Handeln und Verhandeln

Eine gemeinsame Handelspolitik gehört zu den Fundamenten der europäischen Integration. Schon 1958 entstand die erste Zollunion. Mittlerweile vertritt die Europäische Kommission die Handelsinteressen der 28 Mitgliedstaaten gegenüber anderen Ländern, entweder multilateral im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO oder bilateral mit einzelnen Drittstaaten. In Abkommen werden der Abbau oder auch das Beibehalten von Zöllen geregelt, Kontingente für die Ein- oder Ausfuhr bestimmter Waren festgelegt oder Schutzvorschriften und Rahmenbedingungen für Investitionen oder geistiges Eigentum vereinbart.


Dabei geht es immer um die Frage, ob Gesetze den Austausch von Waren und Dienstleistungen mit einem anderen Land behindern und ob sie daher abgeschafft oder umgestaltet werden sollten. Dieser Prozess des Aushandelns wirkt sich auf die nationale Gesetzgebung, auf Produktionsstrukturen und die Ausgestaltung der inländischen Wirtschaftspolitik aus: Welche Produkte sind so bedeutend, dass sie weiter durch Zölle geschützt werden? Wie müssen Subventionen gestaltet sein, um bei einem Partnerland keine Gegenwehr zu provozieren? Welche Produktionsverfahren sind zugelassen, welche nicht?

Die Europäische Union ist ein mächtiger Verhandlungspartner, denn ihre Mitgliedsländer sprechen seit Jahrzehnten mit einer Stimme. Gleichzeitig ist Europa ein attraktiver Absatzmarkt und wichtiger Lieferant. Der Weltmarktanteil der EU am Handel mit Waren und Dienstleistungen lag 2012 bei 20 Prozent. Bei den Warenexporten ist die EU mit 15 Prozent Spitzenreiterin noch vor China und den USA (14 und 10,4 Prozent) und im Dienstleistungsbereich kommen die EU-Exporte sogar auf 25 Prozent des Welthandels (USA 19, China 5,7 Prozent). Dabei bleiben die USA der wichtigste Absatzmarkt für europäische Produkte. Auch wenn der Asienhandel zunimmt, gehen knapp ein Fünftel der EU-Ausfuhren in die USA.


Um diese Verbindungen weiter zu stärken, verhandelt Brüssel seit 2013 mit Washington über ein neues Abkommen, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Die Gespräche finden hinter verschlossenen Türen statt. Zivilgesellschaftliche Gruppen sowie Bürgerinnen und Bürger auf beiden Seiten des Atlantiks fürchten, dass die bisherigen Standards beim Verbraucherschutz, der Nahrungsmittelsicherheit oder beim Datenschutz aufgeweicht werden, weil sie allesamt als Handelshemmnisse gelten könnten. Auf größte Kritik stoßen die Regelungen zum unternehmerfreundlichen Investitionsschutz. Er würde Konzernen Schadenersatzklagen gegen Staaten ermöglichen, wenn zum Beispiel strengere Umweltauflagen nachteilig für die Investoren werden. Entwicklungs- und Schwellenländer fürchten hingegen, Marktanteile zu verlieren. Denn durch Vergünstigungen der EU haben sie Exportindustrien für die europäischen Märkte entwickelt, die gefährdet sind, falls Produkte aus den USA bessere Chancen erhalten.

Die EU betrachtet ihre Handelspolitik als Bestandteil ihrer entwicklungspolitischen Strategie zugunsten armer Länder. Dafür sind zwei Abkommen von besonderer Bedeutung. Die "Everything but Arms"-Vereinbarung erlaubt den 48 am wenigsten entwickelten Ländern, alle Produkte außer Waffen zollfrei in die EU einzuführen. Ihr Anteil an den EU-Importen liegt zwar nur bei 0,6 Prozent, aber das Volumen von 10,5 Milliarden Euro ist für sie beachtlich. Die "Wirtschaftspartnerschaftsabkommen" (EPA)  hingegen umfassen wirtschaftliche, technische und finanzielle Kooperationen und gelten für 79 ehemalige europäische Kolonien in Afrika, der Karibik und dem Pazifik (AKP; 39 gehören zugleich zu den ärmsten Ländern). Die EPA verpflichten die AKP-Staaten, von denen 3 Prozent der EU-Importe stammen, ihre Märkte zu öffnen. Bisher haben aber nur wenige Regierungen solche Abkommen unterschrieben. Denn mit den Zollsenkungen gelangen die preisgünstigen europäischen Produkte in diese Länder, was die fragile lokale Wirtschaft schädigen und die Armutsbekämpfung zurückwerfen kann.

Ohnehin, kritisieren zivilgesellschaftliche Organisationen, würden die Auswirkungen der EU-Handelspolitik auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Lage der Menschenrechte zu wenig überprüft. Dabei ist dies im Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, verankert. Die Gruppen fordern deswegen eine umfassende Menschenrechtsklausel in allen Abkommen zur Exportförderung. Die Klausel sieht einen Kontroll- und Revisionsmechanismus vor, mit dem geprüft wird, ob die handelspolitischen Vereinbarungen bestimmte Bevölkerungsgruppen – etwa durch Landvertreibung – existenziell bedrohen.

Dieser Artikel erschien im Europa-Atlas, den die Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, dem European Council of Foreign Relations und Le Monde Diplomatique am 6. Mai 2014 herausgegeben hat.