Ein gallisches Dorf in Brasilien

Cartoon, der die Zwangsräumungen für WM-Bauvorhaben kritisiert
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Als die Vila Autódromo in Rio de Janeiro für WM-Bauvorhaben geräumt werden soll, wehren sich die Bewohnner/innen mit einem beispielhaften Volksplan. (Der wurde Cartoon nachbearbeitet)

Die Siedlung Vila Autódromo in Rio de Janeiro entstand vor mehr als 30 Jahren, als sich Fischer und andere Geringverdiener am Rande der Lagune von Jacarepaguá niederließen. Schon in den 1980er Jahren wurde mit der "Vereinigung der Einwohner, Fischer und Freunde der Vila Autódromo" eine Interessenvertretung gegründet, die Infrastrukturmaßnahmen und öffentliche Investitionen in der wachsenden Siedlung forderte. Anfang der 1990er Jahre sprach der Bundesstaat Rio de Janeiro den Bewohnerinnen und Bewohnern das formelle Nutzungsrecht ihrer Grundstücke zu.

Doch aus der erhofften Rechtssicherheit wurde nichts. Die Stadt Rio begann wenige Jahre später einen regelrechten Feldzug gegen die Siedlung. Das Gelände sollte für Investoren aufgewertet werden. Daher brachte die Verwaltung ab 1993 immer wieder neue Gründe dafür an, warum die Siedlung verschwinden müsse. So hieß es zum Beispiel, dass die Siedlung "ästhetische, ökologische und landschaftliche" Schäden anrichte. Als die öffentlichen Denunzierungen begannen, suchte sich die Vila Autódromo Verbündete wie die "defensoria pública" (eine Art Staatsanwaltschaft für schutzwürdige Gruppen), soziale Organisationen und Fachleute, die sich für Bürgerrechte einsetzen. 

Im Fokus der Immobilienspekulationen

Einige Jahre passierte nichts. Aber mit der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele nach Brasilien wurde die drohende Räumung der Vila Autódromo im Jahre 2009 wieder konkret. Denn neue Projekte wiesen die gesamte Region für Immobilienspekulationen im Premium-Bereich aus. Sogar der Projektname "Nova Barra", so die Bezeichnung des vorgesehenen Erschließungsgebiets, lehnt sich an die Erweiterung der vornehmen Südzone entlang des Strandes von Barra da Tijuca an. Es war vorgesehen, Straßen zu verbreitern, Kanalisation und Strom zu legen und den öffentlichen Nahverkehr zu verbessern. Dies galt jedoch nicht für die Vila Autódromo.

Durch die Regierung bekamen die Gebiete Rund um die Siedlung nun Vorrang bei städtischen Infrastrukturprojekten, und das, obwohl Studien bewiesen, dass die Anbindung der nördlichen Stadtteile Rios Vorrang beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs haben müsste. Die Interessen der mächtigen Bauunternehmen und des Immobiliensektors verbanden sich mit den Interessen der Politik, etwa zur Finanzierung von Wahlkämpfen. In diesen Plänen war kein Platz mehr für eine Vila Autódromo, geschweige denn für Baumaßnahmen dort. Neue Hoffnung auf einen Erhalt der Siedlung wurde den Anwohnern 2012 gemacht, als Bürgermeister Eduardo Paes bei einer Versammlung dazu aufforderte, ihm Alternativvorschläge zu präsentieren. Die Idee des "Plano Popular" der Vila Autódromo entstand.

Ein "Volksplan" zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung

Den Beschluss, einen Alternativplan für die Vila Autódromo auszuarbeiten, traf das "WM- und Olympia-Volkskomitee" von Rio de Janeiro. Diese Widerstandsbewegung vereinigt verschiedene soziale Gruppen und Bewegungen, Organisationen und Wissenschaftler. Gemeinsam stellen sie die städtischen Projekte für die bevorstehenden Großereignisse in Frage und machen dabei begangene Menschenrechtsverletzungen öffentlich. Sowohl Vertreterinnen und Vertreter der Vila Autódromo als auch akademische Gruppen hatten bei der Entstehung dieser Widerstandsbewegung mitgewirkt. Zusammen gründeten sie nun das "Laboratorium für Stadtplanung in Konfliktsituationen". Koordiniert durch zwei Universitäten Rios, berät es seitdem die Bewohnerinnen und Bewohner der Vila Autódromo.
Der Alternativplan entstand unter großem Zeitdruck. Die Räumung schwebte die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über der Siedlung. Nur drei Monate nach den ersten Treffen im Oktober 2011 lag dann aber ein Entwurf vor.

