Favela-Befriedungen in Brasilien: Das Ende eines Traums?

Sechs Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben in Favelas, das sind ungefähr 11,4 Millionen Menschen. Allein in Rio de Janeiro waren dies 2010 nach Daten der Volkszählung zwei Millionen Menschen. Symbol für diese verbreitete Wohnform in Rio ist die Favela Rocinha. Das brasilianische Statistikamt (IBGE) beziffert die Einwohnerzahl der größten Einzelfavela Brasiliens mit 70.000, was dort Wohnhafte anzweifeln; sie sprechen von 180.000 bis 220.000 Einwohnerinnern und Einwohnern.

Favelas sind Orte, die von der Verteilung dessen, was die Stadt erwirtschaftet, weitgehend ausgeschlossen bleiben. Daher leiden sie fortdauernd unter sozialen Problemen. Ihr dramatischstes Problem ist allerdings der Terror der ständigen Schießereien zwischen Polizei und Drogenhandelnden. Unzählige Male haben die Bewohnerinnen und Bewohner dagegen protestiert, gefolgt von unzähligen Versprechungen seitens der Verwaltung und Politik.

Ende 2008 kündigten die Behörden einen radikalen Wandel der staatlichen Sicherheitspolitik an: mit der Einrichtung sogenannter UPPs, den "Einheiten der Befriedungspolizei", begann ein neuer Ansatz polizeilicher Eingriffe in Favelas. In schneller Folge wurden UPPs installiert;  heute gibt es bereits 39 dieser Einheiten in 264 Favelas der Stadt. Die UPPs drehten das bis dato herrschende Muster polizeilicher Interventionen – kurze, heftige Razzias mit Schießereien und dutzenden von Toten – um.

Die sogenannte Politik der "Befriedung" der Favelas besteht im Wesentlichen darin, die Polizei in den Favelas fest zu verankern. An strategisch gelegenen Orten werden in öffentlichen Gebäuden oder sogar in Containern Kommandoposten errichtet. Manchmal wird die Symbolik der Machtübernahme durch den Staat auch dadurch verstärkt, dass die Kommandoposten in Gebäuden unterkommen, die vorher von Drogenhandelnden besetzt waren. Dies ermöglicht der Polizei tagtägliche Präsenz durch Streifen, bei denen oftmals Festnahmen erfolgen. José Mariano Beltrame, Minister für öffentliche Sicherheit des Bundesstaates Rio de Janeiro, erklärt, dass das derzeitige Ziel der UPPs sei, "den Drogenhändlern Gebiete zu entreißen". UPPs würden den Drogenhandel nicht vollständig unterbinden können, aber dies sei auch nicht ihr Ziel. In der Folge zeigte sich schnell, dass der Drogenhandel in den Favelas präsent blieb, wenn auch mit veränderten Methoden, etwa beschränkt auf den reinen Vertrieb und unter Verzicht auf offen zur Schau gestellte schwere Bewaffnung.

Die UPPs greifen bestehende Konzepte von "bürgernaher Polizei" und "kommunaler Polizei" auf und erweitern sie, etwa um das Versprechen, die Schießereien zu beenden, die Jahr für Jahr Hunderte von Toten forderten. Damit ist die Sicherheit gewährleistet, die es Banken, Kabelfernsehanbietern und anderen privaten Anbietern ermöglicht, sich zu etablieren. Wichtig ist auch, dass bisher illegal genutzte öffentliche Dienstleistungen, vor allem Wasser und Strom, nun reglementiert werden konnten – zu regulären Preisen. Der Stromlieferant Light schätzt, dass seine Einnahmen in Favelas von 1 Million Euro auf 7,4 Millionen Euro pro Jahr gestiegen sind, bei den Wasserwerken CEDAE vervielfachten sich die Einnahmen von 111 Millionen auf 940 Millionen Euro.

So zahlen auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas einen Preis für die Befriedung. Den akzeptierten sie durchaus, würden sie dafür zu de facto anerkannten Bürgerinnen und Bürgern der Stadt werden. Doch dann blieben die öffentlichen Investitionen in grundlegende Infrastruktur für Gesundheit, Erziehung und Wohnen aus. Das rief Unmut und Misstrauen hervor.

