Die Zwangsräumungen und das Recht auf Stadt

"Wir wollen unsere Entschädigungszahlungen" steht auf diesem Aushang in der Nachbarschaft der Siedlung Campinho im Norden Rio de Janeiros

Orlando Alves dos Santos Júnior ist Professor am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (IPPUR/UFRJ) und ehemaliger Berichterstatter der brasilianischen Menschenrechtsplattform DHESCA für den Bereich Menschenrecht auf Stadt. Im Interview mit der Heinrich-Böll-Stiftung spricht er über die derzeitigen Verletzungen des Rechts auf Stadt in Brasilien. In den Jahren 2010 und 2011 war er in verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten unterwegs, um Hinweise auf Verletzung des Rechts auf Stadt zu untersuchen, wie etwa in Rio de Janeiro, wo er die Räumungsprozesse verfolgte, die wegen der Bauvorhaben für die sportlichen Megaevents stattfanden. Das Gespräch mit Orlando Alves dos Santos Júnior fand im IPPUR in Rio de Janeiro statt.

In letzter Zeit häufen sich die Klagen über Verletzungen des allgemeinen Rechts auf Stadt. Worin besteht dieses Recht?

Eine der Betrachtungsweisen des Rechts auf Stadt geht auf den französischen Philosophen Henri Lefebvre zurück. Er war der erste, der das Konzept des Rechts auf Stadt entwickelt und formuliert hat. Zahllose soziale und intellektuelle Bewegungen folgten ihm und entwickelten diese Idee weiter. Das Konzept von Levebvre ist meines Erachtens ein zweidimensionales: Die erste Dimension behandelt das Recht auf die soziale Reproduktion einer Stadt in Würde, also das Recht auf Wohnung, auf sanitäre Infrastruktur, auf Transport, auf Mobilität, auf Erziehung und auf Gesundheit. Ich würde sagen, dass in dieser Perspektive das Recht auf Stadt eine Klage ist, eine Notwendigkeit. Es geht hier um die soziale Reproduktion im eigentlichen Sinn. Diese soziale Reproduktion darf nicht dem Gesetz des Marktes unterliegen, sie muss für jede und jeden gewährleistet sein. Wenn wir etwas als „soziales Recht“ bezeichnen, bedeutet das, dass – unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen – ein gewisser Mindestqualitätsstandard bezüglich der sozialen Reproduktion gewährleistet sein muss.

Das ist die erste Dimension seines Konzepts, aber es gibt eine zweite: Die Art und Weise, wie sich eine Stadt organisiert und wie wir unser Leben in einer Stadt organisieren, beeinflussen unser Kommen und Gehen, unsere Art zu denken, unsere Art zu existieren. Und deshalb hat jeder eine Meinung darüber, wie die Stadt organisiert ist oder wie sie oder er sich wünscht, dass sie organisiert werde. Es gibt also diese Dimension, die mit dem Recht aller Bürger/innen zusammenhängt, an den Entscheidungen über diese Organisation der Stadt beteiligt zu sein. Es ist eine die Demokratie bestätigende Dimension, zu ihr gehören demokratische Radikalität, Partizipation und Entscheidungsmacht über die Stadt. Auch diese Dimension ist Teil des Konzepts des Rechts auf Stadt.
 

Wie verhält es sich vor dem Hintergrund dieses Rechts auf Stadt mit den Zwangsräumungen in Rio de Janeiro? Das Dossier des WM- und Olympia-Volkskomitees von Rio aus dem Jahr 2013 zählt 3.000 Familien, die bereits ihre Häuser verloren haben, und schätzt, dass diese Zahl auf 11.000 anwachsen könnte. Sind diese Zahlen aktuell?

Ja, wenn auch zu niedrig geschätzt. Das liegt an der herrschenden Desinformationspolitik. Es werden keine detaillierten Informationen über die Räumungsprojekte und die davon betroffenen Gebiete herausgegeben. Was dazu führt, dass die betroffenen Bewohner sich nicht rechtzeitig organisieren können. Immer wenn wir in von Räumung bedrohte Favelas kamen, trafen wir dort eine völlig verunsicherte Bevölkerung an. Niemand hatte genaue Informationen. Wenn die Staatsmacht auftritt, verbreitet sie im ersten Schritt eine Welle der Angst: „Achtung, Ihr müsst hier weg.“ Wenn dann das Bauunternehmen auftaucht, fangen die Gerüchte an. Keiner setzt sich mit den Bewohnern hin, um in Ruhe zu diskutieren, es gibt kein Projekt, nichts. Dieses Angstklima ist Teil der Nötigung, der die Bewohner/innen durch diese Räumungsprozesse ausgesetzt sind.
 