Dieser sah vor, dass die Vila Autódromo und der geplante Olympiapark nebeneinander bestehen könnten. Am Ende des Projektes entschieden sich die Bewohnerinnen und Bewohner für eine Lösung, die den Ausbau der Siedlung innerhalb ihrer bestehenden Grenzen vorsah. Davon wäre das für den Olympiapark vorgesehene Gebiet nicht betroffen, nur bei den Zufahrtswegen wären Änderungen notwendig.

Der Plan beinhaltete auch konkrete Verbesserungsvorschläge für die Siedlung: die ökologische Sanierung der Umweltschutzzone am Ufer der Lagune von Jacarepaguá; die Basisinfrastruktur zur Frischwasserversorgung und Abwasserentsorgung; die Verbesserung des Transports innerhalb der Siedlung und der Anbindung an öffentliche Schulen, Krankenhäuser und kulturelle Einrichtungen; die Sanierung von Häusern in gesundheitsgefährdendem Zustand; Sport- und Kultureinrichtungen. Außerdem griffen die Autor/innen des Plans Vorschläge der Bewohner/innen auf, die das Zusammenleben und das Gemeinwesen in der Vila Autódromo verbessern sollten. Dazu gehörten Medien für interne Kommunikation, kulturelle Aktivitäten (z.B. Theater) und die Renovierung der Versammlungsräume. Eine zentrale Forderung der Bewohner war außerdem eine Kindertagesstätte.

So stellt der Volksplan viel mehr als nur eine Sammlung städtebaulicher Lösungen dar. Er ist Ausdruck einer Städteplanung, die die Bürger/innen aktiv mit einbezieht. Dadurch, dass dieser Plan realisierbare Alternativen nennt, die einerseits technische Anforderungen und andererseits die Forderungen der Bevölkerung berücksichtigt und sich dabei immer der öffentlichen Debatte stellt, zeigt er auf, wie man Stadtentwicklung demokratisieren kann.

Das falsche Spiel der Stadt Rio

Im Jahr 2012 berichtete die Zeitung O Globo[1] über eine  Ausschreibung für den Olympiapark, die die vollständige Beseitigung der Siedlung vorsah. Mithilfe der "defensoria pública" fochten die Bewohner diese Bekanntmachung an und legten den Alternativplan vor. Die Stadtverwaltung sicherte nun erneut den Erhalt der Siedlung zu und änderte die Ausschreibung.

Es konnte kaum überraschen, dass das Konsortium um das Unternehmen Carvalho Hosken, Eigentümer weitläufiger Grundstücke in diesem Gebiet, zusammen mit den  beiden großen Bauunternehmen Odebrecht und Andrade Gutierrez die Ausschreibung gewann. Als das Konsortium seinen Bebauungsplan vorlegte, präsentierte die Stadt plötzlich neue Begründungen für die Beseitigung der Siedlung. Diesmal waren es Straßenbaupläne – ein Schnellstraßenzubringer und ein Busterminal für die BRT- Strecken ("Bus Rapid Transit"). Wieder einmal standen ohne vorherige Studien oder öffentliche Debatten neue Argumente im Raum. Bei den diversen Straßenbauprojekten in diesem Gebiet kam es in den letzten Jahren zu einer Reihe von Unregelmäßigkeiten. Unter anderem wurden sie mehrfach verändert, ohne die gesetzlich vorgeschriebenen öffentlichen Verfahren und Folgenabschätzungen für die Vila Autódromo. Obwohl es in der Umgebung unbebaute Flächen gibt, die sich in öffentlichem Besitz befinden, haben die Behörden zu keinem Zeitpunkt Alternativen mit geringeren Auswirkungen auf die Vila Autódromo in Betracht gezogen.

