Sport ohne Obdach

Symbol der Volksbewegung
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Das Symbol des "Copa Popular" – der "Cup des Volkes": einem Fußballturnier, das Aktivisten im Juni 2014 in Rio de Janeiro veranstaltet haben

Gut Hundert Leichtathleten, Trainer und Aktivisten – Frauen und Männer – versammelten sich am frühen Sonntagmorgen vor dem Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro. Das improvisierte Lauftraining ging über zwei Runden um das Gelände der Sportanlage. Unter den Läufern sind einige der erfolgreichsten Leichtathleten Brasiliens. Sie bereiten sich hoffnungsvoll auf die Olympischen Spiele 2016 vor. Die Athleten bezeichnen sich als "obdachlose Sportler", da es für sie in der zukünftigen Olympiastadt keinen Platz zum Trainieren gibt. "Ich nutze die Treppenstufen in der U-Bahn oder den Bürgersteig vor dem Rathaus zum Trainieren", sagt die Siebenkämpferin Marcelle da Cruz. Die 17-jährige hat bereits mehrere nationale Titel gewonnen und ist eine der Medaillen-Hoffnungen des Gastgeberlandes. Dort sei sogar Platz genug, um einige Hürden aufzustellen, sagt sie sarkastisch. "Aber wie sollen wir unter diesen Bedingungen Olympianiveau erreichen?"

Der morgendliche Lauf der "Bewegung der Obdachlosen Athleten" ist eine von vielen kreativen Aktionsformen, mit denen die Menschen in Brasilien auf die Missstände im Vorfeld der kommenden sportlichen Großereignisse aufmerksam machen wollen. Dem Auftakt am 9. März sollen regelmäßig weitere Protest-Trainings folgen.

Seit genau 14 Monaten können die Athleten ihre Wettkampfstätte, das Leichtathletikstadion Célio de Barros, nicht mehr betreten. Damals, am 9. Januar 2013, standen sie plötzlich vor verschlossenen Türen, niemand hatte sie informiert oder wenigstens ihre Habseligkeiten aus den Kabinen geholt. Die Laufbahn und die Anlagen wurden auf Anweisung der Stadtverwaltung demontiert. Auf dem Gelände direkt neben dem Maracanã sollte ein Shoppingcenter entstehen, um das zur Privatisierung ausgeschriebene Stadion für die Investoren noch attraktiver zu machen. Hunderte Millionen Euro hatte der Staat zuvor in dessen Renovierung investiert, damit es den Fifa-Ansprüchen genügt. Nach zahlreichen Protesten ruderte Bürgermeister Sérgio Cabral zurück und versprach, dass das Célio de Barros wieder aufgebaut würde – ein großer und seltener Erfolg der WM-kritischen Bewegung. Doch seitdem ist nichts passiert, und die Betroffenen befürchten, auf Dauer keine Trainingsstätte zu haben. "Für die da oben ist der Sport nur ein Kommerzspektakel. Der Breitensport kommt dabei unter die Räder", kritisierte einer der Protestläufer.

Auch in anderen Städten geht der Bau schicker Stadien auf Kosten anderer Sportanlagen, die für die Bevölkerung oftmals wichtiger sind als die Prestigeprojekte. Zum Beispiel in Salvador im Nordosten des Landes, wo die einzige wettkampfgeeignete Schwimmanlage dem Neubau des Stadions Fonte Nova weichen musste. "Nur den allerbesten Sportlern werden vernünftige Trainingsstätten geboten. Die anderen werden vernachlässigt", sagt Renato Consentino vom WM- und Olympia-kritischen Volkskomitee, das die Initiative der obdachlosen Sportler unterstützt. "Viele Leichtathleten haben Rio schon verlassen, eine Schande für die Olympiastadt."

Sport und Spiele statt Großereignisse

Der Unmut über die Milliardenausgaben für Fußball-WM und Olympische Spiele hat eine immer breitere, landesweite Protestbewegung auf den Plan gerufen. Kritisiert wird vor allem die Umstrukturierung der Städte – nicht im Interesse der Menschen, die dort wohnen und gerne bessere öffentliche Verkehrsmittel oder eine funktionierende Infrastruktur hätten, sondern ganz im Sinne eines medialen Sportspektakels, für das viele ärmere Bewohner von den Straßen oder aus ihren Wohnungen vertrieben werden.

