Sinnvolles Ziel - konkrete Schritte nochmals prüfen

Dr. Thilo Schaefer

Der Bericht der finanzpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung nimmt unter dem Titel „Nachhaltig aus der Schuldenkrise – für eine finanzpolitische Zeitenwende“ eine umfassende Bestandsaufnahme der deutschen Finanzpolitik im Kontext der europäischen Schuldenkrise vor und leitet daraus politische Schlussfolgerungen (Leitlinien) ab. Eine Kernforderung des Berichts ist es, jenseits der Defizitvorgaben von nationaler Schuldenbremse und europäischem Fiskalpakt ein Überschussziel im Grundgesetz zu verankern. Dadurch können Rücklagen für die fiskalischen Herausforderungen der kommenden Dekaden gebildet und Vorsorge für zusätzliche Lasten aus den Folgen des demografischen Wandels getroffen werden. Ein solches klares Ziel für eine mittel- und langfristig tragfähige Finanzpolitik zu setzen, erscheint sinnvoll und richtig. Wie der Bericht zutreffend beschreibt, ist eine solche Zielsetzung gerade angesichts einer aktuell vermeintlich entspannten Kassenlage der öffentlichen Haushalte unbedingt notwendig, da bestehende Spielräume zum Schuldenabbau bereits ungenutzt vertan wurden. Der Bericht schlägt dazu konkrete Schritte zur Ausgabensenkung und Einnahmensteigerung vor. Einige der vorgeschlagenen Maßnahmen gefährden allerdings ein nachhaltiges Wachstum und sollten daraufhin nochmals kritisch geprüft werden. Umfangreiche Steuererhöhungen drohen schließlich diejenigen über Gebühr zu belasten, die den Staat zukunfts- und seine Finanzen tragfähig machen sollen.

In seiner Bestandsaufnahme ist der Bericht auf die Entwicklung der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen fokussiert. Zutreffend beschreibt er die Zunahme der Ungleichheit um die Jahrtausendwende und betont die Risiken, die durch eine stärkere Ungleichheit der Einkommensverteilung in der Tat bestehen. Diese Einkommensungleichheit hat seit 2005 jedoch nicht mehr zugenommen, sondern zeigt zuletzt eine eher gegenläufige Entwicklung. Der Bericht geht explizit davon aus, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzt. Richtigerweise wird als Ursache die „Tendenz zur Vollbeschäftigung in vielen Arbeitsmarktsegmenten“ (S. 25) benannt, die mit Rekordwerten bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einhergeht. Insbesondere dieser Entwicklung hat der Staat die komfortable Entwicklung der Steuereinnahmen zu verdanken, die – neben dem niedrigen Zinsniveau – entscheidend dazu beigetragen haben, dass auf allen staatlichen Ebenen in der Summe kein strukturelles Defizit mehr besteht.

Diese Erfolgsstory kommt im Bericht nur am Rande vor, obwohl sich damit die gewaltige Chance veranschaulichen ließe, gerade jetzt die für eine tragfähige Finanzpolitik erforderlichen Weichenstellungen vorzunehmen. Im Gegenteil betonen die Autoren allgemein Verteilungs- und Armutsrisiken und schüren damit eine Atmosphäre, in der teure, überdimensionierte sozialpolitische Großprojekte wie zuletzt das Rentenpaket aus der Taufe gehoben werden können. Die verabschiedeten Maßnahmen werden Steuer- und Beitragszahler auf Jahrzehnte hinaus massiv belasten, obwohl sie lediglich diffus vermutete Wünsche einer alternden Wählerschaft befriedigen, ohne dabei nennenswert zur Reduktion von tatsächlichen Armutsrisiken beitragen. Sinnvoller, weil deutlich treffsicherer und günstiger wären zielgerichtete Maßnahmen zur Behebung konkreter Missstände, die in der sozialpolitischen Praxis deutlich werden. Zu Recht benennt der Bericht große regionale Unterschiede bei Verteilungsrisiken, die sich nicht durch Pauschallösungen bekämpfen lassen. Hier gilt es anzusetzen, anstatt vermeintlich grundlegende Verteilungsprobleme lösen zu wollen. Ohnehin ist die öffentliche Wahrnehmung dahingehend verzehrt, dass die Einkommensverteilung als wesentlich ungleicher eingeschätzt wird als sie in Wirklichkeit ist, wie eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zur Ungleichheitsperzeption zeigt.[1]

Tatsächlich ist die Steuerbelastung insgesamt progressiv und sorgt damit für eine Umverteilung zugunsten einer Nivellierung der verfügbaren Einkommen. Denn die Progressionswirkung der Einkommensteuer ist deutlich stärker als die leicht regressive Verteilungswirkung der Mehrwertsteuer, die sich aus der stärkeren Konsumneigung einkommensarmer Haushalte ergibt. Im Bericht wird bemängelt, dass die Belastung höherer Einkommen durch die Senkung des Spitzensteuersatzes im Zuge der rot-grünen Steuerreformen auf zwischenzeitlich 42 Prozent die Umverteilungswirkung reduziert habe. Richtig ist, dass sehr hohe Einkommen dadurch entlastet wurden. Allerdings hat sich durch die Stauchung des Tarifs und das frühere Einsetzen des neuen Spitzensteuersatzes insgesamt die Umverteilungswirkung des Einkommensteuertarifs erhöht.[2] Vom steileren Anstieg des Grenzsteuersatzes in den Progressionszonen sind schließlich auch diejenigen Steuerpflichtigen betroffen, deren Einkommen im Bereich des Spitzensteuersatzes liegt. Im internationalen Vergleich entfaltet das deutsche Steuer- und Transfersystem eine vergleichsweise starke Umverteilungswirkung.[3]

