Agrarpolitik für Reiche

Protestierende auf der Demo "Wir haben es satt" gegen eine subventionierte, umweltschädliche Landwirtschaft am 13. Januar 2013 in Berlin
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Protestierende auf der Demo "Wir haben es satt" gegen eine subventionierte, umweltschädliche Landwirtschaft am 13. Januar 2013 in Berlin

Die Erinnerung an den Hunger der Nachkriegszeit stand am Anfang der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik. Als sie 1958 mit sechs Ländern begann, ging es um höhere Erträge, die mit Rationalisierung, Technisierung und mehr Effizienz erreicht werden sollten. Wer einen Hof bewirtschaftete, sollte mehr verdienen, die Bevölkerung sicher versorgen und die Märkte unabhängig von Nahrungsmittelimporten aus anderen Ländern machen.

Die Regierungen  ignorierten zunächst fast vollständig, dass der Agrarsektor von Land zu Land auf ganz unterschiedlichen Strukturen, ökologischen, sozialen und kulturellen Traditionen beruhte. Der Produktivitätszuwachs war ein Erfolg auf ganzer Linie. Konnte 1950 ein landwirtschaftlicher Betrieb etwa zehn Menschen ernähren, so produziert er heute für 133. Größe zählt – wer zu wenig Flächen bewirtschaftet, muss schließen. Seit den 1970er Jahren hat sich die Zahl der Betriebe in vielen Ländern der EU halbiert, und das Sterben der Höfe geht weiter. In Italien, Spanien und Deutschland gaben in den vergangenen fünfzehn Jahren jeweils mehr als 200.000 Betriebe auf.


Mit rund 58 Milliarden Euro subventioniert die EU derzeit jährlich ihre Landwirtschaft. Der größte Teil dieser Summe kommt den effizienten und großen Betrieben zugute. So erhalten in Deutschland 2 Prozent der Betriebe jeweils mehr als 100.000 Euro jährlich von der EU, während an die Hälfte der Betriebe weniger als je 5.000 Euro im Jahr ausgezahlt werden. Die hinreichend großen Unternehmen produzieren so viel, dass die EU zu den wichtigsten Agrar-Exporteurinnen auf dem Weltmarkt gehört, insbesondere von Getreide, Fleisch und Milchprodukten.


In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die EU zugleich zu einer Großimporteurin von Futtermitteln geworden, denn die Tiere, die sie zur Fleisch- und Milchproduktion erzeugt, müssen ernährt werden. Weidehaltung lohnt sich kaum, sehr dagegen die Massentierhaltung in Ställen, in denen die Tiere durch intensive Mast in kürzester Zeit ihr Schlachtgewicht erreichen. Das dafür nötige Eiweißkraftfutter ist Soja und kommt aus den USA, Brasilien und Argentinien. Die von der EU importierten 35 Millionen Tonnen wachsen auf einer Fläche von 17 Millionen Hektar – allein für Tierfutter braucht die EU rechnerisch die gesamte Agrarfläche Deutschlands. Die Nachfrage hat Folgen: 2011 stieg in Argentinien der Soja-Anbau um die Fläche Sachsen-Anhalts, in Brasilien um die von Mecklenburg-Vorpommern.

In beiden Ländern sind mehr als 90 Prozent des angebauten Sojas gentechnisch verändert. Die Produktion auf riesigen Feldern vernichtet die biologische Vielfalt, die Agrarchemikalien verschmutzen das Wasser, Rinderzüchter weichen vor den Großpächtern in Waldgebiete aus und holzen ab. Wer in Europa Lebensmittel einkauft, merkt nichts von diesen Folgen der Fehlanreize, die die EU-Agrarpolitik gibt.

Nicht nur ökologisch, auch ökonomisch hat sich die Verknüpfung der heimischen Landwirtschaft mit dem internationalen Handel negativ ausgewirkt. Über Jahrzehnte hat die EU mit ihren stark subventionierten Exporten auf die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel gedrückt. Viele afrikanische Länder stiegen auf billige Importe um, anstatt die eigene Landwirtschaft zu fördern. Das rächt sich jetzt: Die große Nachfrage nach Futtermitteln treibt heute die meisten Preise auf den globalen Agrarmärkten in die Höhe. Dadurch verteuern sich die eingeführten Nahrungsmittel. Für staatliche Subventionen fehlt das Geld, und die verbliebenen Produzentinnen und Produzenten können die Importe nicht ersetzen. Die Preise auf den lokalen Märkten steigen und steigen – Hunger und „Brotunruhen“ sind die Folge.

Neuerdings kommt ein Konflikt mit der Energiepolitik der Europäischen Union hinzu. Für Biogasanlagen und Agrartreibstoffe werden die Flächen gebraucht, die sonst Nahrungsmittel für unsere Teller produzieren. Um bis 2020 im Energiemix 10 Prozent Erneuerbare zu haben, muss Biomasse – etwa Getreide oder Zuckerrüben – stark gefördert werden. Eine positive Klimabilanz ist dabei selten: Die steigende Nachfrage führt zur Ausdehnung der Anbauflächen mit noch intensiverer Produktion, noch mehr Dünger und noch mehr Monokulturen.

An der Kritik der Gemeinsamen Agrarpolitik ändern auch kleine Reformen nichts. 2013 schlug die Kommission unter Agrarkommissar Ciolos vor, sie „ökologischer, gerechter, transparenter, effektiver“ zu machen. Dazu sollten Kappungsgrenzen für Großbetriebe gehören, mehr Unterstützung für Höfe in schwierigen geografischen Lagen und viel höhere Investitionen in die „zweite Säule der Agrarpolitik“, die für ökologische und soziale Maßnahmen gedacht ist. Doch die Hoffnung der Umweltverbände, dass es nun in die richtige Richtung gehe, war vergebens. Die Mitgliedstaaten haben das Paket verwässert, die Agrarlobby war auf nationaler Ebene erfolgreich. Die nächste Reform ist erst für das Jahr 2020 angesetzt.    

 

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