Die Mär vom freien Handel

Anti-TTIP
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Proteste gegen TTIP - der Widerstand gegen das Freihandelsabkommen wächst

TTIP & Co sind Teil einer Machtpolitik um Einfluss und Profite. Wer steht wo im Verteilungspoker? Eine Kritik von Uwe Kekeritz und Christian Schneider.

Egal ob in der Industrie- oder in Schwellenländern, egal ob nationale Märkte geöffnet oder geschützt werden, egal ob beim Handel zwischen oder in einzelnen Staaten oder Staatengruppen: Es geht immer um Interessen, Macht, Einfluss, Rendite und um Verteilungsfragen. Und genau deshalb definiert auch das Handelssystem das nationale und internationale Machtgefüge. Bei Neuordnung oder Veränderung der Handelsstrukturen gibt es immer Gewinner und Verlieren. Die Frage ist nur: Wer steht am Ende auf welcher Seite?

Derzeit erleben wir mehrere dieser Kämpfe. Am bekanntesten sind die geplanten Handelsab-kommen zwischen der EU und den USA, die so genannte „Transatlantic Trade and Investment Partner¬ship“ (TTIP) und dem ähnlichen Abkommen zwischen EU und Kanada (CETA, Comprehensive Economic and Trade Agreement). Wenig öffentliche Aufmerksamkeit haben bislang die völlig geheimen Verhandlungen von über 50 Staaten zum Dienstleistungs-Freihandelsabkommen TiSA (Trade in Services Agreement) erfahren. Praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit laufen zahlreiche weitere Verhandlungen der EU-Kommission im Auftrag ihrer Mitgliedsstaaten mit anderen Staaten – so  zum Beispiel mit Singapur, China und Vietnam sowie mit nahezu allen afrikanischen Staaten bzw. Wirtschaftsregionen wie ECOWAS oder SADC  im Rahmen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA).

Demokratie umgehen

Diese vielen parallelen Verhandlungen der EU sind dabei aber nur ein Teil einer globalen Entwicklung:. Auch andere Weltregionen wollen Handelsabkommen abschließen. So steht für die USA beispielsweise TTIP gar nicht an erster Stelle, sondern ein Abkommen mit den Pazifikanrainerstaaten, die so genannte Trans-Pacific Partnership (TPP). Wäre da nicht ein Abkommen für alle viel sinnvoller? Könnte sich die Weltgemeinschaft nicht einfach zusammensetzen und ein Abkommen für alle verhandeln? Den Versuch gibt es, aber er steckt fest. Die so genannte Doha-Runde der Welthandelsorganisation WTO dreht seit beinahe 15 Jahren Schleifen. Der Grund ist so einleuchtend wie – aus demokratietheoretischer Sicht – erschreckend: In der WTO steckt zu viel Demokratie – ein grotesker Befund, wenn man sich an die Anti-Globalisierungs-Proteste in der Vergangenheit erinnert. In der WTO gilt: Ein Land, eine Stimme und alles geschieht weitgehend transparent.

Die vermeintlich schwachen Entwicklungsländer wollten sich nicht mehr den Vorgaben der Industriestaaten unterordnen – und dank des Prinzips „ein Land – eine Stimme“ mussten sie das auch nicht. Deshalb laufen nun, gewissermaßen an der WTO vorbei, bi- und multilaterale Verhandlungen, bei denen sich der Stärkere leichter durchsetzen kann. Denn das Erpressungspotential ist bilateral gesehen viel größer. Das zeigen beispielhaft die WPAs der EU mit afrikanischen Ländern, die sogar der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin, Günther Nooke, öffentlich kritisiert. Durch die Verträge will die EU für ihre Industrie Absatzmärkte erschließen und zugleich den Zugang zu billigen Rohstoffen dauerhaft sichern. Nur dann erhalten die Afrikaner Zugang zum EU-Agrarmarkt, der für sie heute noch existenziell ist.

Handlungsfreiheit souveräner Staaten versus Freihandel

Freier Handel ist im Kern eine Mär. Denn mit oder ohne staatliche Einflussnahme bleiben die Interessen und die unterschiedliche Macht der verschiedenen Akteure bestehen, die zu Unfreiheit anderer führen. Deshalb braucht Handel starke, transparente Regeln, um Interessenunterschiede auszugleichen. Das Recht des Stärkeren darf heute keine Option mehr sein. TTIP, CETA, TiSA, die WPAs und all die anderen Abkommen bringen nur vordergründig „Freihandel“, schränken de facto aber die Freiheit, Handel zu gestalten und damit das Handeln souveräner Staaten ein.

