Eine notwendige Diskussion

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Pr. Dr. Eckhard Janeba

Der Bericht „Nachhaltig aus der Schuldenkrise – für eine finanzpolitische Zeitenwende“ tut gut in einer Zeit, in der wir uns allzu häufig in der Komplexität von Einzelproblemen zu verlieren drohen. Und er wirft die Frage auf, welche Art des Föderalismus wir für solide öffentliche Finanzen brauchen. Ein Kommentar.

Der vorliegende Bericht ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Wo sonst werden in einem Aufsatz zur Finanzpolitik auf wenigen Seiten Zahlen zur Vermögensbilanz des deutschen Staates, zur Schätzung des BIP-Potentials in Indien bis 2050 und zur Familienbindung der Deutschen zusammengeführt? Eben. Das sieht nicht nur nach großem Wurf aus, sondern ist es auch und das tut gut in einer Zeit, in der wir uns allzu häufig in der Komplexität von Einzelproblemen zu verlieren drohen. Dabei ist die Agenda für eine finanzpolitische Zeitenwende kein Versuch der Welterklärung und auch kein Rundumschlag an Allgemeinplätzen. Stattdessen präsentiert das sieben namhafte Personen umfassende  Autor/innenteam eine Vielzahl von konkreten und politisch relevanten Vorschlägen, um die öffentlichen Finanzen in Deutschland und Europa neu zu gestalten und dauerhaft tragfähig zu machen. Für diese Ansinnen und den 100 Seiten umfassenden Bericht gebührt den  Autor/innen Respekt und Anerkennung.

Für den Kommentator einer derartigen Studie ist es verlockend, den Tenor des Textes – für eine bedeutsamere aber auch klar umrissene Rolle des Staates – zu bewerten. Die Gefahr einer derartigen Herangehensweise wäre, in eine ideologische Diskussion abzurutschen. Das wäre angesichts der Vielzahl praktischer Vorschläge bedauerlich. Auf der anderen Seite ist eine Kommentierung jedes einzelnen Vorschlags zur Verbesserung der Lage der öffentlichen Finanzen in Deutschland nicht möglich und jeder Versuch würde sich in einem Klein-Klein verlieren. Dieser Kommentar versucht einen Mittelweg zu gehen: Ich diskutiere Vorschläge aus fünf Themenkreisen, deren Auswahl natürlich selektiv ist, aber wegen der Bedeutsamkeit der Themen gleichzeitig versucht, den Grundtenor der Studie einzufangen und zu bewerten.

1. Ergänzung der Schuldenbremse durch eine Investitionsschutzregel

Die Föderalismusreform hat eine neue Zeit in Deutschland eingeleitet: Die in 2009 eingeführte Schuldenbremse erlaubt Bund und Ländern nur in sehr begrenztem Umfang Defizite in ihren öffentlichen Haushalten. Dem Bund ist ein strukturelles Defizit von höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ab 2016 erlaubt, während die Länder ab 2020 einen strukturell ausgeglichenen Haushalt vorlegen müssen. Der Bund hält dieses Ziel bereits vor seiner Frist ein. Für einige Länder stellt das Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts in 2020 jedoch eine große Herausforderung dar und zwar schon heute, denn ein ausgeglichener Haushalt kann nicht von einem auf das nächste Jahr politisch realisiert werden (und es wäre ökonomisch auch nicht zweckmäßig).

Die  Autor/innen der finanzpolitischen Zeitenwende sehen ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Schuldenbremse und der heutigen Finanzpolitik, der Anlass zur Besorgnis gibt: Die Einhaltung der Schuldenbremse ist kein Selbstzweck, sondern muss neben der Begrenzung der öffentlichen Verschuldung gewährleisten, dass die Sparanstrengungen des Staates nicht auf Kosten der öffentlichen Investitionen gehen. Daher plädieren die Autor/innen für eine einfachgesetzliche Investitionsschutzklausel, bei der ein gewisser Prozentsatz der Ausgaben für Investitionen verwendet werden muss. Man kann es als eine Investitionsregel, im Gegensatz zu den üblichen Ausgaben- oder Defizitregeln, bezeichnen. Diese neue Regel soll nicht die Schuldenbremse ersetzen sondern ergänzen.