Gehört das Angstklima bei diesen Räumungen zur Strategie der Stadtverwaltung?

Natürlich. Ihr Ziel ist es ja, die Verhandlungsposition der Bewohner zu schwächen, damit sie das Angebot der Stadt schließlich annehmen. Sie werden regelrecht terrorisiert, so dass die Stadt es schließlich mit eingeschüchterten, verunsicherten Bewohnern zu tun hat. Verunsicherung ist Teil der Strategie – die Schwächung ihres Gegenübers, die Schwächung der Bürgerrechte – sie sind Bestandteil der Interventionslogik der Stadtverwaltung. Ein anderer strategischer Grundsatz ist es, niemals kollektiv zu verhandeln. Die Stadt verhandelt ausschließlich mit Einzelpersonen und erkennt keine Kollektivvertretungen an. Es wird auch gedroht: „Wenn Du dieses Angebot nicht annimmst, wird es nachher für Dich schlecht aussehen.“ In allen Fällen, in denen wir Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen untersuchten, waren die Betroffenen vorher vor Gericht gegangen. So als würde die Stadt sagen: „Wenn Du vor Gericht gehst, um Deine Rechte einzufordern, werden wir Dich bestrafen.“ Es gibt außerdem Beweise für fristlose Räumungen. Wir haben auch nächtliche Zwangsräumungen miterlebt. Und dann gab es auch eine große Anzahl von Rechtsverletzungen dadurch, dass einstweilige Verfügungen missachtet wurden.

Aber selbstverständlich gibt es Widerstand. Selbst unter solchen Bedingungen gibt es Menschen, die sich mobilisieren und organisieren. Das zwingt die Stadtverwaltung schließlich, ihre Verhandlungsstrategie zu ändern. Bevor es diesen Widerstand gab, begannen die angebotenen Entschädigungssummen bei 2.000 Euro. Heute existiert ein Dekret, dass die Obergrenze bei 26.700 Euro festlegt – was natürlich nicht heißt, dass jeder soviel bekommt. Auch wenn die Erfolge im Kampf gegen diese Form behördlicher Intervention immer noch sehr klein, ja, peripher sind, erkennt man doch insgesamt wichtige Veränderungen, die man den WM-Volkskomitees und anderen Volksbewegungen, die sich in diesem Zusammenhang gebildet haben, zuschreiben kann.

Die Höhe der Entschädigungen wird immer am Haus gemessen und nicht am Grundbesitz?

Laut Dekret existiert ein Standort-Zuschlag [aber keine Entschädigung für Grundbesitz]. Das Stadt-Statut sieht ja die Anerkennung des Grundbesitzes bereits vor. Aber damit würde sich die Exekutive Ärger mit der Staatsanwaltschaft bzw. mit dem Rechnungshof einhandeln. Also erkennt die Stadt den Grundbesitz nicht an.
 

Gibt es eine offizielle Stelle, einen formalisierte Kommunikationsweg, über den die Stadt sich mit den Bürgern über die Räumungen und die Bauvorhaben berät?

Nicht einen einzigen. Und die Menschen täuschen sich insgesamt schwer: Kaum jemand begreift die wirklichen Ausmaße dessen, was an den WM-Standorten in Brasilien gerade geschieht. Was ich sagen will, ist, dass die Folgen der Megaevents dich als Bürger Rio de Janeiros, mich als Bürger Rio de Janeiros sowie jeden anderen Bürger Rio de Janeiros erreichen werden. Daher sollte die Partizipation der Bürger bei den Interventionen im Vorlauf der WM und der Olympischen Spiele nicht auf die direkt Betroffenen beschränkt bleiben. Tatsache ist, dass es heute weder Möglichkeiten der Partizipation der Gesellschaft insgesamt, noch der direkt betroffenen Gemeinschaften gibt – im Widerspruch zu dem, was im Stadt-Statut festgelegt wurde. Wir müssen gar nichts neu erfinden, denn dort steht klipp und klar, dass die Stadt bei jedem urbanen Interventionsprojekt die direkt betroffene Bevölkerung mit einbeziehen muss. Aber unsere Stadtverwaltung zerreißt dieses Statut einfach.
 

Der Fall der Favela Campinho im Norden Rios ist beispielhaft für die Praxis der Gesetzesverstöße bei Räumungsverfahren. Wie können diese Verstöße aufgeklärt werden, nachdem die Favela bereits komplett geräumt und abgerissen wurde? Können die Bewohner auf Verbesserung ihrer Entschädigungen hoffen?