So schön dieses Etikett „Freihandel“ auch klingt, es führt in die Irre und verdeckt die damit einhergehende Umverteilung von Macht und Einfluss. Und genau auf die Umverteilungseffekte der „Freihandelsverträge“ müssen wir unser Augenmerk richten. Der Wirtschaftswissenschaftler Josef Stieglitz  nennt die hinter den Verträgen versteckte Motivation klar: Die Konzerne versuchen, ihre Interessen, die sie in offenen und transparenten Verfahren nie umsetzen könnten, in geheimen Verhandlungen durchzudrücken. Das Dogma, mehr Handel und vor allem Freihandel sei per se gut, gilt nicht, schränkt doch der geplante Freihandel die Möglichkeit des freien Handelns im Interesse der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung von Regierung erheblich ein.

Die große Lüge: Arbeitsplätze und Wachstum

Interessant sind die Versprechungen, die Merkel, Gabriel und Co immer wieder im Zusammenhang mit den Freihandelsabkommen machen: Wachstum und Arbeitsplätze. Dabei wäre die Fixierung auf Wachstum es wert, endlich auch von der großen Politik ernsthaft hinterfragt zu werden. Am deutlichsten zeigt das NAFTA-Abkommen (1994), zwischen Mexiko, USA und Kanada, was von solchen Versprechungen zu halten ist. Mexiko wurde eine Industrialisierung versprochen und eine enorme Zunahme der Arbeitsplätze. Allein im Bereich der Landwirtschaft hat Mexiko aber tatsächlich zwei Millionen Arbeitsplätze verloren und von Industrialisierung konnte nicht die Rede sein. Mexiko wurde zu einer verlängerten Werkbank der US-amerikanischen Industrie. Die ohnehin seit langem fragilen sozialen Strukturen verfielen weiter. Es folgte ein enormer Massenexodus, der sich auch negativ auf die US-Wirtschaft auswirkte, da der Migrantenstrom dort das Lohnniveau in bestimmten Bereichen stark drückte. NAFTA verstärkte auch den industriellen Konzentrations¬prozess, der schon per se Arbeitsplätze vernichtet. Der Vertrag hatte also auch negative Auswirkungen auf die USA. Lediglich die Konzerne profitierten.

Kanada hatte man, neben mehr ausländischen Direktinvestitionen, vor allem eine breiter aufge-stellte , effizientere und wissensbasiertere Wirtschaft versprochen, die Produktivitätslücke gegen-über der US-amerikanischen Wirtschaft sollte geschlossen werden. Tatsächlich haben die ausländi-schen Direktinvestitionen massiv zugenommen, vor allem aber in Form von Übernahmen, mit de-nen natürlich auch Konzentrationsprozesse einhergingen und damit wirkten diese auch eher nega-tiv auf Arbeitsplätze.

Heute hat Mexiko ein relativ starkes Wachstum, das auch dem Mittelstand zu Gute kommt. Aller-dings gilt: Wer wie Mexiko ökonomisch und sozial ganz tief unten angekommen ist, kann leicht ein positives Wachstum erreichen. Die soziale Spreizung und die rasante Weiterentwicklung des kor-rupten mexikanischen Systems, also der Drogen- und Waffenhandel unter staatlicher Aufsicht bei gleichzeitiger Auflösung funktionierender staatlicher Strukturen, wurden durch den NAFTA-Vertrag begünstigt.

Das Freihandelsabkommen zwischen Peru und den USA ist ein weiteres, breit analysiertes Beispiel, in dem die Versprechungen und die Realität weit auseinanderklaffen. Peru hatte bis 2011 eine positive Handelsbilanz gegenüber den USA – heute ist sie negativ. Die US-amerikanischen Importe sind rapide gestiegen, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind damit negativ. Arbeitnehmer-rechte wurden reduziert, mit nachteiligen Auswirkungen auf die Sozialstruktur Perus. Im Gesund-heitsbereich kam es zu einem erheblichen Konzentrationsprozess der Medikamentenhersteller. Geschützt durch das Patentrecht verteuerten sich Medikamente, in einigen Fällen sind ihre Preise um das Zwanzigfache gestiegen. Bisher weigert sich Peru, einen offiziellen Bericht über die Aus-wirkungen des Freihandelsabkommens zu erstellen.

Gewonnen haben in beiden Fällen nicht die US-Bürgerinnen und –Bürger, sondern hauptsächlich US-amerikanischen Konzerne.