Es wird nicht nur demonstriert. Zwar bringen die großen Protestmärsche, bei denen im Juni vergangenen Jahres Hunderttausende landesweit auf die Straßen gingen, und die oft gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Aktivisten und der Polizei die meiste Aufmerksamkeit für die Anliegen der Kritiker. Aber die Bewegung setzt zunehmend auch auf kreative Aktionsformen, verbindet Protest mit Kulturevents, organisiert Straßenkonzerte, Sport und Spiele. Ganz nach vergessener olympischer Tradition soll gezeigt werden, dass Sport viel mehr ist als Siegertreppchen, Medaillen und Kommerz. Dabeisein ist alles, und zwar für alle.

Deswegen wird es in einigen WM-Austragungsstädten nicht nur die offiziellen Fußballspiele geben, sondern auch eine Copa Popular contra as remoções, eine Volks-Meisterschaft gegen die Räumungen. Die erste Auflage dieses Turniers fand in Rio de Janeiro statt, am Tag des Anpfiffs des Confederation-Cups im vergangenen Juni.

Austragungsort war das Quilombo da Gamboa, ein Wohnprojekt mitten im heruntergekommenen Hafenviertel der Stadt. Dieses wollen die Stadtplaner mit viel Geld in ein modernes Business-Zentrum namens Porto Maravilha – "Wunderbarer Hafen" – verwandeln. Wohnungssuchende haben einige der leerstehenden Häuser dort vor Jahren besetzt. Viele sind bereits geräumt worden, das Quilombo da Gamboa soll einigen nun als Ausweichquartier dienen.

Zehn Männer und vier Frauenteams nahmen an dem Turnier teil. Alle stammen aus Favelas, die im Zuge der Stadtmodernisierung und des Baus neuer Verkehrswege von Vertreibungen bedroht sind. In den meisten sind bereits zahlreiche Häuser abgerissen worden, viele Bewohner mussten in Sozialwohnungen fernab ihrer ursprünglichen Gemeinden ziehen. Mit dabei waren Spieler vom benachbarten Providência-Hügel und von der am Rande des Olympiaparks gelegenen Vila Autódromo, Vila Recreio, der Favela Santa Marta oder der Favela Salgueiro, unweit des Maracanã-Stadions.

"Fußball ist für uns nicht nur ein Vergnügen, sondern auch eine Protestform geworden", sagt einer der Spieler. Trotz Nieselregens war die Stimmung ausgelassen, die Ballkünstler übertrafen sich gegenseitig im Dribbling. Nur die sonst üblichen, oft sexistischen Schmährufe gegen die Schiedsrichter bleiben aus. "Hier ist der Ort derjenigen, die sonst keine Stimme und keinen Raum haben, hier spielen die Ausgeschlossenen", tönte die charmante Stimme des Stadionsprechers.

Markenzeichen des Turniers war ein eigenes Maskottchen, das im Gegensatz zur Fifa-Logik bewusst auf Copyright verzichtete. Es gab auch viel Musik und natürlich viel kostenloses Grillfleisch für die Sportler. "Es war genial, hier mitzuspielen", sagte Criciúma Salgueiro vom Frauen-Siegerteam glücklich und erschöpft. "Wir haben richtig Werbung für Frauenfußball machen können." Die Presse war präsent, nicht nur das Fernsehen aus Brasilien, sondern auch Reporter aus aller Welt verfolgten das Spektakel. "Eigentlich könnte die WM zahlreiche Verbesserungen für die Stadt bringen. Aber es fehlt die Einbeziehung der Menschen", kritisiert Gustavo Mehl vom Volkskomitee.