Der Vorschlag erinnert an die „goldene Regel“, nach der eine Schuldenfinanzierung öffentlicher Investitionen gesamtwirtschaftlich sinnvoll ist, da die Erträge der Investitionen auch zukünftigen Generationen zugutekommen und durch Bedienung der Schulden an der Finanzierung beteiligt werden. Der alte Art. 115 Grundgesetz zielte auf die goldene Regel. Im Normalfall sollte die Neuverschuldung nicht die Investitionen des Staates überschreiten. Ein gewisser Wehmut der  Autor/innen über den Wegfall der bis 2009 geltenden Verschuldungsregel des Art. 115 GG ist nicht zu überhören.

Warum ist die alte Regel aber gescheitert? Nicht nur am ökonomisch zweifelhaften Investitionsbegriff, sondern auch der politischen Ausnahmeregelung, die die goldene Regel de facto aushebelte. Die jetzt vorgeschlagene Festlegung einer Mindestinvestitionsquote hat ebenfalls einen politökonomischen Hintergrund: damit soll die Tendenz zur Finanzierung kurzfristiger Wahlgeschenke auf Kosten langfristig vorteilhafter Projekte begegnet werden.

Der Vorschlag ist verlockend, birgt aber auch Risiken und verlangt nach mehr empirischer Fundierung. Zunächst ist in ihm eine andere Qualität der Intervention festzustellen. Zwar wird die Autonomie der Parlamente wie im Falle anderer Fiskalregeln eingeschränkt. Qualitativ besteht allerdings ein Unterschied zwischen einer Defizitgrenze, die keine Beschränkung der Höhe der Ausgaben und Einnahmen oder deren jeweiliger Zusammensetzung auferlegt, und einer Mindestinvestitionsquote, die letzteres genau macht. Wir sollten vermeiden, den Parlamenten zu viele Restriktionen aufzuerlegen, zumal die Investitionsregel eine zusätzliche und nicht eine alternative Regel wäre.

Dem Vorschlag würde außerdem mehr empirische Evidenz gut tun. Führt eine Schuldenbremse ohne Investitionsschutzregel tatsächlich dauerhaft zu öffentlichen Unterinvestitionen? Anekdotische Evidenz ist auf den ersten Blick nicht eindeutig. Staaten mit bereits längerfristig vorhandenen schuldenbremsenähnlichen Fiskalregeln sind die USA (auf einzelstaatlicher Ebene) und die Schweiz. Während die öffentliche Infrastruktur in den USA nicht mustergültig ist, so kann das von der Schweiz nicht gesagt werden. Woran liegt dieser unterschiedliche Befund? möchte man den  Autor/innen der finanzpolitischen Zeitenwende hier zurufen.

In Deutschland ist darüber hinaus nicht ganz klar, ob das Hauptproblem bei den Ländern selbst zu suchen ist. Ein Großteil der öffentlichen Sachinvestitionen unterhalb des Bundes wird von den Gemeinden, nicht den Ländern getätigt. Die Gemeinden unterliegen ihren eigenen Verschuldungsregeln und zwar nicht erst seit 2009. Viele Länder weisen bereits Haushaltsdefizite vor Berücksichtigung der Sachinvestitionen auf. Bei schwach positiven Finanzierungssalden sind diese Salden allerdings im Umfang geringer als das Ausmaß der Abschreibungen auf öffentliche Investitionen. Das Grundproblem der mangelnden Finanzierung öffentlicher Investitionen besteht offensichtlich länger als seit der Einführung der Schuldenbremse und steht in einem komplexeren Zusammenhang mit dem Haushaltssaldo.