Profit ist alles

Alle Länder sind daran interessiert, nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Produktions-standort zu dienen. Private Investoren wünschen sich hingegen ein möglichst hohes Maß an Investitionsschutz. Das ist auch in Ordnung. Seine reale Umsetzung geht jedoch völlig fehl. Die Schiedsgerichte haben nur eine Aufgabe: Kapitalschutz. Andere Aspekte, wie Gesundheit, Erhalt des Ökosystems oder sozialer Ausgleich spielen keine Rolle, denn sie sind keine Bestandteile von privaten Handels- und Investitionsverträgen. Eine Interessenabwägung findet deshalb nicht statt. Der Profit ist alles, ökologische und soziale Rechte werden diesem Ziel klar untergeordnet. Somit wird die Investition und damit der Profit zum obersten Wert der gesellschaftlichen Ordnung. Genau darin besteht der Rückschritt in das 19. Jahrhundert. Seit der Industriealisierung kämpften die Gewerkschaften auch Parteien gegen diese gesellschaftliche Dominanz des Kapitals.

Heute können wir wieder eine klare Verschiebung der Durchsetzungsmacht der Konzerne zu Lasten von Staaten und ihrer Bevölkerung sehen, diese Tendenz wird durch die kommenden Verträge und die Schiedsgerichtsbarkeit noch verstärkt.

Bei den Schiedsgerichtsverfahren handelt es sich um ein privatisiertes Rechtssystem, das vorbei an staatlichen Gerichten etabliert wurde, das auch noch inländische gegenüber ausländische Unternehmen diskriminiert. An diesem Problem ändern mehr Transparenz oder die Einführung einer zweiten Instanz nichts. Jede Reform ist von vornherein zum Scheitern verurteilet, da sie nicht den Kern der Schiedsgerichte angehen kann. Folglich bleibt nur deren Abschaffung und der Verweis auf die innerstaatliche Gerichtsbarkeit und – als letzte Instanz - die Etablierung eines internationalen, stehenden Investitionsgerichtshofes.

Die „Regulatorische Kooperation“

Auch wenn sie weniger beachtet wird, enthält das geplante Konstrukt der „regulatorischen Kooperation“ ein enormes antidemokratisches Potential. Der aktuelle Vorschlag zu TTIP legt fest, wie künftig neue Regulierungen und Standardsetzung im Rahmen der „regulatorischen Kooperation“ erlassen werden sollen. Betroffenen Konzernen soll  dabei ein exklusiver und vor allem institutionalisierter Zugang eingeräumt werden, um Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen zu können – eventuell noch vor oder gar ohne die Parlamente in den USA und Europa.

Während heute in der EU jegliche Regulierung parlamentarisch durch das Europaparlament und den Ministerrat – und damit indirekt durch die nationalen Parlamente – gesetzgeberisch begleitet wird, ist fraglich, ob dies mit TTIP so bleibt. Auch hier lässt sich also eine beabsichtigte Verschiebung von Macht und Einfluss weg von Bürgerinnen und Bürgern und den durch sie in die Parlamente entsandten Abgeordneten hin zu Konzernen beobachten. Das käme einem enormen Abbau von demokratischen Prinzipien gleich.

Öffentliche Versorgung – garantierte Nachfrage mit garantiertem Gewinn

Ganz nah an den Bürgerinnen und Bürgern dran und doch in der Wahrnehmung bislang völlig unterrepräsentiert sind auch die möglichen Auswirkungen von TTIP und CETA auf den Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge. Wasser und Abwasser, Müllabfuhr und Straßenreinigung, Krankenhaus und Kindergärten: Alle diese öffentlichen Dienstleistungen stehen mit den transatlantischen Abkommen, erst recht jedoch mit TiSA zur Disposition für die Privatisierung. Dabei ist nichts dagegen einzuwenden, dass einzelne dieser Arbeiten auch von privaten Dienstleistern übernommen werden. Die Abkommen wollen jedoch festschreiben, dass es kein Zurück von einem privaten Dienstleister zum öffentlichen geben soll. Eine Re-Kommunalisierung beispielsweise einer früher privat organisierten Wasserversorgung wäre ausgeschlossen.

Unbestritten ist, dass in diesem Bereich auch die Transparenz bei öffentlichen Betrieben verbessert werden muss. Allerdings muss auch für die Zukunft gelten, dass das demokratisch legitimierte Entscheidungsrecht der Parlamente und Räte, wer welche Dienstleistungen anbieten soll, nicht angetastet wird. Das Gemeinwohlinteresse von Bürgerinnen und Bürgern hat dabei absoluten Vorrang.