Das hängt sehr vom Grad der Mobilisierung ab und davon, wie die Verhandlungen geführt wurden. Im Fall von Campinho haben wir die Verhandlungen mit den letzten sich der Räumung widersetzenden Bewohnern eng begleitet. Eine Gruppe von Familien war in den Westen von Rio umgesiedelt worden, in Häuser des öffentlichen Sozialwohnungsprogramms Minha Casa, Minha Vida, die anderen waren nun Teil einer Verhandlung, die, sozusagen „weniger pervers“ ablief, da sie schließlich ihr Recht auf Entschädigung durchsetzten. Sie wurden beim Kauf von Ersatzwohnraum unterstützt, so dass sie nun in der Nähe ihrer alten Wohnungen leben können – nachdem sie durch die Hölle gegangen sind.

Die Sozialwohnungen von Minha Casa, Minha Vida in Cosmos befinden sich 60 Kilometer entfernt von Campinho?

Genau. Und es gab den Fall eines Bewohners, dessen Haus irrtümlicherweise ohne Gerichtsbefehl abgerissen wurde. Damals war ich auf Mission als Berichterstatter der DHESCA-Plattform dort. Wie damals üblich hatten wir für den nächsten Tag eine Anhörung beim Wohnungsamt vereinbart, um in der Nacht vorher zu verhandeln. Ich glaube, es war die Nacht von Donnerstag auf Freitag und die städtischen Beamten hatten vor, um sechs Uhr morgens mit dem Abriss zu beginnen. Es war eine chaotische Nacht, in der wir versuchten, den Räumungsbescheid außer Kraft zu setzen, der ja die Verhandlungen und den Termin am morgen ad absurdum führte. Hierbei bemerkt man, wie unkoordiniert die verschiedenen Abteilungen der Stadtverwaltung agieren. Während das Wohnungsamt abwarten und verhandeln wollte, ging es dem Bauamt und der Staatsanwaltschaft darum, möglichst schnell durchzugreifen. Es ist also auch nicht richtig, die öffentliche Verwaltung als eine monolithische Einheit zu betrachten. Obwohl sich generelle Muster bei der städtischen Intervention erkennen lassen, gibt es auch unterschiedliche Haltungen und Abläufe. Es gibt Widersprüche und unterschiedliche Richtungen auch innerhalb des städtischen Verwaltungsapparats.

Und die Frauen? Sind sie von den Räumungen stärker betroffen

Ich glaube, Frauen sind eine Gruppe, die unter den Räumungen mehr leidet. Weil die Familien leiden. Die Dominanz der Männer in der Gesellschaft fußt ja auf der Trennung des Privaten und des Öffentlichen, des reproduktiven und des produktiven Bereichs. Frauen, als Verantwortliche des reproduktiven Bereichs, leiden stärker unter den Räumungen, weil genau dieser Bereich dabei zerstört wird. Es geht hier um Umsiedlungen von Menschen an weit entlegene Orte, an denen die Schulsituation für die Kinder sich vollständig ändert und auch der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, die Mobilität und die Sicherheit. Viele dieser Orte werden von der Miliz kontrolliert.

Es geht also auch um die Rollen der Frauen?

Genau. In diesem Fall sind sie ganz klar die stärker Betroffenen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass der Diskurs hierbei nicht vereinfachend verläuft. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Familien, die zwangsgeräumt werden, aus homogenen Gemeinschaften kommen. Das so darzustellen, ist stark vereinfachend und...

Ist das gefährlich?

Ja, und es ist auch hinderlich für die Gemeinschaften selbst, wenn man alle Bewohnerinnen und Bewohner über einen Kamm schert. Es gibt nämlich in den Favelas, die wir begleitet haben, eine Vielzahl verschiedener Situationen. Es gibt Familien, die integriert und Teil von sozialen Netzen sind, so dass ihre soziale Reproduktion in gewisser Weise stabil ist. Diese Stabilität ist natürlich sehr relativ, aber man kann eine soziale und ökonomische Einbettung erkennen, die die soziale Reproduktion dieser Familie sichert. Es gibt aber auch Familien, die sehr prekär leben, mit weniger Verbindungen zu sozialen Netzen und dem Arbeitsmarkt. Solche Familien leben größtenteils ausgeschlossen von dieser Integration, so dass ihre soziale Reproduktion sehr schwer ist. Schließlich gibt es auch Menschen, auch wenn es wenige sind, die in Blech- oder Holzhütten wohnen oder wohnten. Wir glauben ja gerne, dass die Favelas alle aus gemauerten Häusern bestehen, aber das ist nicht der Fall. Und selbst in gemauerten Häusern ist die Lage oft extrem prekär. Solche Familien wollen oft tatsächlich gern die Favela verlassen und in Sozialwohnungen ziehen, weil sie nichts zu verlieren haben und keinerlei Bindungen an jenen Ort.