Auch bei der Polizei in den UPPs ist die Stimmung eher düster: Eine Umfrage der Forschungsstelle für Sicherheit und Bürgerschaft (Ceses, 2002) unter Polizistinnen und Polizisten, die in UPPs arbeiten, ergab, dass fünf von zehn Befragten ihre interne Vorbereitung auf die Arbeit in der UPP kritisieren. Die große Mehrheit (92 Prozent) hält es für notwendig, mit Sturmgewehren ausgerüstet zu sein – also mit Waffen, die sich nicht gerade mit der Idee von kommunaler Polizeiarbeit vertragen. Geteilter Meinung sind die Polizistinnen und Polizisten in der Frage, ob die Bewohnerinnen und Bewohner die UPPs akzeptieren. Über 46 Prozent glauben, dass die meisten Anwohnenden den UPPs mit negativen Gefühlen begegnen (Angst, Misstrauen oder Wut), 44 Prozent sehen überwiegend positive Gefühle in der Bevölkerung (Sympathie, Bewunderung, Akzeptanz), während 10 Prozent glauben, dass der Polizei hauptsächlich mit Gleichgültigkeit begegnet wird. Von den Befragten identifizierten sich 33 Prozent vollständig oder teilweise mit dem UPP Projekt, 51 Prozent sind neutral und 16 Prozent lehnen es teilweise oder vollständig ab. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass UPP-Polizistinnen und -Polizisten innerhalb der Militärpolizei nicht als "vollwertige" Mitglieder anerkannt werden, weil genau diese Form kommunaler Polizeiarbeit im Vergleich zum bewaffneten Kampf als minderwertig erachtet wird. In einigen Favelas werden die UPP-Angestellten als "Schlümpfe" bezeichnet, oder einfach als "die UPPs", und nicht als "Polizei".

Unter dem Titel "Die Herren des Hügels" haben die Forschenden Ignacio Cano, Doriam Borgen und Eduardo Ribeiro kürzlich eine Studie zu den UPPs vorgelegt. Sie zeigt, dass die Mehrheit der UPPs in bzw. nahe Gebieten mit einem hohem Index menschlicher Entwicklung sowie nahe Tourismuszentren eingerichtet wurde, und nicht in den Favelas mit dem höchsten Kriminalitätsindex. Tötungsdelikte und Raubdelikte nahmen in UPP Gebieten um 75 Prozent bzw. 50 Prozent ab. Andere Delikte nahmen hingegen exponentiell zu, darunter Körperverletzungen, Bedrohungen und Drogendelikte (Handel, Konsum, Anbau und Verteilung). Die Studie zeigt auch auf, dass Fälle von häuslicher Gewalt sich beinah verdreifachten. Hier sehen die Forschenden einen möglichen Zusammenhang mit dem verstärkten Gefühl von Sicherheit innerhalb der Bevölkerung, die sich dadurch ermutigt fühlt, Fälle zur Anzeige zu bringen. Die Anzahl der Vermissten erhöhte sich um 92 Prozent, wodurch ein Teil der Tötungsdelikte in den UPP Gebieten verdeckt werden könnte.

Die "Beziehungen" der Favelas mit ihren UPPs erleben Höhen und Tiefen: 38 Bewohnerinnen und Bewohner und 11 Polizistinnen und Polizisten sind bisher bei Polizeiaktionen in UPP-Gebieten ums Leben gekommen. Das sind weniger als in den Jahren davor, es ist aber immer noch eine beunruhigende Zahl. Das Verschwinden des Arbeiters Amarildo Dias de Souza, der von einer militärpolizistischen Einheit der UPP in der Rocinha Favela in Rio festgenommen worden war, ist zum Symbol für die Kontinuität von Polizeigewalt innerhalb der UPPs geworden. Viele brasilianische und Internationale NGOs haben die Aufklärung dieses Falles gefordert und die Kampagne "Wo ist Amarildo?" ins Leben gerufen, aber Amarildo gilt nach wie vor als vermisst. Ein weiterer emblematischer Fall ereignete sich in der Favela Pavão-Pavãozinho, als bei einem Polizeieinsatz der aus dem Fernsehen bekannte Tänzer Douglas Rafael da Silva "DG" erschossen wurde, mutmaßlich von Polizisten der UPP.