Die Bewohner haben dem Bürgermeister ihren Volksplan bei einer Anhörung im August 2012 vorgestellt. Da Wahlkampf herrschte, versprach dieser, ihn prüfen zu lassen und innerhalb von 45 Tagen Rückmeldung zu geben. Die Rückmeldung ist nie eingetroffen. Nach den Wahlen bedrohte der wiedergewählte Bürgermeister Paes die Siedlung erneut. Mehrere Zeitungen kündigten die Räumung der Vila Autódromo für Februar 2014 an und berichteten über den Beginn des Bauprojekts Parque Carioca, das im Rahmen des öffentlichen Sozialwohnungsprogramms Minha Casa, Minha Vida ("Mein Haus, Mein Leben") Wohnungen für die Zwangsumgesiedelten vorsieht.
Ein weiteres Mal schickte die Stadt ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Siedlung. Diese waren entweder schlecht vorbereitet oder sogar dafür geschult, die Bevölkerung vorsätzlich falsch zu informieren. Sie sprachen Drohungen aus, streuten Gerüchte, machten Versprechungen – alles nur, um die Bewohnerinnen und Bewohner der Vila Autódromo dazu zu bewegen, einer Umsiedlung schriftlich zuzustimmen. Die Stadtverwaltung präsentierte nun ein weiteres Argument für die Räumung: Die Siedlung sei städtebaulich unterversorgt. Dabei hatte sie selbst ein Projekt zur Wasserversorgung und Abwasserentsorgung zurückgewiesen, obwohl die Wasserwerke grünes Licht gegeben hatten. Die landesweiten Massenproteste vom Juni 2013 weckten neue Hoffnungen. Doch zwischenzeitliche Verhandlungen beendete die Stadt abrupt. Die Schikanen der Stadtverwaltung gingen weiter, insbesondere die Versuche, die Siedlung zu spalten.

Im Oktober 2013 beschuldigten Bewohnerinnen und Bewohner der Vila Autódromo die Stadt, eine Demonstration für die Umsiedlung fingiert und dafür 20 Personen mit Spruchbändern ausgestattet zu haben. Ganz im Gegensatz zu den unzähligen Demonstrationen gegen die Regierung der Stadt, die überall in Rio stattfinden, wurde über diese "Demonstration" in mehreren Zeitungen der großen Medienhäuser ausführlich berichtet. Unter Beobachtung der Kameras von Rede Globo, dem größten brasilianischen Fernsehsender, empfing der Bürgermeister die Demonstrantinnen und Demonstranten in seinem Büro. Die über 250 Bewohnerinnen und Bewohner hingegen, die Verbesserungen in der Vila Autódromo fordern und dort bleiben wollen, können sich kaum Gehör verschaffen.[2]

Internationale Anerkennung

Im Dezember 2013 errang der Volksplan – ohne jede Beteiligung der Stadt Rio – den ersten Preis des "Urban Age Awards", der gemeinsam von der London School of Economics und der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft der Deutschen Bank vergeben wird. Dieser Preis, für den sich im Ballungsgebiet Rio de Janeiros 170 Projekte beworben hatten, zeichnet kreative urbane Initiativen aus.

"Wir teilen diesen Preis mit allen Gemeinden und mit allen, die mitgewirkt oder uns die Daumen gedrückt haben. In einer Zeit, in der die jüngsten Aktionen der Stadt uns Sorgen machen, bringt dieser Preis den Bewohner/innen Selbstwertgefühl“, sagte Inalva Mendes Brito, die seit den 1980er Jahren in der Siedlung wohnt. Und abschließend: "In Rio ist jetzt die Zeit der Straßenproteste und der Kämpfe um Bürgerrechte, und dieser Preis ermutigt uns, weiter zu machen." Die Zukunft der Vila Autódromo bleibt weiter ungewiss. Aber die Geschichte des Kampfes ihrer Bewohnerinnen und Bewohner dient anderen bedrohten Gemeinden in Rio de Janeiro und Brasilien als Beispiel und Vorbild.

[1] Siehe Artikel "Consórcio liderado pela Odebrecht vence licitação para Parque Olímpico", erschienen 5. März 2012 in Globo.

[2] Siehe Artikel "Moradores da Vila Autódromo fazem ato contra a remoção em frente à Prefeitura" im Portal Popular de Copa vom 7. November 2013.