Seit dem NATO-Gipfel in Wales gilt wieder: Sicher ist nur, wer sich mit gegenseitiger Vernichtung droht. Auch die Bundesrepublik hat sich von ihrer Vorreiterrolle im Einsatz für eine atomwaffenfreie Welt längst verabschiedet.
Nach 25 Jahren Entschleunigung läuft die Aufrüstungsspirale wieder zu Hochtouren an. Auf dem NATO-Gipfel in Wales am 4. und 5. September beschloss das Bündnis, die Truppenpräsenz entlang seiner Ostgrenze massiv aufzustocken. Es ist die Antwort auf Russlands martialische Machtgebärden und militärische Mobilisierung gegen die Ukraine. Nach und nach haben beide Seiten in den vergangenen Jahren den zarten Spross kollektiver Sicherheit verdorren lassen, weil man glaubte, vom Sicherheitsindividualismus mehr zu profitieren. Jetzt schließen sich wieder alle ein im Gefängnis der militärischen Abschreckung. Dass diese Einigelung in die geistige Komfortzone der Militärs alles andere als gemütlich ist und in letzter Konsequenz die Welt an den Rand des nuklearen Abgrunds treiben kann, scheint ein viertel Jahrhundert nach dem Fall der Mauer längst vergessen.
Kaum jemand ist sich heute noch der existentiellen Bedrohung unseres Planeten durch die gegenwärtig auf etwa 16 300 geschätzten Atombomben bewusst. Man spricht nicht mehr darüber. Dabei sind 1800 von ihnen stets einsatzbereit, jede einzelne mit der vielfachen Sprengkraft der Bombe von Hiroshima. Im Schatten dieser allgemeinen Wahrnehmung mobilisiert eine internationale Kampagne die Zivilgesellschaft für ein Verbot von Atomwaffen. Auch in Deutschland hat sich ein Zweig der International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) gegründet und versammelt mit der Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung diese Woche Jugendliche aus ganz Europa in Berlin. In einem viertätigen Intensivtraining lernen sie in der Action Academy, wie sie sich für die weltweite Abschaffung von Atomwaffen einsetzen können. Es geht darum, Politik und Öffentlichkeit aus dem Gefängnis der Abschreckung zu befreien.
Das heißt vor allem aufklären. Ein Kraftakt, gerade in Deutschland. Denn es ist in der öffentlichen Debatte tabu, dass auch die Bundesrepublik de facto ein Atomwaffenstaat ist. Offiziell nennt man das „Nukleare Teilhabe“. Auf einem Fliegerhorst in der Eifel sind derzeit etwa zwei dutzend amerikanische Atombomben stationiert. Die Bundeswehr stellt für deren Abwurf Tornados und sogar Piloten bereit, die regelmäßig den Ernstfall üben. Deutschland ist Mitglied in der Nuclear Planning Group, in der die Nuklearpolitik des Bündnisses ausgearbeitet und umgesetzt wird. Die Bundesregierung sichert hierüber ihren Einfluss auf die Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und -einsatzplanung. Zu dieser Politik des Bündnisses gehören jüngste Anstrengungen zur nuklearen Aufrüstung.
Die Logik der nuklearen Aufrüstung
Diese heißen natürlich ebenfalls anders und spielen sich ganz im Stillen ab. Die USA haben ein so genanntes Modernisierungsprogramm der in Europa stationierten B-61-Bomben aufgelegt. Zeitgleich zum Abschluss des New START-Abrüstungsabkommens mit Russland, weil der Druck der Republikaner auf Obamas Abrüstungsagenda zu groß wurde. Mit dieser Maßnahme sollen die Einsatzmöglichkeiten dieser Waffen gesteigert werden. Die force de frappe Europas unter dem Nuklearschirm der USA erhöht sich. Auch die Bundesregierung war 2010 bei der letzten Überarbeitung der NATO-Nukleardoktrin an der Einigung über die zentralen militärischen Merkmale der neuen Bombe beteiligt.
