung bis zum Jahr 2060 ändert es im Übrigen nichts, ob die Alterungsrückstellungen einbezogen werden oder nicht. Sie können aber bei Einführung der Bürgerversicherung für einige Zeit unterstützend zur Stabilisierung des Beitragssatzes wirken.

Die Pflege-Bürgerversicherung braucht keinen Kapitalstock

Das von uns beauftragte Gutachten zeigt deutlich, dass die Bildung eines Kapitalstocks für die Pflegeversicherung nicht zielführend ist. Die grüne Bundestagsfraktion selbst hat seit einigen Jahren den Aufbau einer „solidarischen Demografiereserve“ gefordert. Wenn alle Versicherten, so die damalige Idee, schon heute nach ihrer Leistungsfähigkeit in eine kollektive Rücklage einzahlen würden, so könnten daraus die demografisch bedingt steigenden Kosten besser abgefedert werden. Es könnte erreicht werden, dass die Versicherten in Gegenwart wie Zukunft einen konstanten Pflegeversicherungsbeitrag zahlen. Das wäre durchaus umsetzbar. Legt man in der Pflege-Bürgerversicherung den Beitragssatz von Beginn an auf 2,3 Prozentpunkte fest (ohne Reserve 1,75 Prozent), so könnte man eine Demografiereserve aufbauen. Der Beitragssatz könnte auf diesem Niveau bis zum Jahr 2060 konstant gehalten werden.

Doch eine Demografiereserve hätte zwei erhebliche Nachteile. Die Reserve wäre eine Rücklage auf Zeit und würde bis zum Jahr 2060 entspart. Der Zeitraum bis 2060 wurde gewählt, da ab dann die Zahl der Pflegebedürftigen nicht mehr steigt. Geschlussfolgert wurde, dass dann der Beitragssatz zur Pflegeversicherung wieder sinken könnte. Wir wissen nun, dass diese Annahme nur die halbe Wahrheit ist.

Tatsächlich wird die Zahl der Pflegebedürftigen ab 2050 wieder sinken, die Zahl der Beitragszahler/innen aber ebenso. Das heißt, der Beitragssatz kann ab 2060 nicht sinken, sondern bleibt auf einem konstant hohen Niveau. Nach der Entleerung der Demografiereserve würde der Beitragssatz also sprunghaft steigen müssen auf den dann erforderlichen Beitragssatz - das heißt von 2,3 Prozent auf dann etwa 3,15 Prozent. Generationengerechtigkeit wäre damit nicht auf Dauer, sondern nur für rund 50 Jahre gewährleistet. Das widerspricht dem eigentlichen Ziel der Demografiereserve.

Zum zweiten müsste das erforderliche Volumen der Demografiereserve bis zu 230 Milliarden Euro betragen. Es muss ernsthaft bezweifelt werden, dass solche großen Summen sicher vor politisch motiviertem Zugriff angelegt und zudem vor den Turbulenzen der Kapitalmärkte geschützt werden könnten.

Wir kommen deshalb zu dem Ergebnis, dass die Einführung einer Demografiereserve nicht sinnvoll ist und werden dieses Modell nicht weiter verfolgen. Damit erübrigt sich für uns Grüne jedoch keinesfalls die wichtige Diskussion über die generationengerechte Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Doch die Demografiereserve ist dafür nicht das richtige Instrument. Auch ohne ein solches Element der Kapitaldeckung bleibt die Beitragssatzentwicklung in der Pflege-Bürgerversicherung bei deutlichen Leistungsausweitungen insgesamt überschaubar. Mit der Pflege-Bürgerversicherung erreichen wir das Ziel einer verlässlichen, sicheren und gerechten Finanzierung einer besseren Pflege.

 

QuelleBundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Audio-Interview mit Elisabeth Scharfenberg (Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen) über die Reform der Pflegeversicherung. Das Interview wurde am Rande der Tagung "Deutschland im Pflegenotstand – Perspektiven und Probleme von Care Migration" in der Heinrich-Böll-Stiftung am 11. März 2014 aufgezeichnet.