Die kürzlich aufgeflammten Auseinandersetzungen, darunter eine Offensive der Drogenhandelnden gegen die UPPs, hinterließen eine Spur der Verwüstung: verbrannte Busse und Autos sowie beschädigte UPP Posten. Außerdem verstärkten diese Konflikte das Misstrauen der Favelabewohnerinnen und -bewohner, die ohnehin häufig mit den UPPs in Konflikt geraten. Beobachtende sehen hier ein mögliches Zeichen dafür, dass sich das UPP-Programm in seiner ursprünglichen Form einem Ende zuneigt. "Die UPPs sind in ihrer ersten Phase stecken geblieben: Es wurden Gebiete erobert und Polizei dort stationiert, ohne dass jedoch ausreichend daran gearbeitet wurde, den Dialog zwischen den Bewohnern und der Polizei voranzubringen", kritisiert der Soziologe Ignácio Cano.

Luis Eduardo Soares, ehemaliger Minister für öffentliche Sicherheit Rio de Janeiros ist einer der Autoren der PEC-51. Dieser Vorschlag zur Verfassungsänderung zielt darauf ab, die institutionelle Struktur der öffentlichen Sicherheit in Brasilien radikal zu erneuern. Laut Soares sollte öffentliche Sicherheit, so wie andere soziale Angebote des Staates, zu einem 24-Stunden-Service für die Bevölkerung werden – was vor allem in armen Gebieten heute nicht der Fall ist. Voraussetzung dafür ist für Soares die Demilitarisierung der Schutzpolizei, die als Militärpolizei heute noch an das Militär gekoppelt ist und deren Hierarchie die des Heeres widerspiegelt.

Zusammen mit den UPPs richteten Stadt- und Landesregierung von Rio de Janeiro so genannte Soziale UPPs ein. Sie sollen als Bindeglied zwischen verschiedenen politischen Initiativen und Projekten der Exekutive und als dauerhafter Kommunikationskanal zu privaten Partnern fungieren. Dieses Programm sollte in den Favelas staatliche Basisdienste einrichten oder erweitern, vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich, sowie Berufsqualifizierungsmaßnahmen für die Bewohnerinnen und Bewohner schaffen. Investitionen durch öffentlich-private Partnerschaften werden besonders gefördert. Von 2009 bis Februar 2014 flossen 560 Millionen Euro, davon allein 354 Millionen in ein großes Programm für Verbesserungen der städtischen Infrastruktur in Favelas, das Programa Morar Carioca, das in Favelas hauptsächlich Verkehrswege erweitert und asphaltiert. Über die Verwendung der restlichen Mittel gibt es keine offziellen Zahlen. Favelabewohnerinnen und -bewohner beschweren sich konstant, dass sie nach wie vor mit offener Kanalisation leben müssten und keine Gesundheitsstationen errichtet würden. Und die Qualifizierungen bestünden hauptsächlich aus Kursen, die auf die informelle Kleinökonomie zielten, wie die Herstellung von Salzgebäck zum Straßenverkauf.

Eine weitere Schwierigkeit bei der Kosten-Nutzen Analyse der UPPs ist es, zu bestimmen, wie viel die UPPs den Staat genau kosten. Die Website R7 schätzt die durchschnittlichen jährlichen Kosten für eine UPP mit 100 Polizisten auf 1,3 Millionen Euro. Damit könnte es schwierig werden, die UPPs auch nach den Olympischen Spielen 2016 aufrecht zu erhalten.

Dem allgemeinen Lob der UPPs durch die Medien entgegnen kritische Stimmen die Frage, was die Sicherheitspolitik der Stadt für die nicht von UPPs kontrollierten Stadtgebiete vorsieht, zumal die UPPs nicht einmal alle Sicherheitsprobleme in ihrem Einflussbereich lösen – geschweige denn die der gesamten Stadt. Die UPP Kommandos wurden mit der Zeit in eine Reihe von Konflikten hereingezogen, deren Schlichtung eigentlich nicht in den Verantwortungsbereich der Polizei gehört, wie etwa Probleme bei Tanzveranstaltungen, mit den Motorrad-Taxis usw. Mit diesen Disziplinierungsmaßnahmen versuchen die UPPs, eine neue soziale Ordnung herzustellen, die bis hin zur Regelung der Bewegungsfreiheit reicht – und zwar nun durch den Staat, statt wie vorher durch die mit Drogen Handelnden.