Angst machen gilt nicht – die unsägliche Standarddiskussion

Gabriels und Merkels Drohungen sind albern: Wenn wir nicht mit den USA Standards setzen, setzen die USA und China solche. Dabei geht es sicher nicht um rote Blinker oder einheitliche Steckdosen, die wir ja auch in Europa nicht haben. Kanzlerin und Vizekanzler versuchen den Menschen mit einer Geisterdiskussion Angst zu machen. Leider funktioniert dies auch ein wenig, da die Erklärung für die notwendige Standardsetzung von beiden nicht konkret beschrieben werden kann und somit etwas Mystifizierendes und Bedrohliches entsteht. 

Fakt ist, dass Europa eine enorme globale Nachfragemacht hat, mit einer ausgedehnten Industrie und über 500 Millionen. Konsumenten. Wenn dieser Markt sagt, wir möchten Maschinen mit dieser und jener Funktion und Eigenschaft, dann werden sich auch zukünftig weder amerikanische noch chinesische Produzente weigern, diese zu produzieren und zu liefern. Das gilt natürlich auch umgekehrt.

Unser System beruht auf Konkurrenz, die auf einer permanenten Weiterentwicklung der Standards basiert. Die Produkte sollten langlebiger und reparaturfreundlicher werden, ressourcenschonend hergestellt werden und immer weniger Energie verbrauchen. Darin besteht der Marktwettbewerb. Mit der Einführung eines effizienten Recyclingsystems kann auch ein Preiswettbewerb zukünftig an Dynamik gewinnen. Genau über diese und weitere Faktoren, wie Zuverlässigkeit, Qualität der Beratung, Einführung in neue Technologien, auch Schnelligkeit, Präzisionstechnik, Bedienungsfreundlichkeit etc. werden Standards definiert – nicht über gelbe oder rote Blinker.

Worin liegt die Verantwortung der Politikerinnen und Politiker?

Eine Grundfrage bleibt bestehen: Wieso gibt es Abgeordnete, die ihre Pflicht zur politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht wahrnehmen möchten? Es gibt darauf viele mögliche Antworten. Manche setzten sich überhaupt nicht damit auseinander und übernehmen, was die Parteihierarchie vorgibt. Viele sind auch immer noch von der positiven Wirkungen eines freien – und damit von Interessen und Macht dominierten – Marktes überzeugt. Sie glauben der Devise „Der Markt richtet das schon“ und haben ein treudoofes Verhältnis zur neoliberalen Wirtschaftsbotschaft.

Allerdings wurden die Abgeordneten gewählt und haben einen klaren, von den Wählerinnen und Wählern definierten, Auftrag übernommen. Wer heute als Abgeordnete oder Abgeordneter TTIP und Co unterzeichnet, gibt nicht nur Rechte ab und entledigt sich seiner Verpflichtung, gesellschaftliche Verantwortung zu tragen. Er macht es auch für zukünftige Abgeordnetengenerationen unmöglich, diese Pflichten und Rechte wahrzunehmen. Sind die Verträge erst unterzeichnet, sind sie de facto nicht mehr zurückzuholen. Das wäre eine eindeutige Überschreitung der Kompetenz eines Abgeordneten, der sich natürlich mit der gesamtgesellschaft-lichen Entwicklung auseinander setzen muss und nicht das Recht hat, sich dieser Aufgabe durch Verträge zu entledigen. Dabei kann es die Übertragung von Entscheidungs- und Entwicklungsauf-gaben auf Dritte im Einzelfall durchaus geben. Diese Entscheidung muss aber revidierbar sein. Es widerspricht demokratischen Prinzipien, wenn durch eine Vertragsunterzeichnung die Kompetenz zukünftiger Abgeordneter dauerhaft beschnitten wird. 

Zu guter Letzt

Bisher hatten wir den Eindruck, dass sich der Protest in Deutschland konzentriert und andere Länder sich gegenüber der Problematik eher neutral verhalten. Die letzten Wochen haben aber gezeigt, dass dies ein Trugbild war. In vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA ist der Widerstand erheblich geworden. Einige Länder, darunter das oftmals handelsskeptische Frankreich, aber auch die traditionelle Handelsnation Niederlande, haben via Parlamentsvotum ihre Bedenken gegen die Verträge deutlich gemacht. Und die selbst organisierte europäische Bürgerinitiative  gegen TTIP hat in nicht einmal drei Monaten in neun EU-Mitgliedsstaaten die erforderliche Zahl an Unterschriften gesammelt. Weder Gabriel noch Merkel können sich zukünftig darauf berufen, dass es Deutschland als einziges Land nicht gut anstehen würde, gegen die Verträge zu stimmen. Das Gegenteil ist richtig. Es stellt sich wieder einmal heraus, dass es gerade Deutschland ist, das auf europäischer Ebene die Speerspitze der Privatisierung  darstellt.