Es war keine Veranstaltung gegen die Fußball-WM - im Gegenteil. Am Nachmittag wurde im Quilombo da Gamboa das Eröffnungsspiel des Confed-Cups Brasilien gegen Japan übertragen, und viele verfolgten gebannt das Auftreten ihrer Nationalelf. Initiativen wie die Volks-Meisterschaft sollen zeigen, wie Fußball die Menschen zusammenbringen kann – jenseits kommerzieller Fanmeilen und Public Viewing.

Sport als Vorwand für Vertreibungen

Bald wird in Rio de Janeiro ein weiteres Mal der Anpfiff zur Volks-Meisterschaft ertönen. Diesmal soll das Turnier länger dauern, mehrere Etappen werden im April und Mai stattfinden, die Endrunde dann im Juni zum WM-Beginn. Es werden auch mehr Teams da sein. Nicht nur aus räumungsbedrohten Gemeinden, sondern auch andere Gruppen, die von der elitären Ausrichtung der Fußball-WM betroffen sind: Straßenhändler, deren Präsenz die Fifa in Stadionnähe verboten hat, oder Obdachlose, die von den sozialen Säuberungen im Stadtzentrum betroffen sind. Auch verschiedene sozialen Bewegungen, die den Protest gegen die negativen Auswirkungen der Megaevents tragen, werden Teams aufstellen. Die Spielorte stehen noch nicht fest, sie werden aber in allen Teilen der Stadt liegen, überall dort, wo es zu Konflikten der Bewohner und der Stadtverwaltung kommt.

Sport als Protest gibt es auch in Santa Marta. Die Favela an einem steilen Abhang im Stadtteil Botafogo war die erste, die mit einer Einheit der sogenannten Befriedungspolizei UPP ausgestattet wurde. Seit gut sechs Jahren gibt es dort weniger Schießereien und Drogenhandel. Dafür kamen die Spekulanten, die Immobilienpreise in dem zentral gelegenen Armenviertel mit berauschendem Blick über das Meer schossen in die Höhe. Auch dort treibt die Stadtverwaltung Räumungen der Bewohner voran, insbesondere am oberen Teil des Berghangs, von wo aus es nicht mehr weit zu Aussichtspunkten und dem Wahrzeichen der Stadt, der Christusstatue, ist.

Weder WM noch Olympische Spiele brauchen die Grundstücke am Rand des Urwalds der Mata Atlántica. So erfand die Stadtverwaltung ein neues Argument, um die Bewohner zu vertreiben: Ihre Häuser seien an unsicheren Stellen errichtet, bei Regen könnten sie abrutschen. Studien, die das Gegenteil beweisen, werden schlicht ignoriert.

Unterstützt von Comitê Popular organisieren die Bewohner regelmäßig Wanderungen durch den Stadtteil. Dabei erzählen die Menschen, deren Familien teilweise seit 70 Jahren dort wohnen, von der Geschichte der Besiedlung, wie ohne jede staatliche Hilfe Wege gebaut und Strom gelegt wurde. Es geht um die Identität der Favela, einer Lebensweise, die sich die Menschen nicht nehmen lassen wollen. Sie wehren sich dagegen, von der Regierung und den Medien als Schandfleck oder Hort von Kriminellen stigmatisiert zu werden. "Wir sind stolz auf unsere Favela, hier fühlen wir uns wohl. Trotz aller Probleme, die es auch hier gibt, wird es ihnen nicht gelingen, uns hier zu vertreiben", sagt der Rapper Fiel, der auch das Basisradio in Santa Marta mit aufbaute – bis es 2012 als illegaler Sender geschlossen und er selbst wegen des Verstoßes gegen das Fernmeldegesetz verurteilt wurde.

Behausungen und Wohnungen von mehr als 20.000 Menschen wurden bislang allein in Rio de Janeiro geräumt, vielen weiteren droht das gleiche Schicksal. "Der Staat geht dabei völlig willkürlich vor, viele bekommen nicht einmal eine angemessene Entschädigung", erklärt der Aktivist Renato Consentino. Ursache sei der Wille der Regierung, die Sportereignisse für eine Elitisierung der Stadt zu nutzen. "Dem Profit der Reichen müssen viele Arme weichen. Gegen diese Politik machen wir mobil, mit Phantasie und immer mehr Leuten auf der Straße", so Consentino.