Deshalb sollte es bei der Besteuerung nicht primär um mehr oder weniger Umverteilung gehen als vielmehr darum, Unwuchten bei der Besteuerung zu beheben und Fehlanreize zu korrigieren. Hierzu nennt der Bericht durchaus eine Reihe konkreter Ansatzpunkte, beispielsweise den Abbau von Steuervergünstigungen sowie von Fehlanreizen für Zweitverdiener bei Eheleuten. Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass umfangreiche Evaluationen zu Steuervergünstigungen, Subventionen, familienbezogenen Maßnahmen und weiteren Programmen vorliegen, aufgrund derer die Politik eine Neubewertung zahlreicher, mitunter kostspieliger Maßnahmen vornehmen kann und längst umfangreiche Einsparpotenziale hätte heben können. Gleiches gilt für Effizienz- und Produktivitätssteigerungen in der öffentlichen Verwaltung. Dies wird zwar zunächst mit Investitionen verbunden sein, die sich aber mittelfristig nachhaltig rentieren. Offenbar ist trotz der Schuldenbremse der Veränderungsdruck (noch) nicht hinreichend groß, damit solche Veränderungsprozesse in Gang kommen.

Dabei sind grundlegende Anpassungen aufgrund des demografischen Wandels unabdingbar. Der Bericht stellt es anschaulich dar: Während sich Mehrausgaben pro Kopf bei abnehmender und alternder Bevölkerung von selbst einstellen, sind für Anpassungen der Infrastruktur an schrumpfende Einwohnerzahlen stets diskrete und mitunter schmerzhafte Einschnitte vonnöten. Solche Remanenzkosten sind allerdings nur ein Faktor der in Zukunft anstehenden Belastungen. Hinzu kommen die Pensions- und Versorgungslasten, denen bislang keine adäquaten Rücklagen gegenüberstehen sowie die stetig steigende Zahl von Leistungsempfängern aus den gesetzlichen Sozialversicherungen, die von einer schrumpfenden Zahl von Beitragszahlern finanziert werden müssen. Angesichts dieser seit Langem absehbaren Entwicklung kommt die Verschärfung der Belastung aktueller und zukünftiger Beitragszahler zugunsten der bestehenden und zukünftigen Rentner in der Tragfähigkeitsperspektive einer Katastrophe gleich. Dies wird im Bericht leider nicht hinreichend deutlich.

Beim Blick nach vorne benennen die Autoren nichtsdestotrotz zentrale Anknüpfungspunkte, die dieser dramatischen Entwicklung entgegenwirken können. Zum einen gilt es, Anreize für längeres Arbeiten zu schaffen und das Renteneintrittsalter auch in Richtung eines freiwilligen späteren Eintritts zu flexibilisieren und zum anderen verstärkt in eine Willkommenskultur in Deutschland zu investieren, die auch dann noch eine hohe Zuwanderung von Arbeitskräften sicherstellt, wenn sich die wirtschaftliche Situation in Europa wieder angleichen sollte. Damit gewinnt die Sozialversicherung nicht nur zusätzliche Beitragszahler, sondern die Unternehmen können auch in Zukunft auf dringend benötigte Fachkräfte zugreifen und verlieren diese nicht ans Ausland.

Der Bericht der finanzpolitischen Kommission befasst sich ausführlich mit der europäischen Ebene und empfiehlt u.a. die Einführung einer sogenannten „blue tax“ als Sanktion für eine Nichteinhaltung der Defizitvorschriften des Fiskalpakts. Diese wirkt als europäisch verordnete nationale Steuererhöhung stabilisierend auf die Staatsfinanzen anstatt die fiskalischen Probleme durch eine Strafzahlung noch zu verschärfen. Dieser Ansatz würde sich auch als glaubwürdige Sanktion bei einer Nichteinhaltung der deutschen Schuldenbremse eignen. Voraussetzung dafür ist bei den Bundesländern mehr Autonomie auf der Einnahmeseite. Im Zuge einer neuerlichen Föderalismusreform sollten die Länder nicht nur das Recht erhalten, eigene Zuschläge auf die Einkommensteuer zu erheben, sondern die Aufgabenteilung zwischen den Gebietskörperschaften sollte wesentlich besser als bislang mit der entsprechenden Budgetverantwortung verknüpft werden. Dies würde nicht zuletzt dabei helfen die Akzeptanz politischer Entscheidungen auf der jeweiligen Ebene zu erhöhen.