Jedoch können die Favelas nicht ausschließlich mit militärischen Maßnahmen reglementiert werden. So wenig wie dies für die "bürgerlichen" Stadtgebiete gültig ist, kann es auch nicht für die Armenviertel gelten. Denn wenn es so wäre, hätte die Stadt ein großes Problem: In Rio de Janeiro gibt es 1.071 Favelas, die größten Teils vom Drogenhandel oder Milizen kontrolliert werden (Milizen sind Gruppen von - ehemaligen - Polizistinnen und Polizisten, die Selbstjustiz verüben und Bewohnende sowie Händlerinnen und Händler erpressen).

Die Bevölkerung der Favelas hat eine geteilte Meinung über die UPPs. Die Abnahme von Schießereien und die Verdrängung schwer bewaffneten Drogengangs haben alle mit Erleichterung aufgenommen; sie fühlen sich nun sicherer. Anderseits wird kritisiert, dass bislang die Versprechen, staatliche Dienste, wie sanitäre Infrastruktur, Schulen, Gesundheitsversorgung usw. zu verbessern, nicht eingehalten wurden. Dazu kommen brutale Übergriffe durch die UPP Polizei, die die Bewohnerinnen und Bewohner immer wieder gegen die Polizei aufgebracht haben. Außerdem sind die Favelas auch keine sozial homogenen Siedlungen. In ihnen lebt eine Vielzahl verschiedener Gruppen von ganz unterschiedlichem Bildungs- und Einkommensniveau. Auch die Qualität, Größe und Ausstattung der Wohnungen ist sehr differenziert, selbst wenn diese auf den ersten Blick ähnlich erscheinen. Diese Unterschiede führen dazu, dass die Favelabewohnenden die Situation unterschiedlich wahrnehmen. Für die mit den schlechtesten Lebensbedingungen ist das Fehlen staatlicher Dienste von dringenderer, existentieller Bedeutung.

Was nach fünf Jahren Erfahrung bleibt, ist dass, was Forschende sowie Aktivistinnen und Aktivisten schon festgestellt hatten: Man kommt in Rio de Janeiro an der Frage der Favelas nicht vorbei. Die Favelas sind wichtiger Teil des Stadtbildes, dem sie in der öffentlichen Wahrnehmung einen Anstrich von Poesie, Musik und Gewalt hinzufügen – aber auch den des Mangels an städtischen Bürgerrechten. Zuenir Ventura, ein Schriftsteller aus Rio, hat ein berühmtes Buch geschrieben, indem er das Gefühl beschreibt, das die Auseinandersetzungen in dieser Stadt bestimmt: Rio de Janeiro ist eine zwischen "Asphalt und Hügel gespaltene" Stadt (arme Gebiete in den Vororten und Favelas einerseits und andererseits die Wohngegenden der Mittel- und Oberklasse). Jailson de Souza hingegen, der die NGO "Observatório de Favelas" in der Favela Maré mitbegründet hat und dort weiterhin Projekte betreibt, argumentiert in eine andere Richtung: in Wahrheit sei nicht die Stadt gespalten, sondern der Staat, denn dieser bevorzuge bestimmte Gebiete der Stadt mit seinen öffentlichen Diensten, die er dort in größerer Menge und mit besserer Qualität anbiete, darunter auch die Polizei, die die Bevölkerung dieser Gebiete beschützt. Andere Gegenden hingegen, so wie Favelas oder die Peripherie Rios, leiden unter dem Mangel dieser Dienste.

Obwohl die UPPs im Kontext der sportlichen Megaevents geschaffen wurden, deuten sie auch auf das allgemeinere Politikziel hin, das Image Rio de Janeiros in Richtung eines internationalen Zentrums für Tourismus, Handel und Business zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist es, für Besuchende und Unternehmen in bestimmten Gebieten entsprechende Sicherheitsstandards zu etablieren. Gebiete, die sich fernab von den Orten dieser geschäftlichen Interessen befinden, werden weiterhin vernachlässigt und können nicht auf ausreichende staatlichen Dienste hoffen. Dies ist zum Beispiel in einem Teil der westlichen und nördlichen Vororte von Rio de Janeiro der Fall, die für dieses Politikziel beinahe völlig irrelevant sind, da in diesen Gebieten zwar die Mehrheit der Menschen Rios lebt, diese Menschen aber vorwiegend arm und schlecht ausgebildet sind. Und die Zahl der Gewaltverbrechen in diesen Gebieten ist hoch. Kein interessantes Investitionsambiente.