2. Die Glaubwürdigkeit der deutschen Schuldenbremse

Die oben angesprochene und von den  Autor/innen der finanzpolitischen Zeitenwende vorgeschlagene Investitionsschutzregel geht davon aus, dass die Schuldenbremse tatsächlich durchgesetzt und damit bindend wird. Aber ist das so klar? Während der Bund aus der aktuell guten fiskalischen Situation seine Defizitvorgabe bereits heute einhält, gibt es bei den Ländern wegen der längeren Frist und der sehr unterschiedlichen Finanzsituation durchaus Zweifel. Zwar ist die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert und kann damit nicht durch einfachgesetzliche Beschlüsse revidiert werden. Aber aus ökonomischer Sicht ist nicht offensichtlich, wie hart oder soft die Schuldenbremse tatsächlich ist. Erfahrungen auf internationaler Ebene, gerade mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa, lassen eine gewisse Skepsis bei der Glaubwürdigkeit berechtigt erscheinen.Zu unterschiedlich und zum Teil gravierend sind die Herausforderungen der Länder. Simulationsrechnungen von verschiedenen Institutionen (z.B. Sachverständigenrat, Unabhängiger Beirat des Stabilitätsrats) belegen dies. So kommt zum Beispiel der Unabhängige Beirat des Stabilitätsrats in seiner jüngsten Stellungnahme vom Dezember 2014 zu dem Urteil, dass die Länder Saarland, Bremen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in realen Größen zum Teil erhebliche Ausgabeneinsparungen bis 2020 umsetzen müssen, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen.

Eine skeptische Sichtweise wird auch von den  Autor/innen einer aktuellen Studie (Heinemann et al.) gestützt, die in 2011 und 2012 alle Landtagsabgeordnete in Deutschland zur Einhaltung der Schuldenbremse befragt haben. Von den 639 Antworten aus allen Ländern ergibt sich folgendes Bild: Während über Parteigrenzen hinweg die Einhaltung der Schuldenbremse auf Länderebene als erstrebenswert angesehen wird, gibt es erhebliche Zweifel bei der Einschätzung, wie wahrscheinlich dies auch passieren wird. Die Umfrage bezog sich nicht nur auf die Einhaltung der Schuldenbremse im eigenen Land der Abgeordneten, sondern auf alle Bundesländer. Dabei ergibt sich, dass in den Augen von 639 Landtagsabgeordneten nur vier Länder (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen) mehrheitlich die Einhaltung mit hoher Wahrscheinlichkeit zugetraut wird. Nun ist dies nur eine Momentaufnahme und die Stimmung mag sich seit dem, nicht zuletzt wegen der insgesamt verbesserten Haushaltslage aufgehellt haben. Gleichwohl bleibt eine gewisse Skepsis angebracht.

Die  Autor/innen der finanzpolitischen Zeitenwende gehen in ihren Vorschlägen über die Einhaltung der Schuldenbremse hinaus und plädieren für einen langfristig strukturellen Überschuss in den öffentlichen Haushalten in Deutschland, um die aus den demographischen Entwicklungen resultierenden Herausforderungen zu bewältigen. Die massive Alterung der deutschen Gesellschaft rechtfertigt eine derartige Sichtweise unter ökonomischen Gesichtspunkten. Allerdings sind regelmäßige Überschüsse nicht einfach umzusetzen. Politökonomisch betrachtet sind Fiskalregeln zur Verhinderung von Defiziten nicht äquivalent zu Regeln zur Erzeugung von Mindestüberschüssen. Der Druck auf die Politik, vorhandene Überschüsse kurzfristig auszugeben ist immens. Insofern müsste ein derartiger Vorschlag gepaart werden mit einem Mechanismus, der akkumulierte Überschüsse in den öffentlichen Haushalten vor dem Zugriff der Politik schützt und für eine zukünftige Finanzierung von Alterslasten vorhält.