Positiv ist, dass die Autoren nicht davor zurückschrecken, konkret Ausgabenfelder zu nennen, wo zur Bewältigung der bevorstehenden Lasten und des zutreffend diagnostizierten öffentlichen Investitionsbedarfs Einsparungen erfolgen können. Als Beispiel sei hier der Hinweis genannt, die Förderung von Studierenden auf diejenigen zu konzentrieren, die eine Unterstützung nötig haben. Den Umkehrschluss, der lautet, dass die weniger Bedürftigen sich selbst an der Finanzierung ihres Studiums beteiligen können, bleibt der Bericht allerdings schuldig. Grundsätzlich erscheint die Forderung sinnvoll, dass dort, wo Kosten nutzergerecht zugeordnet werden können, eine Finanzierung über Gebühren und Beiträge erfolgen soll. Dies entlastet die öffentliche Hand von Ausgaben, die an anderer Stelle insbesondere zur Erhaltung und Modernisierung der Infrastruktur dringend notwendig sind. Zentral ist in dieser Argumentation der Ansatz, dass einer sinnvollen Priorisierung von Politikfeldern zwingend eine Depriorisierung an anderer Stelle gegenüber stehen muss. Andernfalls müsste der Staat immer weiter wachsen, um allen zusätzlichen Anforderungen gerecht zu werden.

Vor diesem Hintergrund ist der umfangreiche Katalog an – wenn auch an einzelnen Stellen moderaten – Steuererhöhungen, den die Autoren vorschlagen, befremdlich. Die Erwartung von bis zu 44 Milliarden zusätzlichem jährlichem Steueraufkommen wird selbstverständlich zu Ausweichreaktionen führen, die laut Bericht jedoch gerade vermieden werden sollen. Genauso wenig wird es mit diesem Steuererhöhungspaket gelingen, Unternehmen zu verschonen, obwohl die Autoren darlegen, dass sie die Steuerbelastung von Unternehmen im internationalen Vergleich für angemessen halten und nicht erhöhen wollen. Die im Bericht vorgeschlagene Erhöhung der Einkommensteuer würde nämlich die zahlreichen Personenunternehmen in Deutschland betreffen. Die Abgeltungssteuer kann nicht ohne ein wie auch immer geartetes neues Anrechnungsverfahren zur Vermeidung einer steuerlichen Doppelbelastung von Kapitalgesellschaften und Anteilseignern abgeschafft werden. Angesichts der stärker international koordinierten Bekämpfung von Steueroasen mag der ursprüngliche Grund zur Einführung der Abgeltungssteuer an Bedeutung verloren haben. Der Umfang möglicherweise entgangener Steuereinnahmen durch Gewinnverlagerungen wird von den Autoren jedoch zu hoch eingeschätzt und ist umstritten.[4]

Immerhin akzeptieren die Autoren, dass die Einführung einer Vermögensteuer und selbst die einmalige Vermögensabgabe, die die Grünen noch in ihrem letztjährigen Bundestagswahlprogramm gefordert hatten, die Substanz von Unternehmen angreifen kann, insbesondere von solchen in Schwierigkeiten. In ähnlicher Weise gilt dies für die Erbschaftsteuer, wobei hier ohnehin das Verfassungsgerichtsurteil abzuwarten sein wird. Die kalte Progression wird im Bericht als Problem anerkannt, das gerade kleine und mittlere Einkommen überproportional belastet werden und die deshalb abzubauen ist. An vielen Stellen nehmen die Autoren die Notwendigkeit eines nachhaltigen Wachstums in den Blick. Deshalb sollten sie nicht den Erwerbstätigen und Unternehmen als den Leistungsträgern, die das Wirtschaftswachstum maßgeblich vorantreiben können und damit mittelbar die staatlichen Finanzierungsmittel zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen schaffen, zusätzliche Lasten aufbürden. Schließlich wird die Belastung zukünftig Erwerbstätiger in Form höherer Sozialversicherungsbeiträge ohnehin zunehmen. Dementsprechend ist die geforderte grundlegende Reform des Gesundheitssystems zur Eindämmung der drohenden Kostenexplosion zu begrüßen.

Bei aller Kritik im Detail leistet der Bericht der Heinrich-Böll-Stiftung insgesamt insofern einen wertvollen Beitrag, als er zentrale Herausforderungen für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland klar benennt und angemessen ambitionierte Ziele für tragfähige Staatsfinanzen formuliert.

 

[1]    Niehues, Judith, Subjektive Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen – Ein internationaler Vergleich, IW-Trends 2/2014, IW Köln 2014

[2]    Brügelmann, Ralph/Schaefer, Thilo, Der Einkommenssteuertarif verteilt stärker um als je zuvor. Eine Mikrosimulationsanalyse, FiFo Discussion Papers 12-3, Köln, 2012

[3]    Niehues, Judith, Staatliche Umverteilung in der Europäischen Union, IW-Trends 1/2013, IW Köln 2013

[4] Brügelmann, Ralph, Die Besteuerung von Vermögen, Policy Paper Nr. 13, IW Köln 2013.