Mit der Nuklearen Teilhabe ist der Wahnsinn der mutual assured destruction ein wesentlicher Teil deutscher Sicherheitsstrategie. Sich in Sicherheit wiegen darf, wer daran glaubt, dass die Androhung gegenseitiger Vernichtung Frieden stiftet. Ein schweres psychisches Erbe zweier Weltkriege, dessen zerstörerische Hypothek in der nur zwei Jahrzehnte währenden Zeit der Entspannung kaum wahrgenommen wurde. Die aufkeimende Renaissance der Blockkonfrontation wird wieder Licht auf die destruktive Dimension dieser Altlasten werfen.
Wer sich das Ausmaß der Zerstörungskraft von Atomwaffen wirklich klar macht, braucht keinen weiteren Grund, sich der gegenwärtig grassierenden Verbreitung von Feindbildern und zunehmenden Polarisierung entgegen zu setzen. Keine Frage, Putins Allmachtphantasien sind beängstigend und brauchen Schranken. Sie sind aber auch selbst Ausdruck einer Angst, die von der Expansion der NATO in den vergangenen Jahren mit gespeist wurde. Es ist schwierig, in einer Krise die Kontrolle über die Wahrnehmung zu bewahren. Doch es ist ein Spiel mit dem Feuer, sich einfach der verführerischen Logik der Aufrüstung zu ergeben. Das gilt noch viel mehr für die nukleare Aufrüstung.
Nur Kontakt schafft Vertrauen
Selbst auf dem paranoiden Höhepunkt des Kalten Krieges wollte man sich nicht allein auf das Evangelium der gegenseitig garantierten Vernichtung verlassen. Also sicherten sich die beiden Großmächte mit dem Roten Telefon ab. Man wusste, dass letztlich nur der Kontakt Vertrauen schaffen kann. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien endlich die Befreiung aus dem Gedankengefängnis der Abschreckung möglich. In den Köpfen der politischen Elite hielt die wachsende Gesinnung der kollektiven Sicherheit Einzug. Doch die daraus geborene Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), das gemeinsame Forum für Abrüstung und Vertrauensbildung, hat man so lange der Verwitterung ausgesetzt, bis sie als Trägerin der europäischen Sicherheitsarchitektur nicht mehr taugte. Aus der Bereitschaft zum Dialog und der wechselseitigen Rücksichtnahme entsprungen, war sie gewissermaßen der Gegenpol zur NATO und ihrer Abschreckungsphilosophie. Zynisch rief man sie nach dem Ausbruch der Krim-Krise eilends zur Hilfe, als könne man die Stärke des Vertrauens auf Opportunismus gründen.
Die Bundesrepublik gehörte lange zur abrüstungspolitischen Avantgarde und war eine treibende Kraft beim Aufbau von Systemen kollektiver Sicherheit. Heute spielen Abrüstung und die Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt kaum noch eine Rolle in der deutschen Außenpolitik. Fast unbemerkt lehnte die Bundesregierung im Februar diesen Jahres auf der zweiten Konferenz über die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen in Mexiko ein Verbot strikt ab. Damit verabschiedete sich die deutsche Diplomatie vor 145 Staaten von ihrer Vorreiterrolle im Einsatz für eine atomwaffenfreie Welt. Dabei hat die „Mexiko-Konferenz“ dem Prozess für ein völkerrechtlich verbindliches Atomwaffenverbot neuen Antrieb gegeben. Österreich kündigte noch für dieses Jahr eine Nachfolgekonferenz an, die vom 8.-9. Dezember in Wien stattfinden wird.
Wenn sich die Campaigner von ICAN am Donnerstagabend, den 11. September, in der Heinrich-Böll-Stiftung treffen und vernetzen, steht die Vorbereitung auf diese Konferenz ganz im Zentrum. Will sie nicht den Verlust der friedens- und abrüstungspolitischen Glaubwürdigkeit Deutschlands riskieren, sollte sich auch die Bundesregierung für ein weltweites Verbot von Atomwaffen stark machen. Dazu müsste sie sich freilich aus dem Versteck des getarnten Atomwaffenstaates herauswagen. Gerade nach Wales sollte sich Deutschland aber wieder auf seine Brückenfunktion für Abrüstung und Vertrauensbildung zurückbesinnen.