3. Die Rolle der Einkommensteuer

Die  Autor/innen der finanzpolitischen Zeitenwende befürworten einen moderaten Anstieg der Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer, um die Besserverdienenden stärker an den Finanzierungsaufgaben des Staates zu beteiligen. Nun ist dieser Vorschlag nur einer von vielen, der auch im Text nicht besonders herausgehoben ist. Gleichwohl kann er als Markenzeichen für den Gesamtentwurf angesehen werden, da er den vielleicht wichtigsten Kern der Steuerpolitik betrifft. Die Bedeutung einer Forderung nach höheren Spitzensteuersätzen ist im letzten Bundestagswahlkampf der Grünen veranschaulicht worden. Die relativ bescheidene Wählerstimmenausbeute wird von manchen auf die Regulierungs- und Steuererhöhungsabsichten der Grünen zurückgeführt.
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer Erhöhung der Spitzeneinkommensteuersätze mutig.

Gleichzeitig ist eine Debatte dazu notwendig, nicht zuletzt wegen des großen Interesses an Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen wie sie jüngst in der Diskussion um das Buch von Thomas Piketty „Kapital im 21. Jahrhundert“ zum Ausdruck gekommen ist. Allerdings sollte sich die Debatte nicht allein um Gerechtigkeitsaspekte drehen, sondern präziser den Zielkonflikt zwischen Gerechtigkeit und Effizienz ausloten. Mit Effizienz wird hier auf die steuerlich verursachte Verzerrung der Arbeitsentscheidung sowie die Bereitschaft, in den Arbeitsmarkt einzutreten, abgestellt. Hier kann die finanzwissenschaftliche Literatur zur optimalen Besteuerung sowie die jüngere empirische Forschung zur Wirkung von Besteuerung auf Arbeits- und Mobilitätsentscheidungen von Menschen hilfreiche Hinweise liefern.

Finanzwissenschaftliche Ansätze zur Steuertheorie machen deutlich, wie ein optimaler Steuertarif bei einer unterstellten Zielfunktion des staatlichen Entscheidungsträgers aussehen soll. Die Zielfunktion beinhaltet das Werturteil über die Gewichtung unterschiedlicher Personengruppen (z.B. nach Einkommen, oder präziser nach Arbeitsproduktivität). Ökonomen können nicht für die Gesellschaft die „richtige“ Zielfunktion vorgeben, aber sie können für jede mögliche Vorgabe einen optimalen Steuertarif berechnen, bei dem der Zielkonflikt zwischen Umverteilung zugunsten der favorisierten Gruppe gegen die Effizienzverluste der Besteuerung ausbalanciert wird.

Die Forschung zu diesem Thema hat in einem derartigen Modellrahmen die zunehmende Möglichkeit zur Auswanderung von Topverdienern untersucht. Diese führen zu einer Verringerung der optimalen Spitzensteuersätze unabhängig von der unterstellten Zielfunktion des Staates (die Zielfunktion spielt eine Rolle bei der Höhe der Spitzensteuersätze, in der Regel aber nicht bei der Richtung in der sich der Spitzensteuersatz als Konsequenz höherer Mobilität verändert). Dies wird in einer Arbeit von Simula und Trannoy 2010 sehr anschaulich. In einer Simulation für Frankreich zeigen sie, dass im Vergleich zu dem jetzigen Steuersystem in Frankreich deutlich niedrigere Steuersätze für mittlere und hohe Einkommen optimal sind, selbst wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung abwandern kann. Das gilt selbst dann, wenn der Staat auf die untersten Einkommensgruppen in seiner Zielfunktion fokussiert. Die Effizienzverluste und der drohende Verlust an Steueraufkommen durch Abwanderung sind also massiv.

Zugegeben, hier läuft harte ökonomische Logik gegen die gefühlte Gerechtigkeitsperspektive vieler Menschen. Gleichwohl ist es wichtig, eine fundierte Debatte über diesen Zielkonflikt zu führen und die Mobilität von Spitzenverdienern ernst zu nehmen. Aus dem obigen Resultat folgt übrigens nicht, dass eine verstärkte Besteuerung von hohen Einkommen nicht grundsätzlich möglich sein kann. Aber es verlagert die Debatte auf die Frage nach der besten Form der Besteuerung. Zum Beispiel ist die Erbschaftsteuer eine Möglichkeit, die intergenerative Verstetigung von Vermögensreichtum bzw. –armut aufzubrechen, ohne dass in gleichem Umfang wie bei der Einkommensteuer Effizienzverluste durch Abwanderung eine Rolle spielen.