Die Strategie der öffentlichen Verwaltung ist es, sich diese verschiedenen Situationen der Menschen bei den individuellen Verhandlungen zunutze zu machen. Darin liegt meiner Meinung nach eine Herausforderung für die Bewohner, die sich einer Räumung widersetzen und bleiben wollen: Sie sollten bei den Verhandlungen auch diejenigen, die gehen wollen, auf der Agenda haben, damit auch für diese bessere Bedingungen verhandelt werden können. Für sie kann ein gemauertes Haus 40 oder 60 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt einen wichtigen sozialen Aufstieg bedeuten, mit der Hoffnung darauf, unter neuen Bedingungen endlich sozial integriert zu werden. Dies ändert jedoch nichts an der Verurteilung der respektlosen Abläufe und Strategien bei den Verhandlungen der Stadt mit Familien, die sie nicht als vollwertige Bürger behandelt.  Diese unwürdige Behandlung der Familien findet statt, aber wir sollten nicht pauschal behaupten, dass sich die Lage aller Familien verschlechtert. Das entspricht meiner Ansicht nach nicht der Wirklichkeit. Allerdings bedeutet die Verbesserung der Lebensumstände einer Familie auch nicht, dass die angewandten Verfahren gesetzmäßig sind.

Was sagen Sie zu den Demonstrationen?

Ich glaube dass die Mobilisierungen, die genau zum Zeitpunkt des Confederations Cups begannen, die Türen weit aufgestoßen haben. Die internationalen Medien waren hergekommen, um über den Confederations Cup zu berichten, und berichteten dann über Demonstrationen. Ich glaube, das hat viel mit den schon seit längerem geäußerten öffentlichen Kritiken und dem gewachsenen Widerstand zu tun. So sehr die Presse und vielleicht wir alle, über all das, was in Brasilien passiert, überrascht sind, denke ich doch, dass es falsch wäre zu glauben, diese Demonstrationen seien aus dem Nichts entstanden.

Werden diese Demonstrationen, außer der erhöhten Aufmerksamkeit, auch konkrete Auswirkungen auf den Kampf um die Rechte der betroffenen Bevölkerung haben?

Diese Verbindung ist nicht ganz eindeutig, aber ich denke, dass sie besteht. Die staatlichen Verwaltungen müssen bereits ihre Agenda anpassen. Die Frage ist meiner Ansicht nach, wie viel hierdurch verändert wird: Sind es radikale Veränderungen? Oder kleine Anpassungen?

Es sind Erfolge.

Ja genau. Es wäre falsch, in der Entwicklung keine Erfolge zu sehen, auch wenn sie klein sind. Man hat auf den Demonstrationen eine massive Anzahl von Plakaten gesehen, auf denen die miserablen Bedingungen im Gesundheitswesen, in Erziehung und Transport in Zusammenhang mit den Investitionen der WM-Vorbereitung gebracht wurden. Man sollte sich aber über die Macht der FIFA und des IOC keine Illusionen machen. Die deutsche Zeitung "Die Zeit" titelte „Danke Brasilien!“, weil ihr den Mut hattet. Selbst wir, die Deutschen, hatten diesen Mut nicht.

Wir hatten den Mut, gegen die FIFA aufzubegehren, gegen den Skandal um dieses korrupte Unternehmen. Die Fakten sprechen für sich. Ich denke schon, dass dies Wirkung zeigen wird. Wie viel Wirkung, ist schwer einzuschätzen, da die Macht dieser Institutionen sehr groß ist. Das Bündnis, das sie geschlossen haben, und das weit über die FIFA und das IOC hinausgeht, ist sehr mächtig. Ihm gehören große internationale und nationale wirtschaftliche Interessengruppen an. Am selben Tag, an dem ein Dialog angekündigt wird, sieht man, wie die Polizei in der Maré Favela ein verabscheuungswürdiges Spektakel veranstaltet. Es ist ein Skandal [es geht um eine Razzia im Juni 2013, bei der neun Menschen getötet wurden]. Diese ersten Angebote der städtischen Verwaltung zeugen also noch lange nicht von einer tatsächlichen Änderung ihrer Haltung oder einer besseren Behandlung der Bevölkerung und der Stadt.