Diese theoriegeleiteten Ansichten werden von empirischen Studien auf der Basis von Mikrodaten ergänzt. Wie mobil sind Spitzenverdiener? Aktuelle Studien zeigen, dass ausländische Spitzenverdiener in Dänemark sehr stark auf Besteuerung reagieren und ins Ausland abwandern. Die Schätzwerte für die Mobilität legen Spitzensteuersätze von unter 40 Prozent nahe, selbst wenn man das Aufkommen aus der Steuer auf Spitzenverdiener maximieren wollte (also die Spitzenverdiener keinen Faktor in der Zielfunktion des Staates spielen und ausschließlich über ihren Beitrag zum Steueraufkommen in die Rechnung einfließen).

Sehr hohe Steuersätze für Topverdiener sind also aus einzelstaatlicher Perspektive nicht sinnvoll. Nur wenn in vielen Ländern gleichzeitig hohe Sätze gesetzt würden, kann die steuerlich bedingte Abwanderung eingegrenzt werden. Da zumindest in der EU eine Harmonisierung der Einkommensteuer am Veto diverser Mitgliedsstaaten scheitern dürfte, gibt die hier betrachtete wissenschaftliche Literatur zur optimalen Besteuerung wenig Material für Spitzensätze in der Nähe von 50 Prozent her.

4. Eine Gewährleistung des Europäischen Fiskalpakts durch automatische Steuerhöhungen

Neben der Glaubwürdigkeit der deutschen Schuldenbremse ist auch die Glaubwürdigkeit europäischer Fiskalregeln kritisch zu hinterfragen, nicht zuletzt seit den verschiedenen Rettungsmaßnahmen für stark verschuldete Staaten in Europa in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Europäische Fiskalpakt definiert in Verbindung mit den Two Pack - Verordnungen eine Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatliche Defizit in Höhe von 0,5 Prozent des BIP. Diese Regel muss in den nationalen Haushaltsregeln oder besser noch in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert werden. Eine mangelnde Umsetzung kann bestraft werden. Allerdings gewährleistet die nationale Implementierung der Regel nicht, dass sie auch entsprechend angewendet wird. Finanzielle Strafen bei mangelnder Anwendung sind denkbar, können aber bei entsprechender umfangreicher Ausgestaltung prozyklisch und damit krisenverschärfend wirken. Nun mag dies gerade ein Argument für deren abschreckende Wirkung sein, so dass es gar nicht zu einer Verletzung von europäischen Fiskalregeln und einer mangelnden Anwendung kommt. Ich vermute aber, dass finanzielle Strafen wenig glaubhaft sind, da sie in einer Krisensituation politisch schwer zu vermitteln sind.

Die  Autor/innen der Studie zur finanzpolitischen Zeitenwende machen daher einen anderen Vorschlag, der die obige Problematik zum Teil vermeidet: Bei drohender Überschreitung der Defizitgrenze werden automatische Steuererhöhungen ausgelöst (sogenannte „blue tax“). Insbesondere die Umsatzsteuer wird hier von den  Autor/innen favorisiert. Natürlich dürfte auch diese Maßnahme tendenziell prozyklisch wirken, wenn sie zur Anwendung käme. Allerdings dürfte ihre Glaubwürdigkeit höher sein, weil die „Strafzahlung“ nicht an eine externe Institution (EU) geht, sondern dem Budget des Landes direkt zugutekommt. Das dürfte die politische Realisierbarkeit erhöhen und die Transparenz über die Kosten eines Defizits beim Bürger deutlich machen. Dieses Element des Vorschlags ist zu begrüßen, da in vielen Ländern die Haushaltspolitik zu weit vom Bürger stattfindet.

Gleichwohl bleiben Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Vorschlags, die näher ausgelotet werden müssten. Die eine betrifft die zeitliche Ausgestaltung. Droht zum Beispiel am Ende des Vorjahres des betrachteten Haushaltsjahrs ein Defizit, müsste ein Gesetz mit entsprechender Vorlaufzeit umgesetzt werden. Kann dies nicht gleich zu Beginn des Haushaltsjahrs erfolgen, muss die Steuersatzerhöhung im späteren Verlauf des Jahres umso größer ausfallen. Dies dürfte gerade bei der Mehrwertsteuer größere Vorverlagerungen von Käufen, gerade bei langlebigen Konsumgütern wie Autos, auslösen, welches den gewünschten Aufkommenseffekt reduziert.

Ein zweites Problem tritt dadurch auf, dass kompensierende Steuer- oder Abgabensenkungen nicht erlaubt sein dürften, damit die „Strafe“ in Form einer automatischen Steuererhöhung tatsächlich mehr Geld in die Kasse spült. Dies dürfte in der Praxis nicht einfach sein, da es unklar sein kann, ob eine Maßnahme nur vor dem Hintergrund der automatischen Steuererhöhung oder aus anderen Überlegungen heraus ergriffen wurde. Die politische und rechtliche Problematik einer für die deutschen Autofahrer neutralen Einführung einer PKW-Maut (bei gleichzeitiger Absenkung der Kfz- Steuer) macht die Schwierigkeit einer Einführung bzw. Vermeidung kompensierender Steuermaßnahmen deutlich. Im Fall einer automatischen Erhöhung der Umsatzsteuer, könnte z.B. ein erhöhter Freibetrag bei der Einkommensteuer in etwa kompensierend wirken.

5. Welche Art des Föderalismus wollen und brauchen wir für solide öffentliche Finanzen?

Die vier zuvor angesprochenen Themenkreise weisen letztlich auf eine grundsätzlichere Frage: Wie soll unser föderales System ausgestaltet sein, damit die öffentlichen Finanzen langfristig tragfähig bleiben, gleichzeitig ein angemessenes Maß an öffentlichen Dienstleistungen und Infrastruktur zur Verfügung gestellt, und das fiskalische System von einer großen Mehrheit als gerecht empfunden wird? Zwischen diesen Zielen gibt es Spannungen, die aber nicht grundsätzlich unüberwindbar sind. Aus gutem Grund ist Deutschland ein föderales Land, das den subnationalen Gebietskörperschaften eine zentrale Rolle bei der staatlichen Versorgung zuweist. Deutschland ist mit diesem Ansatz in der Vergangenheit gut gefahren. Allerdings ist das deutsche föderale System insofern ungewöhnlich, da es den Ländern sehr wenig Steuerautonomie zubilligt. Die Länder reden zwar über den Bundesrat bei der Setzung der Gemeinschaftssteuern mit. Echte Steuerautonomie sieht aber anders aus, die Beispiele Schweiz und USA machen es vor.

Das gegenwärtige System hat damit eine strukturelle Schwäche, denn die Länder werden sich aufgrund der Solidargemeinschaft durch Bund und Länder, die das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung betont hat, in Notlagen an die Gemeinschaft und hier insbesondere den Bund zur Rettung wenden. Im Prinzip könnten finanzielle Notlagen allein durch Ausgabenkürzungen behoben werden. Das erscheint aber weder ökonomisch sinnvoll noch auf Dauer politisch klug. Gleichzeitig hat der Verbund von Bund und Ländern, hier insbesondere in der Funktion des Stabilitätsrats, keine starken Drohpunkte und Durchsetzungsrechte, um solide öffentliche Finanzen in allen Gebietskörperschaften zu erzwingen.

Verschiedene Lösungen für dieses Problem sind denkbar. Die Idee des in der vorliegenden Studie erwähnten Sanduhr-Föderalismus sieht gleichzeitig eine Stärkung der zentralen (Bundesebene) und der untersten Ebene des Staates, also den Gemeinden vor, die auf Kosten der Länder ginge. Länder wären nur noch Träger staatlicher Regionalverwaltungen. Die  Autor/innen der finanzpolitischen Zeitenwende äußern hier keine ganz dezidierte Meinung, sehen aber die Gefahr einer schleichenden Entwicklung hin zu einem System, in dem die mittlere staatliche Ebene massiv und unkoordiniert an Bedeutung verliert. Statt eines schleichenden Prozesses wünschen sich die  Autor/innen der Studie aber eine aktive, von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragene Entscheidung in diese Richtung.

Das ist prozedural gesehen richtig gedacht. Inhaltlich bleiben allerdings Zweifel an dem Sinn einer Zurückdrängung der Länder. Wir leben in einem Europa der Regionen. Regionen sind größer als Gemeinden, die als Funktionseinheit zu klein sind, um größere Aufgaben selbst stemmen zu können. Viele staatliche Tätigkeiten und Aufgaben haben starke räumliche „Spillover“-Effekte und bedürfen einer starken, auch Prioritäten setzenden Hand. Gleichzeitig müssen unterschiedliche Vorstellungen der Bürger über den Kern guter Politik in den Regionen und nicht erst auf nationaler Ebene zum Ausdruck kommen können. Das spricht für die Existenz starker Bundesländer.
Wenn also weder der Status quo noch der Sanduhr-Föderalismus befriedigend sind, wie könnte dann eine bessere Variante des Föderalismus aussehen? Die Lösung könnte in einer Stärkung der Länder liegen, mit mehr Autonomie bei der Besteuerung und mehr Eigenverantwortlichkeit.

Letzteres würde bedeuten, dass die Haftungsgemeinschaft von Bund und Ländern nicht mehr in der gegenwärtigen Form garantiert werden dürfte, welches einer Verfassungsänderung bedürfte. Außerdem muss bedacht werden, dass durch Steuerautonomie auf Länderebene, z.B. durch ein Zuschlagsrecht bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer, ein horizontaler Wettbewerb um Unternehmen und mobile Leistungsträger entsteht und dieser selbst zu Verwerfungen führen wird. Zu klären wäre hierbei, inwiefern der Wettbewerb zwischen kleinen, hochverschuldeten Stadt- oder Flächenstaaten (wie Bremen und das Saarland) und bevölkerungsreichen und wirtschaftlich boomenden Staaten wie Bayern zu einem angemessenen Ergebnis führen kann.

Es ist das Verdienst der Autor/innen zur finanzpolitischen Zeitenwende, diese notwendige Diskussion mit interessanten und zum Teil provokanten Vorschlägen anzutreiben. Den Ball sollten wir aufnehmen.

 

Literaturquellen

Ingolf Deubel, Schuldenbremse und Finanzausgleich – Wie stark muss der Finanzausgleich im Jahr 2020 ausgleichen, damit (fast) alle Länder die Schuldenbremse einhalten können? Ifo Dresden Bericht 6/2013, S. 20-34

F. Heinemann, E. Janeba, M.-D. Moessinger, C. Schröder, F. Streif: "Föderalismus-Präferenzen in den deutschen Landesparlamenten," Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15, 2014, S. 56-74

Henrik Jacobsen Kleven, Camille Landais und Emmanuel Saez,"Taxation and International Migration of Superstars: Evidence from the European Football Market," American Economic Review, vol. 103(5), S. 1892-1924

Henrik Jacobsen Kleven, Camille Landais, Emmanuel Saez, Esben Schultz, "Migration and Wage Effects of Taxing Top Earners: Evidence from the Foreigners' Tax Scheme in Denmark," The Quarterly Journal of Economics vol. 129(1), S. 333-378

PWC, PwC Länderfinanzbenchmarking 2014

Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2013/14, November 2013

Simula, L., A. Trannoy, Optimal income tax under the threat of migration by top-income earners, Journal of Public Economics 94, 2010, 163-173

Unabhängiger Beirat des Stabilitätsrats, 2. Stellungnahme zur Einhaltung der Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit, 8. Dezember 2014